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Die Stadt im Strom: Darkhanium Band 8
Die Stadt im Strom: Darkhanium Band 8
Die Stadt im Strom: Darkhanium Band 8
eBook1.426 Seiten20 Stunden

Die Stadt im Strom: Darkhanium Band 8

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Über dieses E-Book

Ein Schiff ist gefunden. Gemeinsam reisen die Gefährten über das Meer der Stürme einem geheimnisvollen Ort im Süden entgegen, wo Sie wertvolle, aufklärende Hinweise auf ihre Bestimmung vermuten.
Doch der Dunkle Feind ist wachsam und verfolgt unermüdlich seine finsteren Pläne, und er hat es darauf abgesehen, die Gemeinschaft zu vernichten, die ihm ein Dorn im Auge ist.
Und so müssen die Gefährten nicht nur die Tücken des Meeres und der wilden Natur, sondern auch die Bedrohungen durch die Schergen des Hexenmeisters überwinden, um ihrem Ziel näherzukommen. Eine gefahrvolle, abenteuerliche Reise steht ihnen bevor, die sie womöglich mitten hinein in einen grausamen und blutigen Krieg führen wird, der die gesamte Welt wie ein dunkler Sturm überzieht.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum6. Dez. 2022
ISBN9783740723637
Die Stadt im Strom: Darkhanium Band 8
Autor

Peter Bur

Geboren am 20. Oktober 1982 in Biel in der Schweiz. Seit 2016 verheiratet und wohnhaft in Ipsach, nahe Biel. Schreibt seit 1998 nebenberuflich und mit wachsendem Eifer an seinem gewaltigen Fantasy-Epos Darkhanium, einem Werk, dessen Umfang ihm wohl noch ein ganzes Leben an Schreibartbeit abverlangen wird - oder vielleicht auch zwei.

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    Buchvorschau

    Die Stadt im Strom - Peter Bur

    Kapitel 1

    Als Valista Pfauenauge auf leicht zittrigen Beinen an Deck der Mardraken stieg, war der Himmel über dem Meer in ein strahlendes Azur gekleidet. Nur eine Handvoll weisser Schönwetterwolken glitt gemächlich über jenes tiefe Blau hinweg, und die hochstehende Mittagssonne schien warm und angenehm auf die Besatzung hinunter, die an Bord des unaufhörlich schlingernden Schiffes ihrer Arbeit nachging.

    Im Schatten unter dem Eingang am Heckaufbau blieb die junge Waldelfe stehen, die dünnen Arme um den Leib geschlungen, und beobachtete das geschäftige Treiben an Deck. Die hünenhaften, meist blonden und knorrig gewachsenen Menschen der Besatzung gingen ihrem Tagwerk nach und hielten das grosse Schiff auf Kurs. Valista verstand nicht viel von Seefahrt und dem Segelhandwerk, und doch kam sie nicht ganz umhin, die Männer und Frauen zu bewundern, die das weite Meer, diese endlos scheinende Wüstenei aus salzigen Wogen und unbekannter Tiefen, auf jenem im Vergleich geradezu zerbrechlich wirkenden Konstrukt aus Holz befuhren und den ungeheuren Gewalten, die jene Wassermassen im Verbund mit den zügellosen Winden zu entfesseln vermochten, furchtlos, mutig und manchmal fast verächtlich, aber auch voller Freude trotzten.

    Sie selbst empfand dem Ozean gegenüber noch immer eine gesunde Portion Ehrfurcht, glaubte sie doch eine dunkle, wütende Kraft in den verborgenen Tiefen dieser grenzenlosen Wasserödnis schlummern zu spüren, die binnen eines Augenblicks mit jäher Wucht hervorbrechen und das Schiff mitsamt seiner Besatzung mit Leichtigkeit zerschmettern und verschlingen konnte.

