Gestalttherapie in der Psychiatrie
Von Gianni Francesetti und Alessio Zambon
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Über dieses E-Book
In seinem Beitrag »Ungesichert in den Seilen hängend halten wir uns an Fixierungen: Zwangsstörungen gestalt-phänomenologisch untersuchen« skizziert Gianni Francesetti einen Rahmen der Theorie, in welchem Zwangsstörungen verstanden werden können, und macht damit möglich, sie aus der Perspektive der Leidenden heraus zu verstehen und nicht nur von außen zu diagnostizieren. So vermögen Therapeuten zu Verbündeten der Leidenden zu werden, ohne ihre Perspektive übernehmen zu müssen.
An dieser Stelle helfen die ebenso einfachen wie wirksamen Übungen, die Alessio Zambon in seinem Beitrag »Gestalttherapie in der Psychiatrie: Empathie bei schwerem psychischen Leid entwickeln, zwischen Regression und Erdung« vorschlägt, um die Empathie, Vorbedingung für alles Verstehen, mit psychisch schwer Kranken zu entwickeln. Diese Übungen sind erste Vorschläge, und Alessio Zambon hofft, dass sie den Anstoß geben, weitere und neue Übungen hervorzubringen. Zudem gewährt er in einem Beitrag über das Projekt An-Arché im Rahmen der Reform der italienischen Psychiatrie und anti-psychiatrischen Bewegung aus eigener Erfahrung Einblick in die Herausforderungen, die aus einem respektvolleren Umgang mit psychisch schwer kranken Menschen resultieren.
Der Beitrag »Kontakt - Der Weg zur Heilung: Gestalttherapeutische Langzeit-Begleitung« der Herausgeberin des Bandes Gabriele Blankertz betrifft die Frage, wie Kontakt mit Menschen herzustellen ist, deren Handeln jenseits dessen liegen, was wir in unserem normalen Alltag nachvollziehen können. Aller psychotherapeutischen Wirksamkeit hinterliegt Kontakt, ob das in der jeweilig angewendeten Methode nun reflektiert wird oder nicht. Der immense Vorteil, den ich in der Gestalttherapie sehe, ist, dass sie genau das leistet, nämlich in der Ausbildung und in der täglichen Praxis die Qualität des Kontakt auch zu reflektieren.
Gianni Francesetti
Gianni Francesetti, Psychiater, Gestalttherapeut, Professor für den phänomenologischen und existenziellen Ansatz an der Universität Turin, internationaler Trainer und Supervisor.
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Buchvorschau
Gestalttherapie in der Psychiatrie - Gianni Francesetti
GABRIELE BLANKERTZ | Gestalttherapeutin DVG | Gestalt-Praxis in Berlin | Gründung des Berliner Gestaltsalons und Aufbau des InKontakt Gestaltinstituts Berlin.
GIANNI FRANCESETTI | Psychiater | Gestalttherapeut | Professor für den phänomenologischen und existenziellen Ansatz, Universität Turin | internationaler Trainer und Supervisor.
ALESSIO ZAMBON | Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie | Gestalttherapeut | Ausbildner am InKontakt Gestaltinstitut Berlin.
INHALT
Gabriele Blankertz
Zum Geleit
Gianni Francesetti
Ungesichert in den Seilen hängend halten wir uns an Fixierungen
Zwangsstörungen gestalt-phänomenologisch untersuchen
Literaturverzeichnis
Alessio Zambon
An-Arché
Eine systemische Anwendung der Gestalttherapie in der Psychiatrie
Alessio Zambon
Gestalttherapie in der Psychiatrie
Empathie bei schwerem psychischen Leid entwickeln, zwischen Regression und Erdung
Gabriele Blankertz
Kontakt: Der Weg zur Heilung
Gestalttherapeutische Langzeit-Begleitung
Personenindex
Sachindex
Gabriele Blankertz
ZUM GELEIT
Die hartnäckige Weigerung, Gestalttherapie in Deutschland als psychotherapeutisches Verfahren offiziell anzuerkennen und nicht nur zähneknirschend zu dulden, führt zu dem hartnäckigen Vorurteil, sie sei für schwere psychische Leiden auch nicht geeignet: So lautet ja auch die bürokratische Regel, dass nämlich alles, was in den medizinischen, also ernsthaften Bereich fällt, Gestalttherapeuten vorenthalten bleibt (es sei denn, sie verfügen über eine andere Art der Berechtigung).
