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NOVA 32: Magazin für spekulative Literatur
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eBook312 Seiten6 Stunden

NOVA 32: Magazin für spekulative Literatur

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Über dieses E-Book

NOVAstorys
Thomas Grüter: Auf eigene Gefahr
Karsten Lorenz: Geliebte Savona
Victoria Sack: Obsoleszenz
Ricky Wilhelmson: Planetare Verteidigung
Aiki Mira: Nicht von dieser Welt
Wolf Welling: Im Tulou
Benjamin Hirth: This War Is Over
Frank W. Haubold: Das Mädchen aus dem Jenseits
Brandon Crilly: Gedächtnis

NOVAsekundär
Michael K. Iwoleit: »Aber ich habe geliebt! …« James Tiptree, jr. und die weltbeste Science-Fiction-Story
Hans Esselborn: Herbert W. Franke. Zum Gedenken an den Altmeister der Science-Fiction
Franz Rottensteiner: H. W. Franke, Cyber ohne Punk
Dietmar Dath: Gesetz und Drachenkraft. Herbert W. Franke als schöpferischer Erklärer der Kunst
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum2. Jan. 2023
ISBN9783957657947
NOVA 32: Magazin für spekulative Literatur

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    Buchvorschau

    NOVA 32 - p.machinery

    NOVA 32

    Magazin für spekulative Literatur

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © dieser Ausgabe: Januar 2023

    p.machinery Michael Haitel

    Titelbild: Andreas Schwietzke

    Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

    Redaktion NOVAstorys: Michael K. Iwoleit, Marianne Labisch

    Redaktion NOVAsekundär: Thomas A. Sieber

    Redaktion Grafik: Christian Steinbacher

    Korrektorat: Michael Haitel

    Herstellung: global:epropaganda

    Verlag: p.machinery Michael Haitel

    Norderweg 31

    25887 Winnert

    www.pmachinery.de

    www.nova-sf.de

    www.facebook.com/novamagazin

    www.twitter.com/novamagazin

    ISSN: 1864 2829

    ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 312 3

    ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 794 7

    Editorial

    Als Helmuth W. Mommers, Ronald M. Hahn und ich im Sommer 2002 das Magazin Nova gründeten, das vornehmlich als Forum für zeitgenössische deutschsprachige Science-Fiction-Storys konzipiert war, einigten wir uns darauf, in jeder Ausgabe auch eine übersetzte Story eines ausländischen Gastautors zu veröffentlichen. Obwohl international renommierte Autoren wie Brian W. Aldiss und Greg Egan uns mit Beiträgen unterstützten und wir im Laufe der Jahre immer wieder Geschichten auch von britischen und nordamerikanischen Autoren veröffentlicht haben, lag der Schwerpunkt unserer Gaststoryrubrik auf vernachlässigte Regionen auf der Weltkarte der Science-Fiction, deren SF-Produktionen, ähnlich wie die deutsche, ein stiefmütterliches Dasein fristen, unabhängig von ihrer teils bemerkenswerten Qualität. Es ergaben sich dabei so viele neue Kontakte, dass bald die Idee aufkam, eine internationale Ausgabe unseres Magazins zu gründen, die SF-Storys aus aller Welt in Englisch oder englischer Übersetzung publizieren sollte. Die erste und leider einzige Ausgabe von InterNova, wie das Schwestermagazin getauft wurde, erschien 2005, doch die Zeit war, insbesondere wegen der Vertriebsprobleme, noch nicht reif für ein solches Magazin. Dennoch hat InterNova einen kleinen Beitrag zu einer seitdem immer breiter gewordenen Bewegung in Richtung einer globalen Science-Fiction geleistet, bei der besonders unser erfolgreicher israelischer Kollege Lavie Tidhar und die amerikanische Apex Book Company eine bedeutende Rolle spielten. Um 2010 habe ich InterNova einige Zeit als Onlinemagazin weitergeführt. Ein geplanter Neustart mit neuem Design und regelmäßiger Erscheinungsweise kam wegen einer längeren Erkrankung nicht zustande. Aufgegeben habe ich die Idee eines internationalen SF-Magazins aber nie.