    Am heutigen Tage aber gebärdete sich das Meer ruhig und friedlich, wie Valista erleichtert zur Kenntnis nahm, als ihre grünen Augen bedächtig über den blauen Wellenteppich schweiften, der sich uferlos in alle Richtungen erstreckte, soweit ihr scharfer Elfenblick auch reichte. Das grelle Sonnenlicht spielte auf den abertausenden, sich ewig wandelnden Wogen, liess diese glitzern und funkeln wie Sternensplitter, die des nachts vom Himmel zur Erde gerieselt waren und nun von ihrer grossen Schwester mit neuem Feuer erfüllt wurden. Eine steife Brise aus Nordosten blies ihren kühlen Atem über das Deck und blähte das grosse, rechteckige Segel auf, das mit Balken und strammen Seilen am hohen Mast befestigt war. Das riesige Tuch war rot und weiss gestreift und knatterte im Wind. Es hielt das gesamte Schiff in Fahrt und liess es wie ein hölzernes Untier geschmeidig über das Wasser hinweggleiten.

    Die rollenden, schwankenden Bewegungen der Mardraken erwiesen sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt als eher bedächtig, dennoch machte dieses unaufhörliche Wiegen des Decks Valista noch immer zu schaffen. Sie verspürte eine leichte Übelkeit im Magen, und ihr war schwindelig, doch allmählich begann sie sich an den Seegang zu gewöhnen.

    Valista war bei weitem nicht die Einzige, die unter der Grünkrankheit litt und Mühe bekundete, auch nur eine Mahlzeit bei sich zu behalten. Fast die Hälfte ihrer Gefährten vertrug die Wellenbewegungen des Schiffes schlecht und klagte über Schwindel und Unpässlichkeit. Ihr geliebter Fiariol, Licht ihres Lebens und Hüter ihres Herzens, teilte ihr Leiden, so wie er alles mit ihr teilte, seitdem sie ihre Wesen im ewigen Bund der Liebe, dem altehrwürdigen Nalaneyarin, der Vereinigung der Seelenlieder zu einer tiefgreifenden Liaison vollendeter Harmonie verschmolzen hatten. Auch Acrinolas, dem grossen Mann aus Heidenbruck, der sich ihrer Gruppe angeschlossen hatte, sah man an, dass er mit der Übelkeit kämpfte, auch wenn er sich tapfer gab und versuchte, sein Elend zu verbergen. Dem freundlichen Malik und der hübschen Talina erging es nicht viel besser, und selbst Axis hatte sich in den ersten Tagen mehrmals ins Meer erbrochen, obwohl er sich mittlerweile bereits wieder soweit erholt hatte, dass er darüber Scherze machen konnte, während Carvik seit ihrem Auslaufen aus dem Hafen von Anacca sich noch grimmiger und verschlossener gab und meist jegliche Gesellschaft mied.

    Die beiden Zwerge schienen von allen jedoch am stärksten an den Auswirkungen der Seekrankheit zu leiden, doch wusste Valista nicht zu sagen, ob ihr Elend nicht zu einem gewissen Teil selbst verschuldet war. Der unsinnige Aberglaube der Taroxim verbot einem der ihren ausdrücklich, das Meer zu befahren, galt ihnen Wasser doch als ein böses, verdorbenes Element. Dabei ist es doch voller Reinheit und sprudelt vor Lebenskraft und herrlichen Melodien, dachte die Aldani stumm bei sich und wiegte nur leicht ihren silbrigweissen Schopf. Da das Schicksal beide Zwerge aber dazu gezwungen hatte, die Mardraken zu betreten und über die See nach Midstrom zu segeln, schienen sich Balron und Splitter nun selbst zu verdammen, hatten sie sich doch dem ehernen Willen ihres Feuergottes und Schöpfers widersetzt und nach ihrer kruden Vorstellung dadurch grosses Unglück auf sich und ihre Gefährten heraufbeschworen. Beiden ging es noch immer schlecht, soweit ihr bekannt war, und Valista fühlte gleichwohl mit ihnen, weil es ihre Natur war, von den Melodien und Leidensklängen anderer berührt und betroffen zu werden. Allen voran Balron bedauerte sie, war ihr der freundliche, meist gut aufgelegte Steinzwerg doch bereits ans Herz gewachsen. Aber auch Splitters Misere machte sie nicht froh, obgleich sie für ihn, der boshaft, übellaunig und äusserst streitbar war, gewöhnlich nicht wirklich viel Wohlwollen aufbrachte.