Gianni Francesetti und Alessio Zambon sind Italiener und von solchen Bedenken nicht angekränkelt. Gestalttherapie mit ihrem Ansatz, psychisches Leid, auch in schwerster Form, aus dem Feld heraus zu verstehen, das die Person inklusive ihrer Biografie und ihrer Gegenwart mit ihrer Umgebung bildet, ist prädestiniert dafür, bei den Therapeuten die Fähigkeit herauszubilden, sich in die Leidenden hineinversetzen zu können. Die Empathie ist Voraussetzung, um Kontakt aufzunehmen. Und nur in einem unterstützenden Kontakt liegt die Möglichkeit einer Heilung oder wenigsten Linderung des Leids.
In seinem Beitrag skizziert Gianni Francesetti einen Rahmen der Theorie, in welchem Zwangsstörungen verstanden werden können, und macht damit möglich, sie aus der Perspektive der Leidenden heraus zu verstehen und nicht nur von außen zu diagnostizieren. So vermögen Therapeuten zu Verbündeten der Leidenden zu werden, ohne ihre Perspektive übernehmen zu müssen. An dieser Stelle helfen die ebenso einfachen wie wirksamen Übungen, die Alessio Zambon vorschlägt, um die Empathie, Vorbedingung für alles Verstehen, mit psychisch schwer Kranken zu entwickeln. Diese Übungen sind erste Vorschläge, und Alessio Zambon hofft, dass sie den Anstoß geben, weitere und neue Übungen hervorzubringen. Zudem gewährt er in einem Beitrag über das Projekt An-Arché im Rahmen der Reform der italienischen Psychiatrie und antipsychiatrischen Bewegung aus eigener Erfahrung Einblick in die Herausforderungen, die aus einem respektvolleren Umgang mit psychisch schwer kranken Menschen resultieren.
Meine eigenen Überlegungen betreffen die Frage, wie Kontakt mit Menschen herzustellen ist, deren Handeln jenseits dessen liegt, was wir in unserem »normalen« Alltag nachvollziehen können. Aller psychotherapeutischen Wirksamkeit hinterliegt Kontakt, ob das in der jeweilig angewendeten Methode nun reflektiert wird oder nicht. Der immense Vorteil, den ich in der Gestalttherapie sehe, ist, dass sie genau das leistet, nämlich in der Ausbildung und in der täglichen Praxis die Qualität des Kontakts auch zu reflektieren.
Ich freue mich, dass wir diese Denkanstöße in der Schriftenreihe des Berliner Gestaltsalons veröffentlichen können und bedanke mich bei Gianni und Alessio sehr herzlich dafür, dass sie ihre Beiträge zur Verfügung gestellt haben.