    Nach dem Verlagswechsel unseres Magazins von Amrûn nach p.machinery stellte sich schnell heraus, dass Michael Haitel und ich nicht nur einen unermüdlichen Ehrgeiz und Spaß an der Sache, sondern auch die Bereitschaft gemeinsam haben, uns immer mehr Arbeit aufzuhalsen. Ich musste unseren geschätzten Verleger daher nicht lang überreden, um auch einen Neustart von InterNova in Angriff zu nehmen. Die Vorbereitungen haben einige Zeit in Anspruch genommen. Autoren aus aller Welt haben mir nahezu einhundert Storys sowie zahlreiche Essays und Artikel angeboten, die erst einmal gesichtet sein wollten. Mit dem Erscheinen der vorliegende Nova-Ausgabe werden auch die beiden ersten Onlineausgaben von InterNova unter internova-sf.de verfügbar sein, eine gemischte Ausgabe und eine Themenausgabe über Science-Fiction aus Griechenland. Geplant ist außerdem eine einmal jährlich erscheinende gedruckte Ausgabe, die vor allem längere Erzählungen enthalten wird. Für deren erste Ausgabe sind Novellen von Guy Hasson, Tetiana Trofusha und meiner Wenigkeit vorgesehen. Dank internationaler Onlinevertriebswege und BoD-Produktion sind die Chancen, für ein solches Magazin Käufer zu finden, weit besser als 2005, und wir hoffen, dass wir sowohl publizistisch wie auch inhaltlich erneut einen Beitrag zur Weiterentwicklung der internationalen Science-Fiction leisten können.

    Und da, wie ich gern witzele, des Wahnsinns nie genug sein kann, erschöpfen sich mit diesen beiden Magazinen meine konspirativen Kollaborationen mit Herrn Haitel aber noch lange nicht. Im Dezember ‘22 ist mit Kurzgeschichtensammlungen von Horst Pukallus und Thorsten Küper unsere neue Buchreihe Cutting Edge als Imprint von p.machinery gestartet, ein Versuch, das Beste der deutschsprachigen Science-Fiction und ausgewählte Werke ausländischer Kollegen einem Publikum außerhalb der SF-Szene nahezubringen. Für diese Reihe haben wir ein neues Vermarktungskonzept ausgearbeitet, in das auch unsere Magazine einbezogen werden sollen. Mehr wollen wir noch nicht verraten, aber treuen Nova-Lesern werden sicher bald einige Neuigkeiten auffallen. Man sieht also, obwohl sich die Nova-Redaktion Schritt für Schritt in einen Ü60-Club verwandelt, sind wir vom Ruhestand weiter entfernt denn je. Zum Vergnügen unserer Leser, wie wir hoffen.

    Michael K. Iwoleit

    Dezember 2022

    NOVAstorys

    Thomas Grüter: Auf eigene Gefahr

    Zugegeben, es ist keine neue Idee, als Tourist in die Vergangenheit zu reisen, um historischen Ereignissen – vorzugsweise der Kreuzigung Jesu – beizuwohnen. Das bekannteste Werk dieser Art dürfte Michael Moorcocks Novelle »Behold the Man« (1967, später zum Roman erweitert) sein. Nicht selten werden Zeittouristen unversehens enger in das historische Geschehen verwickelt, als ihnen lieb ist, oder führen es auf kuriosem Wege selbst herbei. Gegen solche Zeitreisegeschichten und ihren allzu platten Vorstellungen von Raum, Zeit und Kausalität hat Alfred Bester mit seiner berühmten Kurzgeschichte »The Men Who Murdered Mohammed« (1958) einen geradezu ketzerischen Angriff unternommen. Der verwirrte Professor in dieser Geschichte, der einen Nebenbuhler ausgerechnet mit einer Zeitmaschine ausschalten will, stellt fest, dass seine immer dramatischeren Eingriffe in die Vergangenheit in der Gegenwart ohne Folgen geblieben sind, außer dass sie seine eigene Verankerung in der Zeit auflösen. Gegen ähnliche Auflösungserscheinungen von temporärer und kausaler Ordnung durch das Treiben von Zeitreisenden wurden in Thomas Grüters neuer Geschichte drastische Gegenmaßnahmen ergriffen. Ein amerikanisches Ehepaar, das nach Ankunft in der Antike feststellt, dass es den falschen Versprechungen einer Zeitreiseagentur aufgesessen ist, sieht nun zwar einem zweifelhaften Schicksal entgegen, aber immerhin ist ihm ein kleiner, nicht unbedeutender Beitrag zur Weltgeschichte vergönnt.