    Am frühen Morgen vor fünf Tagen war die Mardraken von Anacca aus ausgelaufen und bahnte sich seither unermüdlich ihren Weg über das Meer der Stürme gen Süden, der fernen Küste Lokiriens entgegen. Soweit Valista von Jendara unterrichtet worden war, die sich erstaunlich rührend um Fiariol und sie gekümmert hatte, während beide bleich und zitternd in ihrer kleinen Kabine gelegen und gemeinsam Qualen erduldet hatten, steuerte der Kapitän sein Schiff durch den Varenischen Meerbusen, vorbei an den steilen Felsenklippen der Meerlingkrone, einer langgestreckten, kargen Insel südlich der Ufer Heidenbrucks, und dann in Sichtweite der Küste des schaurigen und wilden Orklandes entlang hinunter nach Silem, dem Reich aus Sand, Hitze und tausend Düften, der Heimat Eila Tamunsunis. Von dort aus würde ihr Kurs sie über das offene Meer führen, bis sie Sul-Aris, die Landmasse des Südens, erreichten, und dann würden sie an der Ostküste des Zentaurenlandes hinab bis nach Midstrom fahren. Gestern am frühen Abend hatten sie den Südzipfel der Meerlingkrone hinter sich zurückgelassen, so hatte Jendara sie in Kenntnis gesetzt, als sie ihnen ein karges Abendmahl aus Schiffszwieback und Gerstenbrei gebracht hatte. Valista allerdings konnte mit den Wegbeschreibungen der Wiesenelfe nicht viel anfangen, wusste sie doch wenig und noch viel weniger über diese fremden Weltgegenden so fern ihres lieblichen Aldana Bescheid. Manche Namen hatte sie durchaus schon mal vernommen, doch andere waren ihr kaum bekannt und so fremdartig wie die Klänge und Weisen ihrer Gefährten.

    Wenigsten hatte die zierliche Aldani die Mahlzeiten der letzten beiden Tage bei sich behalten können, ein kleiner Trost nur, der sie aber mit einer gewissen Erleichterung erfüllte. Von Tag zu Tag schien sich die Übelkeit zu mindern, und das Schwindelgefühl schwächte sich ebenfalls ab. Valista fühlte sich wieder stark genug, auf eigenen Beinen zu stehen, auch wenn sie noch immer mit dem wankenden Untergrund des Decks zu kämpfen hatte, und seit gestern wagte sie es gar wieder, ein wenig umherzugehen.

    Ihr Geliebter erholte sich ebenfalls langsam von den Tücken einer Seereise, doch noch verkroch er sich unter Deck in der gemeinsamen Kabine im Heck der Mardraken. Sein schwacher Magen und die Tatsache, dass ihn die ruhelosen Bewegungen des Schiffes schwindeln machten, schienen ihn mehr und mehr zu verärgern, und Valista machte sich allmählich Sorgen um ihn.

    Ein leises Seufzen entglitt ihrer Kehle, derweil Erinnerungen an sonderbare, leicht beunruhigende Ereignisse der vergangenen zwei Wochen in ihr aufkeimten. Fiariol benahm sich in letzter Zeit immer mal wieder eigentümlich, wie sie es von ihm nicht kannte, und manchmal erschien er ihr mitunter fast schon fremd und unvertraut, als wäre er nicht länger ihr Anithin, ihr Seelengefährte. Sie fühlte so etwas wie Unmut tief in ihm lodern, eine schwarze, brodelnde Ahnung von Wut, die langsam anzuschwellen schien wie eine verderbliche Krankheit. Nie zuvor hatte sie solche Empfindungen, solch störende Melodien in ihm wahrgenommen, selbst nicht an jenen bitteren, kummervollen Tagen nach den grausamen Überfällen der Orks.

    Es war nun nicht so, dass dieser schwelende Anflug von Zorn jemals aufgeflammt wäre und ihn zu unberechenbarem, aufbrausendem Verhalten verleitet hätte; viel mehr schien diese erahnbare Verdrossenheit ihn langsam aufzuzehren und sein Innerstes zu zersetzen gleich einem ätzenden Gift. Der einst so reine, wunderschöne und warme Klang seines Seelenliedes, seines Nalaneya, hatte in den letzten Tagen eine düstere, verstörende Nuance angenommen, als hätte sich etwas Unnatürliches und Falsches in seinen Geist gestohlen. Diese zwar nur sporadisch aufblitzenden leisen, in ihrer düsteren Fremdartigkeit aber unverkennbar deutlichen Misstöne erfüllten Valista mit grossem Unbehagen, befürchtete sie doch, dass sich sein Zustand noch verschlechtern und sein Wesen zunehmend entarten könnte, bis von ihrem Dahaliorin nichts mehr übrig sein würde.