Gianni Francesetti
UNGESICHERT IN DEN SEILEN HÄNGEND
HALTEN WIR UNS AN FIXIERUNGEN⁰¹
Zwangsstörungen
gestalt-phänomenologisch untersuchen
In folgendem Essay⁰² schlage ich vor, die Erfahrungen derer zu untersuchen, die an einer Zwangsstörung [obsessive-compulsive disorder, OCD] leiden, mit dem Ziel, Therapeuten bei ihrem praktischen Vorgehen zu unterstützen. Meine Untersuchung basiert auf konkreter klinischer Realität und auf vorhandener Literatur und nimmt insbesondere konzeptionellen Bezug auf phänomenologische Methoden,⁰³ auf die phänomenologische Psychiatrie,⁰⁴ sodann auf empirische Methoden der Gestaltpsychologie⁰⁵ und die Theorie und Praxis der Gestalttherapie.⁰⁶ Mit diesem Ansatzhoffe ich, ein strukturelles⁰⁷ und relationales Verständnis dieses Leidens entwickeln und einen Rahmen schaffen zu können, der den verschiedenartigen Erfahrungen, die die Patienten machen und über die sie berichten, Bedeutung verleiht. Zur Untermauerung der therapeutischen Arbeit mit solchen Menschen, die unter Zwangsgedanken [obsessions] und Zwangshandlungen [compulsions] leiden, ziehe ich darüber hinaus die Feldperspektive heran; sie bietet ein Beispiel für die gestalttherapeutische Analyse in der Psychopathologie und dafür, wie die phänomenologische Psychiatrie diesen Weg auf frühere Arbeiten aufbauend unterstützen kann.⁰⁸ Es finden sich in der Literatur nur wenige Schriften zu einem gestalttherapeutischen Ansatz bei Zwängen.⁰⁹ Der systematischste ist der von Giovanni Salonia (2013), der den Ausgangspunkt meiner Untersuchung bildet; dann aber schlage ich ein etwas anderes Verständnis davon vor, wie Zwangsgedanken und wie Zwangshandlungen entstehen.
I. Vorbemerkungen
zur »extrinsischen« Diagnose
¹⁰
Eine »extrinsische« Diagnose basiert auf dem Prozess des Abgleichens dessen, was der Experte verzeichnet, mit den nosographischen (bewertungsfreien) Kategorien in einem System von Formulierungen der Symptome. Die Diagnosekriterien für Zwänge laut DSM 5 (APA, 2013) sind:
A) Zwangsgedanken [obsessions], -handlungen [compulsions] oder beides sind vorhanden;
B) diese sind zeitintensiv oder sie verursachen Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen;
C) sie sind nicht die Folge der physiologischen Wirkung einer Substanz oder eines medizinischen Krankheitsfaktors.
D) Das Störungsbild lässt sich nicht besser mit dem Vorliegen einer anderen psychischen Störung erklären.
Die ICD-Klassifikation unterscheidet sich nicht wesentlich.¹¹ 12 Die Zwangsstörung ist eine häufige und schwerwiegende Störung, die ihren Betroffenen und den ihnen nahestehenden Personen das Leben sehr schwer machen kann: Etwa 2-3 % der erwachsenen Bevölkerung leiden an dieser Störung,¹² wobei die Zahl der Betroffenen weltweit auf über 100 Millionen Menschen geschätzt wird. Sie ist durch zwei Hauptsymptome gekennzeichnet: Zwangsgedanken und Zwangshandlungen.
Zwangsgedanken sind unerwünschte und aufdringliche Gedanken, Bilder, Impulse oder Ideen, die als bedrohlich, abstoßend, sinnlos, obszön oder blasphemisch erlebt werden. Die Themen können variieren und betreffen typischerweise Schmutz, verantwortlich zu sein für Anderen zugefügte Schäden, Sex, Religion, Gewalt sowie Störung von Ordnung oder Symmetrie. – Drei Merkmale unterscheiden Zwangsgedanken von anderen wiederkehrenden Gedanken:
1. Sie sind unerwünscht und
2. unvereinbar mit dem Wertesystem des Betroffenen.
3. Sie rufen bei dem Betroffenen Widerstand hervor, wenn er versucht, sie zu beseitigen oder die Folgen zu bewältigen.
Zwangshandlungen sind zielgerichtete und absichtliche Verhaltensweisen, die der Betroffene als Reaktion auf die Zwangsgedanken vornimmt, um die Angst, die sie hervorrufen, und ihre katastrophalen Folgen zu begrenzen. Zwanghafte Rituale drehen sich typischerweise um Reinigung, Kontrolle, Wiederholung und Denkakte.