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    Thomas Grüter: Auf eigene Gefahr

    (1) Der Veranstalter der Zeitreise bemüht sich nach Kräften, die Vertragspartner am vereinbarten Ort und zur vereinbarten Zeit abzusetzen und wieder aufzunehmen, soweit physikalisch möglich und gesetzlich erlaubt.

    (2) Der Veranstalter haftet nicht für die körperliche und geistige Unversehrtheit der Vertragspartner während der Reise.

    (3) Der Vertragspartner trägt allein die Folgen von Gesetzesverstößen, die er vorsätzlich oder fahrlässig im Rahmen der Reise begeht.

    (Auszug aus den AGB von Itinere Temporum/Time Adventures)

    Jonas trat ein, als ich an meinen Abrechnungen saß, und verbeugte sich knapp.

    »Ich hoffe, du hast einen guten Grund, mich zu stören?«

    »Wir haben wieder eine Gruppe zugeteilt bekommen, Herr.«

    »Haben sie die Kontrollen passiert?«

    »Die CTI haben zwei weitergeleitet, die illegale Dinge einschmuggeln wollten. Den Rest haben sie an uns übergeben.«

    »Sehen sie gesund aus?«

    »Jung und gesund, Herr. Sie kommen mit Itinere Temporum und wollen die Kreuzigung ihres Religionsstifters miterleben.«

    Ich seufzte. Schon die vierte Gruppe in diesem Jahr! Und Itinere Temporum hatte verdammt hohe Provisionen ausgehandelt. Dafür lieferten sie aber auch Qualität.

    »Gut. Es sind Paare und Familien, nehme ich an?«

    »Ja, Herr, zwei Paare, eine Familie.« Er wartete – nicht aus Unentschlossenheit, sondern weil er nicht handeln durfte, bis ich ihm eine Anweisung gab.

    »Schick sie herein, immer ein Paar oder eine Familie zugleich. Und halte dich bereit zum Übersetzen, falls sie nur Aramäisch sprechen.«

    Jonas gab dem Türhüter ein Zeichen, dieser wiederum den Wachen. Sie stießen einen Mann in den Raum. Er stolperte zwei Schritte, bevor er sich fing und aufrichtete. Hinter ihm schritt seine Frau herein, steif vor Empörung. Er wirkte trotzig, sie schaffte es irgendwie, zugleich erwartungsvoll und verärgert auszusehen. Ich schätzte beide auf ungefähr dreißig Jahre. Urbane Mittelschicht, helle Hautfarbe, gut genährt, ebenmäßige und gepflegte Zähne, kein überflüssiges Fett. Seine runden Muskeln stammten sicher nicht von harter Arbeit, sondern aus dem Gymnasion, und ihre gepflegten Hände ließen darauf schließen, dass sie die Hausarbeit nicht selbst verrichtete.

    Ich winkte sie vor meinen Schreibtisch. Jonas trat neben mich. Er misst vom Scheitel bis zur Sohle sechseinhalb Podes und ist stolz auf seine schwellenden Muskeln. Dies und sein aufmerksamer Blick beruhigen die meisten Menschen, ohne dass er eingreifen muss. Die Frau ergriff das Wort, ohne ihren Mann auch nur anzusehen.

    »Wir haben diese Reise gebucht, um die Kreuzigung des HERRN zu bezeugen. Ich will nicht unhöflich sein, aber über den unfreundlichen Empfang hier muss ich mich wirklich wundern.«

    Sie sprach ihre seltsame Sprache, die ich inzwischen aber ansatzweise verstand. Offenbar äußerte sie eine Beschwerde. Ich antwortete auf Koine: »Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen. Aber Sie sind bedauerlicherweise auf einen Betrüger hereingefallen.«

    Sie sah ihren Begleiter an und er übersetzte. Dann unterhielten sich die beiden einen Moment lang aufgeregt in ihrer eigenen Sprache. Ich verstand: »… keine Zeitreisen … reingelegt …«

    »Schreiben wir das Jahr 2023?«, fragte der Mann auf Koine mit starkem Akzent.