    Diese Vorstellung schreckte die Aldani zutiefst, liess sie bangen und Kummer leiden. Sie verstand nicht, was mit ihrem Anithin geschah, konnte nicht nachvollziehen, was dieses unbekannte, kaum greifbare und andersartige Leiden verursachte, ob es nur ein vorüberziehender Schatten war, der bald wieder verwehte, oder etwas, das Rückstände in seiner Seele hinterliess oder gar blieb und ihn veränderte, wie sie es nicht wünschte und in einer Weise, die sie sich nicht auszumalen wagte. O ihr Holden, erweist ihm und mir Gnade und lasst nicht zu, dass dieses Dunkel ihn auffrisst und von mir entfremdet, bat sie stumm in das Licht am Himmel auf. Ich könnte es nicht ertragen, wenn er in diesem Schatten vergehen würde. Ich brauche ihn, mehr denn je zuvor.

    In letzter Zeit und nicht erst hier auf dem Schiff, so schien es ihr zumindest, gebärdete sich ihr Liebster zuweilen beinahe verschlossen und unnahbar, und manchmal wirkte er auf sie wie ein eingesperrtes, ruheloses Raubtier, ein grimmiger Wolf, der drohend seine Zähne fletschte, wenn man sich ihm näherte. Hinter seinen klaren hellen Augen, prächtig anzuschauen wie ein sonniger Frühlingshimmel über dem Nandari-See, schien manchmal ein finsterer Schleier zu wallen, der ihr Angst machte. In jenen seltenen, doch erschreckenden Momenten, erkannte sie Fiaiol nicht wieder, und kaltes Grauen liess sie erschaudern, wenn er sie dann ansah.

    Oft hatte sie versucht, diesem Dunkel auf den Grund zu gehen, indem sie ihn bat, sich ihr zu öffnen und sein Leiden mit ihr zu teilen. Doch ihm schien dies zu widerstreben, und mehr als einmal hatte er sich ihr verweigert, als ob er diesen schwarzen Makel vor ihr zu verheimlichen suchte. Nie zuvor hatten sie Geheimnisse voreinander gehabt, sich gegenseitig jeden Gedanken, jedes noch so winzige Gefühl anvertraut, wie es sich für Anithaen gehörte, doch diesen finsteren Ärger wollte er für sich behalten, und Valista verzweifelte beinahe ob seiner brütenden Verschwiegenheit.

    Die Aldani schreckte aus ihren unliebsamen Überlegungen auf, als einer der grossgewachsenen Lokirer sie auf einmal beinahe umstiess, indem er seinen grobschlächtigen Körper unsanft an ihr vorbeizwängte. Er brummte etwas in der archaischen Sprache seines Volkes, das sich in Valistas Ohren nicht eben freundlich anhörte, und stieg durch den Eingang ins Innere des Schiffes hinunter. Die zierliche Aldani wich ihm schüchtern aus und trat aufs Deck hinaus in den goldenen Sonnenschein des milden Wintertages.

    Blinzelnd stand sie da, den pelzgefütterten Umhang um die eingezogenen Schultern gewickelt, und auf eine seltsame Art und Weise fühlte sie sich schutzlos den Blicken der ihr unbekannten Mannschaft ausgesetzt. Wie ein gehetztes Feh sah sie sich hastig in alle Richtungen um, als erwartete sie, dass einer der Hünen wie ein hungriges Raubtier oder ein blutrünstiger Unhold über sie herfallen würde. Doch nach und nach wurde ihr bewusst, dass kaum jemand an Deck auch nur besondere Notiz von ihr genommen hatte. Die Besatzung war beschäftigt und kümmerte sich wenig um eine kleine silberhaarige Waldelfe.

    Ich bin hier sicher, rief sich Valista im Stillen in Erinnerung, um ihr pochendes Herz zu beruhigen. Mir droht auf diesem Schiff keine Gefahr. Ich bin hier Gast, und werde geduldet, zumindest von den meisten dieser grossen, ungeschlachten, nicht selten sehr lauten Südmenschen.