Symptome von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen können auf unterschiedlichen funktionellen Ebenen von Erkrankung auftreten, einschließlich der neurotischen und der psychotischen Ebene sowie der Borderline-Erkrankung. Alle aktuellen Diagnosesysteme unterscheiden Zwänge von einem psychotischen Erleben, aber obwohl es einen Unterschied gibt, sind beide nicht weit voneinander entfernt. Einigen Autoren zufolge¹³ und in dem Modell, das ich hier vorstelle, können Zwänge trotz des Unterschieds als der Psychose nahestehend betrachtet werden; in einigen Fällen bilden sie das Bollwerk, das den Betroffenen gegen ein Abgleiten in psychotisches Erleben sichert. Wir können also sagen, dass Zwänge zwar im Allgemeinen auf einer neurotischen Ebene der Organisation der Persönlichkeit entstehen, aber wenn die zwanghafte Anpassung nicht ausreicht, um die Angst einzudämmen, können die zwanghaften Symptome in ein psychotisches Erleben umschlagen. Die Diagnose einer Zwangsstörung sollte auch von der einer sogenannten »zwanghaften Persönlichkeitsstörung« differenziert werden, die sich von der Zwangsstörung dadurch unterscheidet, dass sie ich-synton ist, d.h. der Betroffene fühlt sich nicht durch sein perfektionistisches, starres, stures oder ordnungssuchendes Verhalten gestört und sucht deshalb auch keine Hilfe. Die Zwangsstörung kann, muss aber nicht mit dem zwanghaften Stil der Persönlichkeit einhergehen.
II. Eine phänomenologische Analyse:
Die Erfahrung des Leids
Andrea hat Angst, dass er seine zweijährige Tochter umbringen oder dass jemand ihr etwas Schreckliches antun könne. Er wird von sich aufdrängenden Bildern gequält, wie sie körperlich und sexuell missbraucht wird. Er versteckt alle Messer und alle scharfen Gegenstände im Haus. Er zählt die Sekunden, die er braucht, um in die Garage zu kommen und das Auto zu starten, nachdem er die Haustür verriegelt hat – und wenn es nicht die richtige Zahl ist, wiederholt er die Aktion, bis die Zeit stimmt. Wenn dann die vorbei ziehenden Nummernschilder sich nicht mit Hilfe einer komplizierten Formel zu einer Zahl innerhalb eines bestimmten Bereichs addieren lassen, nimmt er eine Reihe von mühsamen mathematischen Operationen vor, um die nun möglichen tragischen Folgen für seine Tochter wieder abzuwenden.
Anna lebt in einer kontaminierten Welt, und um sich vor ihr zu schützen, muss sie ihre Wohnung ständig dekontaminieren. Das bedeutet, dass alles, was in sie gelangt, nach bestimmten Prozeduren gewaschen und für eine bestimmte Zeit in »Quarantäne« gehalten werden muss – auch sie selber. Ihre Haut ist zu einer hauchdünnen Hülle geworden, die immer stärker mit Schadstoffen belastet ist. Sie lebt in ständiger Angst und Verzweiflung.
Cristina kann nicht mehr Auto fahren, weil der Gedanke, jemanden zu überfahren, sie zwingt, ständig anzuhalten und zurückzufahren, um zu überprüfen, dass sie keinen verletzt habe. Selbst ihre Arbeit als Verkäuferin ist unerträglich geworden, denn immer wenn jemand etwas Kleinteiliges kauft, hat Cristina Angst, dass ein Kind es verschlucken und ersticken könnte. Diese Gedanken sind unaufhörlich geworden und führen dazu, dass sie immer wieder innehält und überprüft; das lindert ihre Angst, aber nur vorübergehend.
Diejenigen, die an einer schweren Zwangsstörung leiden, beginnen