    »Nein, diese Zählung kennen wir nicht«, unterrichtete ich ihn. Er blickte mich an. In seinen Augen dämmerte die Erkenntnis, dass ihre hoffnungsvoll begonnene Zeitreise anders verlief, als sie erwartet hatten. Ich sagte betont ruhig: »Jetzt erzählen Sie einfach, wie Sie hierhergekommen sind. Fangen Sie mit Ihrem Namen an und nennen Sie mir dann Ort und Zeit Ihrer Abreise«, sagte ich langsam und betont. Er sah seine Frau kurz an, als wolle er ihre Zustimmung einholen, und antwortete dann: »Ich bin Howard und dies ist meine Frau Cherie. Wir kommen aus einem kleinen Ort in der Nähe von Savannah in Georgia. Aus dem Jahr 2023.« Er machte eine Pause und sah mich an, als ob er darauf wartete, dass ich mich auch vorstellte.

    »Reden Sie weiter«, sagte ich.

    Er fuhr fort: »Das ist in einem fernen Land, jenseits, hm, … der Säulen des Herakles. Wir sind US-Bürger, wenn Sie wissen, was ich meine.«

    Natürlich wusste ich das. Sie waren ja nicht die Ersten. Mein halbes Leben lang habe ich mich mit anmaßenden Widerlingen herumgeärgert, die als Cives Romani – römische Bürger – eine Vorzugsbehandlung beanspruchen. Ich sagte also nichts. Die Zeit dehnte sich. Howard begann zu begreifen, dass dies keine freundschaftliche Unterhaltung war.

    »Also, unsere Geschichte: Da war dieser seltsame Mann, der in unseren Gottesdienst kam, immer wieder. Er erzählte uns, er könne Zeitreisen arrangieren, und wir – oder wenigstens einige von uns – könnten die Kreuzigung des Herrn selbst miterleben. Wir hielten ihn zuerst für verrückt, aber dann kam er mit Beweisen. Drei antike Münzen, aber ganz neu. Zwei Schriftrollen mit aramäischen Zeichen, auch neu. Alle Experten, die wir fragten, meinten, man könnte die Sachen für echt halten, wenn sie nicht so neu wären. Wir fragten unseren Kontaktmann, ob er Fotos oder Filme hätte, aber er sagte, solche Dinge dürfe niemand zurückbringen. Das Gefüge der Zeit würde dadurch geschwächt, und die ›Zeitpolizei‹ würde jeden töten, den sie dabei erwischte. Aber er nahm einen von uns auf eine kostenlose Reise in das ›New York‹ von ›1960‹ mit, nur zehn ›Minuten‹ und im geschlossenen ›Taxi‹, aber das reichte. Wir glaubten ihm.«

    Er flocht Worte seiner eigenen Sprache übergangslos in seine Rede ein, wenn er keine Übersetzung dafür wusste.

    »Dann verlangte er, dass wir Seminare buchten, richtig teure Seminare. Wir sollten lernen, wie man sich zur Zeit Jesu benimmt, und wir lernten das hellenistische Griechisch, also Koine, und Latein. Aramäisch war uns zu schwer. Wer ›Zahnfüllungen‹ hatte oder ›Schrauben‹ in den Knochen, durfte nicht mit. Auch wer zu fremd aussah, wurde ausgeschlossen. Time Adventures, der Veranstalter, war da ganz rigoros. Ich habe einen entfernten indianischen Vorfahren, aber sie meinten, das würde niemand bemerken. Wir, also meine Frau und ich, wir zahlten zusammen fast zweihundertfünfzigtausend ›Dollar‹ für drei Serien von Seminaren. Die Reise selbst war umsonst – ein Dienst für die Gläubigen, sagte der Kontaktmann.«

    Zweihundertfünfzigtausend Dollar, das waren ungefähr zweihundertfünfzig Talente Silber – ein ungeheurer Preis. Dennoch verdienten sie kein Mitleid.