    Allmählich gewann Valista ein wenig Zutrauen und liess ihren Blick gemächlicher über das Schiff wandern, um das Geschehen an Deck in Augenschein zu nehmen. Sie beobachtete verwundert, wie die Besatzungsmitglieder, allesamt raue, kräftige Männer und Frauen, die vom harten, arbeitsamen Leben auf See und dem unberechenbaren Wetter gezeichnet waren, ihrem merkwürdigen Handwerk nachgingen, um das Schiff auf Kurs und in Fahrt zu halten. Das meiste von dem, was sie verrichteten, verstand Valista nicht, daher widmete sie sich alsbald lieber dem ewigen und meist harmonischen, wenn auch ungestümen Spiel von Wasser und Wind.

    Seitdem sie in Anacca an Bord gekommen war, hatte sich die Elfe nicht mehr ins Freie gewagt, sich bislang während der ganzen Fahrt in ihrer winzigen Kammer im Zwischendeck verkrochen. Nun stand sie endlich wieder unter offenem Himmel und genoss die sanften Berührungen der Natur, liess den salzigen Wind durch ihr schulterlanges, seidenfeines Haar streichen und sich von den angenehmen Strahlen der Sonne wärmen. Sie schloss seufzend die Augen, wandte das Gesicht gen Himmel und schwelgte in den ihr fremden, doch faszinierend schönen und berauschenden Weisen dieser weiten Wasserlandschaft.

    Auf einmal erspürte Valista die vertraute Nähe eines anderen Aldanoi, hörte die traurigen, zarten, zaghaften Melodien seines Nalaneya in ihrem Inneren erklingen, so bewegend und wunderschön, dass ihr eine einzelne Träne über die alabsterne Wange rann. Sie schlug die Augen auf und drehte sich langsam zu ihrem Besucher herum, der sich auf weichen Sohlen angeschlichen hatte.

    Dobin verharrte schweigend in einigem Abstand zu ihr, den Blick schüchtern auf seine Stiefelspitzen gerichtet, das schmale, weiche, von der Sonne Silems gebräunte Gesicht leicht gerötet. Er umklammerte einen dampfenden Holzbecher mit den zierlichen Händen, und als er bemerkte, dass Valista sich ihm zuwandte, hielt er ihn ihr hin. Nur ganz kurz schaute er dabei zu ihr auf und liess ein zittriges Lächeln aufblitzen.

    „F-für dich. M-möchtest du von m-meinem Kräutertee k-kosten?, stammelte er leise in der klangvollen Elfensprache. „I-ich habe ihn eben erst a-aufgebrüht.

    „Ja, das möchte ich gerne. Valista bedachte den kleinen Dallano mit einem herzlichen Lächeln und nahm den Becher entgegen. „Ein warmes Getränk wird meinem gepeinigten Magen sicherlich wohl bekommen. Sie schnupperte an dem dampfenden Aufguss und sog den herben Duft tief in sich auf. Anschliessend führte sie das Gefäss an ihre Lippen und nippte. „Er ist wirklich sehr köstlich. Hab vielen Dank, Darain."

    Dobin grinste erfreut über das Lob und ihre freundlichen Worte und sah sie für einen kurzen Moment aus strahlenden braunen Augen an. Dann starrte er wieder auf die Planken des Decks hinunter, und seine Wangen färbten sich in einem zarten Rot.

    Eine Weile lang standen beide still beieinander, und keiner sprach ein Wort. Dobin hatte seine Hände hinter dem Rücken verschränkt und trat unruhig von einem Bein aufs andere. Valista rührte sich kaum, blies nur gelegentlich über den Teebecher und trank hin und wieder einen kleinen Schluck.

    „Es war lieb von dir, mich mit dieser wohlschmeckenden Gabe zu überraschen", brach die Waldelfe schliesslich das betretene Schweigen und schmunzelte in Dobins Richtung.

    Der Wiesenelf räusperte sich verlegen und grinste. „N-nun, ich… äh… ich habe d-dich vom Bug des Schiffes aus gesehen, wie… wie du an Deck ge-gekommen bist. M-mir schien, du standest e-etwas verloren herum, als ob du nicht wüsstest, w-wohin du dich h-hinwenden solltest, u-und da habe ich b-bei mir gedacht, ich bringe dir einen B-becher Tee, um d-dir eine k-kleine Freude z-zu bereiten."