    Er fuhr fort: »Ich hätte mir denken können, dass Zeitreisen eigentlich Blödsinn sind, und auch die kurze Reise nach ›New York‹ nur Hokuspokus war. Ich nehme an, Sie sind von der ›Polizei‹, und wenn wir Ihnen helfen können, tun wir das gerne.«

    »Tut mir leid, Ihnen Ihre Illusionen nehmen zu müssen«, begann ich, »aber sie sind tatsächlich durch die Zeit gereist. Aus gutem Grund ist die zeitliche und räumliche Umgebung weltgeschichtlicher Ereignisse jedoch für Zeitmaschinen gesperrt. Sie wurden auf einen Stützpunkt der Zeitwache umgeleitet. Sie haben vielleicht den Bronzeschild mit dem Wappen an der Wand des Ankunftsbereichs gesehen.«

    »Das C, das in sich ein T und I birgt?«

    »Richtig. Es steht für Custodes Temporis Integritatis – die Organisation der Zeitwächter. Und damit Sie Bescheid wissen: Wir schreiben das neunte Jahr des Imperators Caesar Nerva Traianus Augustus, und Sie sind in Damaskus. Die Stadt Hierosolyma ist gesperrt, ebenso die Zeit zwischen dem ersten Jahr von Imperator Caesar Divi filius Augustus bis heute. Ihr Prophet ist vor etwa achtzig Jahren gekreuzigt worden – wenn dieses Ereignis wirklich stattgefunden hat.«

    »Aber …«, sagte Howard. Seine Frau unterbrach ihn. »Dominumne non videbimus?«

    Sie sprach ein verschliffenes, fast unverständliches Lateinisch. Itinere Temporum hatte wieder einmal die billigsten Lehrer engagiert.

    »Sie haben die Situation gut erfasst. Sie werden Ihren Propheten nicht zu Gesicht bekommen«, bestätigte ich ihr.

    Howard beugte sich vor. »Wir sind aus der Zeitmaschine buchstäblich in dieses verdammte Lagerhaus ausgekippt worden und sollen jetzt zurück, ohne irgendetwas von dieser Welt gesehen zu haben? Ich sagte doch, wir tun alles, um der ›Polizei‹ zu helfen. Dafür könnten wir doch wenigstens einen Rundgang durch Damaskus bekommen. Sie als Zeitreisender werden das doch sicher verstehen.«

    Er machte sich völlig falsche Vorstellungen über seine Lage.

    »Zeitreisen sind Verbrechen, schlimmer noch: Frevel gegen die göttliche Ordnung oder, wie die Stoiker sagen würden, gegen das Logos. Sie erzeugen Paradoxa und schwächen das Raum-Zeit-Gefüge. Sollten zu viele solcher Widersprüche auftreten, entstehen Blasen, in denen sich die Struktur der Welt auflöst. Sind sie klein genug, schließen sie sich wieder, aber wenn zu viele auftreten, verbinden sie sich. Wenn sie zu groß werden, bricht die Zeit zusammen. Die Materie verwandelt sich dann in elektromagnetische Strahlung, für die Zeit keine Ausdehnung besitzt.«

    So hatte man es mir erklärt, was nicht heißt, dass ich es begriffen hätte. Howard fragte:

    »Und was bedeutet das?«

    Manche Reisende aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert verstanden diese Erläuterung, aber wahrhaftig nicht viele. Sie halten sich für fortschrittlich, aber wissen in Wahrheit nichts vom inneren Gefüge unserer Welt. Ich versuchte es mit der philosophischen Erklärung: »Die Weltachse vergeht im Feuer. Wenn die Stoiker recht haben, dann beginnt damit ein neuer kosmischer Zyklus. Aber der Jetzige wäre unvollendet abgebrochen. In künftigen Zyklen würden deshalb bizarre und widersinnige Verzerrungen auftreten. Sie schwächen das Logos irgendwann so weit, dass der Kosmos seinen Zusammenhalt verliert.«

    Sie sahen mich mit großen Augen an. Unsere moderne Philosophie war einfach zu viel für sie. Zwar glauben sie an einen gekreuzigten Gott, aber davon abgesehen beherrscht ein geistloser Materialismus ihre Welt. Also blieb nur die ganz einfache Erklärung: »Die Erde explodiert.«

    Das begriffen sie, aber sie schienen nicht sehr beeindruckt sein. Von einer der anderen Gruppen hatte ich erfahren, dass in ihrer Zeit Untergangspropheten ständig alle möglichen Weltenden beschworen. Die Frau antwortete in ihrem seltsamen Latein: »Das konnten wir nicht wissen. Und jetzt wollen Sie uns bitte zurückschicken.«

    Ich ging nicht darauf ein.

    »Der Abgesandte von Itinere Temporum hat Ihnen vermutlich nahegelegt, mit niemandem über Ihr Vorhaben zu reden. Er hat gesagt, seine Dienstleistung sei in einigen Staaten und Zeiten illegal, habe ich recht?«

    Die beiden sahen mich konsterniert an und antworteten nicht.

    »Itinere Temporum – Sie kennen es als Time Adventures – sichert sich gerne ab. Tatsächlich sind Zeitreisen fast überall illegal, aber Itinere wälzt das Risiko komplett auf seine Kunden ab. Und übrigens: Ich bin kein Zeitreisender.«

    Die Zeitwächter hatten mir nur ein gutes Geschäft vorgeschlagen, und ich hatte es akzeptiert. Mir blieb kaum eine Wahl. Meine Gläubiger umschlichen mich bereits wie Wölfe einen todwunden Stier. So hatte ich mein Lagerhaus als Abfangort für illegale Zeitreisende zur Verfügung gestellt und den Zeitwächtern erlaubt, ihre Werkzeuge und magischen Gerätschaften dort zu verstecken. Sie zahlen gut dafür. Das bedeutet nicht, dass ich sie mag. Obwohl sie es bestreiten, halte ich sie für Dämonen, und es geht für Menschen nur selten gut aus, sich mit solchen Wesen einzulassen. Aber das musste ich den beiden nicht erzählen. Sie hatten bereits genug eigene Probleme. Und es wurde Zeit, ihnen das klarzumachen.

    »Und so geht es mit Ihnen weiter: Durch Ihre Zeitreise haben sie ein frevelhaftes Paradoxon erzeugt und Ihre Verbindung mit der Weltseele so sehr geschwächt, dass sie abreißen wird.«

    Wieder verstanden die beiden nichts. Es erschüttert mich immer wieder, wenn mir vor Augen geführt wird, dass die Welt in zweitausend Jahren derart in Barbarei versinken wird. Ich erinnerte mich daran, welche Worte mir die Zeitwächter vorgegeben hatten und sagte: »Die Zeitreise erzeugt starke Felder, die das biografische Gedächtnis in Ihrem Gehirn zerfallen lassen und das Weltwissen für die Zeit vor der Reise einschränken. In zwei Wochen werden Sie nichts mehr wissen, was für diese Zeit gefährlich wäre. Mit der Magie der Zeitwächter werden wir Ihnen neue Erinnerungen einpflanzen. Sie werden glauben, an der Nordgrenze von Pannonien bei einem keltischen Stammeskrieg gefangen und als Sklaven ins Römische Reich verkauft worden zu sein. Das ist sehr plausibel, denn die Kelten streiten sich bekanntermaßen andauernd.«

    Sie brauchten einen Moment, um zu begreifen. Ich hatte ganz ruhig gesprochen, denn dies war der Moment, in dem viele Neuankömmlinge ihre Fassung verloren.

    »Wir sollen Sklaven werden?«, fragte Cherie betäubt.

    »Sie sind es bereits. Mit Ihrer Ankunft sind Sie mein Eigentum geworden. Sie sind beide jung und gesund. Der Preis, den ich mit Ihnen erziele, hilft dabei, die Zeitwache zu finanzieren.«

    Und meiner Familie ein Leben in bescheidenem Wohlstand zu sichern.

    »Sie sind Sklavenhändler?«, fragte Howard sichtlich erschüttert.

    »Unter anderem«, sagte ich. »Ich handele mit vielen Dingen. Und das ist, wie ich betonen möchte, ein ehrbarer Beruf.«

    Die Besucher aus dem 20. und 21. Jahrhundert ihrer Zeitrechnung leugneten gerne die Existenz von Sklaverei in ihrer Zeit und gaben sich entsetzt. Howard beugte sich vor: »Als US-Bürger verlange ich, dass Sie uns zurückschicken.«

    Ein letztes Aufbäumen.

    »Ihr Staat existiert noch mehr als tausend Jahre nicht, und selbst wenn ich Sie zurückschicke, ist Ihre Verbindung zur Weltseele unwiderruflich abgerissen. Binnen weniger Tage werden Sie zu sabbernden Idioten. Ihre Ärzte wissen zu wenig, um den Prozess aufzuhalten. Hier haben Sie sicher noch zwanzig produktive Jahre.«

    »Diese Entscheidung wollen Sie bitte uns überlassen«, schnappte Howard.