    Valista streckte eine blasse Hand nach ihm aus und berührte ihn an der knochigen Schulter. „Das hast du in der Tat. Ich weiss deine Fürsorge zu schätzen, Darain, meinte sie mit einem milden Lächeln. „Wahrlich, ich fühlte mich ein wenig Fehl am Platze, als ich ins Freie stolperte. In dieser Hinsicht trügte dich dein Auge nicht. Ich muss gestehen, dass ich mich nie zuvor an Bord eines Schiffes aufgehalten habe. Mein Leben lang bin ich durch die üppigen Wälder der Insel Solanithra gestreift, stets umgeben und behütet von uralten Bäumen und einem Dickicht aus Büschen, Sträuchern, Blumen und lebendigem Grün. Nur dreimal während all der Zeit habe ich mich bis an den Rand des Waldes geschlichen, um die Küste und das Meer durch das Laub hindurch zu betrachten. Näher bin ich dem weiten Wasser nie gekommen, barg es doch stets eine geheimnisvolle, schwer verständliche Schönheit, die mir Ehrfurcht und ab und an einen leisen Schauer abverlangte. Mir ist das alles noch sehr fremd, die Weite des Ozeans, die ruhelosen, tiefen, kraftvollen und tosenden Klänge der Wellen, der offene Himmel, das ewige Schaukeln des Decks. Ich weiss noch nicht, ob es mir behagt. Ich empfinde Angst, Neugierde, Unbehagen und Freude zugleich. Ich bin erstaunt, dass dir dies alles nicht solche Mühe bereitet wie mir.

    Dobin gab ein Seufzen von sich, und ein dunkler Schleier schien über sein glattes Gesicht zu streichen. „Nun, für m-mich ist es nicht das erste Mal, dass ich auf einem Schiff stehe, flüsterte er, und in seiner Stimme schwang tiefe Traurigkeit mit. „A-als ich noch sehr klein war, s-sind böse, grausame Menschen in Aldana eingefallen u-und haben ohne Grund meine Sippe angegriffen, die nahe der Küste in einer kleinen Siedlung lebte. D-die Räuber haben das g-gesamte Dorf niedergebrannt, viele meiner Verwandten getötet und mich und m-meine Schwester und noch einige a-andere verschleppt und an Bord ihres grossen schwarzen Schiffes gezwungen, w-wo sie uns unter Deck mit schwerem, kaltem Eisen an die Wand gekettet haben. Eine Ewigkeit schienen wir d-dort in Gefangenschaft zu hocken, eingepfercht w-wie Tiere, während die Unholde über d-das Meer fuhren und uns v-von der lieblichen Pracht Aldanas fortrissen. Tränen glitzerten nun in seinen grossen, dunklen Augen. „I-ich hatte schreckliche Angst, habe lange geweint u-und wurde dann sehr krank. Meiner Schwester und den a-anderen erging es nicht b-besser, doch das k-kümmerte diese hartherzigen Männer und üblen Frauen nicht. Sie haben nur g-gelacht und gespottet und einigen von u-uns haben sie nur aus Spass sehr weh getan." Seine Stimme brach und ein Schluchzen entrang sich seiner Kehle. Er bedeckte sein Gesicht mit einer Hand und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen.

    Valista konnte seinen Schmerz, seinen heftigen Kummer deutlich fühlen, und die Intensität seiner Empfindungen drohte sie zu überwältigen, so dass auch sie beinahe zu weinen anfing. Sie hatte bereits gewusst, dass Dobin durch die Grausamkeit der Menschen grosses Leid hatte erfahren müssen, doch die Einzelheiten seiner traurigen Geschichte waren ihr bislang nicht geläufig gewesen. Mehr durch seine hemmungslosen Gefühlsregungen, die ihr wie lodernde Feuerzungen entgegenschlugen, denn durch seine Worte, gewann sie nun aber einen lebendigen Eindruck von den schrecklichen Ereignissen seiner Vergangenheit, den Nöten, dem Grauen und dem Elend, die er durchstanden hatte, und was sie zu spüren bekam, war fast mehr als sie ertragen konnte.

    Entsetzt und tief bekümmert ob seiner Erfahrungen schloss Valista den Dallano in ihre Arme, um ihm solcherart Trost zukommen zu lassen. Obschon sie ihn erst seit kurzer Zeit kannte, empfand die Waldelfe bereits sehr viel für den schüchternen, liebenswerten Wiesenelf, als wäre er ein lange verschollenes Sippenmitglied, welches endlich wiedergekehrt war. Sie konnte einfach nicht verkraften, ihn leiden zu sehen, und bemühte sich nach bestem Ermessen, seinen Schmerz, den er seit langem in sich trug, zu lindern.

    Leise summte sie ihm ein Lied in die Ohren, das ihre Mutter ihr stets vorgesungen hatte, wenn sie als Kind unglücklich gewesen war. Ihr hatte diese zarte Melodie stets Erleichterung gespendet, sie aufgemuntert und ihren Kummer vertrieben. Sie hoffte schwer, dass auch Dobin sich davon umgarnen und durchdringen liess und daraus Hoffnung und Frieden schöpfen konnte.

    Nach allem, was ihm durch solch abscheuliche Menschen widerfahren ist, hat er ein wenig Ermunterung, Anteilnahme und Heilung verdient, sagte sie sich und liess ganz natürlich ein wenig Magie in ihre Stimme und das Lied fliessen, dass sie ihm im Vertrauen ins Ohr summte.

    Nach einer Weile spürte Valista, wie seine Seelenqualen langsam abklangen und die Wunden in seinem Innersten sich wieder schlossen. Die grauenhaften Erinnerungen an seine Entführung und seinen Leidensweg, die ihn überschwemmt hatten, verblassten und versanken in den dunklen Winkeln seines Verstandes, wo sie ihn – zumindest für den Moment – nicht länger peinigen konnten.

    Hastig, fast schon verschreckt, löste sich Dobin aus ihrer Umarmung und wich einen Schitt zurück. Er schniefte und wischte sich die Feuchtigkeit von den Wangen, zugleich aber errötete er wieder und trat unruhig von einem Fuss auf den anderen. Valista konnte seine Verlegenheit deutlich fühlen. Er schien sich für seinen Ausbruch zu schämen.

    „T-tut mir l-leid… i-ich… ich…", murmelte er leise und getraute sich nicht, Valista anzusehen.

    „Du brauchst mich nicht um Verzeihung zu ersuchen, Freund Dobin, denn du hast keine Schuld auf dich geladen, erwiderte sie sanft und einfühlsam. „Dir ist Schreckliches zugestossen in deinem jungen Leben, und dass du überhaupt noch fähig bist, zu lächeln und ein freundliches Wesen zu bewahren, ist eine grosse Leistung, die Anerkennung verdient. Ich wüsste nicht, ob ich all dieses Leid hätte erdulden können, wäre ich an deiner Stelle gewesen. Vermutlich wäre ich daran zerbrochen, doch du bist stärker, und das ist gut so. Ich bewundere dich, Dobin, das tue ich wirklich, und das Grauen deiner Vergangenheit macht mich traurig. Ich versichere dir, in meiner Gegenwart brauchst du dich niemals für irgendetwas zu schämen. Du kannst mir alles anvertrauen, wenn du das möchtest. Ich bin gern bereit, dir zuzuhören, falls du jemals das Bedürfnis verspürst, über irgendetwas reden zu wollen. Du darfst jeder Zeit zu mir kommen und mich um Rat ersuchen. Ich verspreche dir, das Wenige zu tun, was ich vermag, um dir zu helfen, diese finseren Erinnerungen zu verwinden, auf dass sie dich nie wieder quälen.