    Es war Zeit, die beiden etwas härter anzufassen. Als Sklaven hatten sie sowieso kein Anrecht auf eine höfliche Ansprache.

    »Du bist mein Eigentum, und du entscheidest gar nichts. Du wirst hier leben, und du wirst hier sterben.«

    »Was wir noch sehen werden.«

    Das klang schon etwas zaghafter. Sein Trotz ließ nach.

    »Wenn du leben willst, wirst du dich nicht widersetzen. Ihr solltet eurem Gott auf den Knien für euer gnädiges Schicksal danken.«

    »Gnädig nennen Sie das?«

    »Siehst du, Itinere Temporum arbeitet mit uns zusammen. Deshalb lässt die Zeitwache sie manchmal gewähren. Wir verkaufen euch und finanzieren damit einen Teil des Etats der Zeitwächter. Aber manche Zeitreisende und Veranstalter verletzen alle Regeln. Sie schmuggeln Geräte und Waffen ein oder kommen mit dem Vorsatz, den Lauf der Zeit zu verändern. Das ist ein unerhörter Frevel gegen die Ordnung der Götter, und wir müssen solche Verbrecher noch einmal achtzig Meilen weiterleiten.«

    Ich sah es in seinem Kopf arbeiten. »Nach Byzantion?«

    »Aber nein, achtzig Meilen weiter nach unten, was immer dort auch sein mag. Kein sterblicher Mensch darf das wissen, aber vermutlich warten dort die finstersten und tiefsten Abgründe des ewigen Hadesreichs.«

    Postskriptum:

    Aus dem European Journal of Population Genetics 6, 88–92 (2027)

    Hansen B, Arrowsmith CF, Swensson LT: »Genetic indications of early contacts between the native American and the Mediterranean population«

    German Abstract:

    Eine Begräbnisurne aus einem Urnenfeld bei Damaskus, die bereits 1938 geborgen, aber noch nie geöffnet worden war, erwies sich als Sammelbestattung der Asche von mindestens acht Individuen. Diese Art der Bestattung ist bekannt von Angehörigen der ärmeren Schichten und von Sklaven. Aus einem teilweise verkohlten Unterkiefer konnten zwei Zähne geborgen werden. Sie stammten von einem 52-(±5)-jährigen Mann. Die Zähne waren gut gepflegt, ein vermutlich schmerzhafter Abszess am Kieferast war fachgerecht aufgemeißelt worden und weitgehend verheilt. Als Todeszeitpunkt wurde das Jahr 132 (±8) bestimmt. Die Strontiumisotopenanalyse ergab, dass der Mann seit ca. 20 Jahren in der Gegend von Damaskus lebte. Sein vorheriger Aufenthaltsort konnte nicht ermittelt werden. Die DNA erwies sich als stark fragmentiert und beschädigt. Die darin angedeutete Mischung aus europäischen und afrikanischen Elementen ist im Mittelmeerraum nicht ungewöhnlich und kommt heute in ähnlicher Form auch in den Südstaaten der USA bei der phänotypisch kaukasischen Bevölkerung vor. Tendenziell (p < 0,07) scheinen aber auch Merkmale vorzukommen, die vorwiegend bei amerikanischen Ureinwohnern verbreitet sind. Während bei rezenten Isländern bereits DNA von indigenen Amerikanern nachgewiesen wurde (Ebenesersdóttir et al. 2010), wäre dies der früheste Nachweis im Mittelmeerraum. Kontakte zwischen den Mittelmeeranrainern und indigenen Amerikanern in der Antike sollten neu diskutiert werden.

    Karsten Lorenz: Geliebte Savona

    Der Konflikt zwischen dem »sense of wonder«, der Streben nach dem Erstaunlichen und Wunderbaren, einerseits und dem Bemühen um Plausibilität andererseits steckt im Herzen der Science-Fiction. So haben sich Generation von SF-Autoren, die den Anspruch hegten, nicht nur die Sinne, sondern auch den Intellekt ihrer Leser zu stimulieren, die Köpfe darüber zerbrochen, wie sich die Erkundung des

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