    Dobin antwortete nicht sofort, sondern schwieg betreten und betrachtete blinzelnd die Planken unter seinen weichen Stiefeln. Valista brauchte nicht nach seinem Nalaneya zu tasten, um zu wissen, dass ihn nach wie vor grosse Zweifel und Ängste erfüllten und er sich scheute, sich ihr gänzlich und ungezwungen zu öffnen. Beinahe sein ganzes Leben lang hat er unter groben, abgestumpften und unempfänglichen Menschen zugebracht, die wenig mit der starken Leidenschaft und der blühenden Gefühlswelt eines Aldanoi anzufangen wissen, machte sich Valista bewusst, während sie den jungen Dallano studierte. Sie verstehen nicht, wie viel mehr ein Elf wahrzunehmen, zu spüren und zu erfahren imstande ist, wie innig er mit seinen Nächsten und seiner Umwelt in Verbindung steht, mit allem, was lebt und atmet und gedeiht. Ihre eigene Empfindungsgabe nimmt sich im Vergleich dazu trostlos, schwach und schal aus, was nur zu bedauern ist. All die langen Jahre hatte Dobin sich unter ihresgleichen, in ihrer hektischen, brutalen, gnadenlosen Welt, bewegen und darauf achten müssen, nicht zu sehr aufzufallen. Er hatte gelernt, seine Gefühle in seinem Innersten einzuschliessen, sich unauffällig und still zu geben, um sich damit der Wahrnehmung der Menschen zu entziehen, die nur Verachtung, Gehässigkeit und Gewalt für ihn übrig hatten. Mittlerweile hatte er sich so sehr daran gewöhnt, sich in sich selbst zurückzuziehen, dass es ihm schwerfiel, zu seinem Wesen und seinen Gemütsbewegungen zu stehen. Doch ich würde es begrüssen, wenn er Zutrauen zu mir und sich selbst fasste, damit er mit meiner Unterstützung wachsen und endlich zu einem vollwertigen Aldano heranreifen kann, was ihm so lange verwehrt geblieben ist.

    „Ich will dich nicht drängen, mein Guter, sagte sie zu ihm in der klangvollen Sprache ihres Volkes. „Lasse dir Zeit. Ich möchte nur, dass du weisst, dass du in mir eine gute Freundin finden wirst, wenn du jemanden nötig hast, der dir hilft, zu dir selbst zu finden.

    Mit diesen Worten wandte sich Valista behutsam ab und blickte auf das Meer hinaus, durch dessen wogende blaue Einsamkeit ihr Schiff dahinglitt. Noch immer hielt sie den Becher mit Tee in der Hand und nippte daran, Schluck für Schluck. Dabei lauschte sie den vielfältigen Geräuschen um sich herum, dem ewigen Rauschen und Rumoren des Wassers, dem Hauchen des Windes, der sich im gestreiften Segel verfing und es blähte, dem Knarren des Holzes und der gespannten Taue und dem Stimmengewirr, den Rufen und dem Lachen der heiter aufgelegten Mannschaft.

    „D-danke", hörte sie auf einmal Dobin sagen, so leise, dass ein Mensch ihn nicht verstanden hätte. Valista drehte sich wieder zu ihm um.

    „I-ich danke dir, für d-dein grosszügiges Angebot, murmelte er und räusperte sich. „Ich weiss e-es zu schätzen, w-werde es b-bestimmt nicht vergessen und darauf zurückkommen, i-irgendwann… bald. Aber n-nicht heute. Noch n-nicht. Für einen flüchtigen Moment sah er sie an und lächelte dünn, dann flog sein Blick zum Bug der Mardraken hin, wo die junge Zauberin Eila im Schatten des hohen Stevens hockte und in einem ihrer magischen Bücher las, ganz vertieft und selbstvergessen. „I-ich sollte nun zu ihr zurückkehren. Vielleicht braucht sie m-meine Unterstützung. B-bitte entschuldige mich."

    Valista neigte mit einem wohlwollenden Lächeln das Haupt, und Dobin eilte davon. Sie beobachtete ihn dabei, wie er sich flink und mit gesenktem Blick an den grossen Lokirern vorbeistahl, die überall auf dem Deck umherliefen und nicht auf ihn achteten. Schliesslich erreichte er die Stelle, wo die Wüstenprinzessin es sich gemütlich eingerichtet hatte, ohne die Mannschaft in ihrer Arbeit zu stören, liess sich im Schneidersitz neben ihr nieder, um auch sie mit einem Becher Kräutertee zu beschenken.

    Valista wusste um seine Gefühle für das dunkelhaarige Menschenmädchen, solches hatte sie schon sehr früh in den Klängen seines Nalaneya vernommen. Doch noch war sie sich im Ungewissen darüber, ob sie seine Schwärmerei, seine glühende Leidenschaft für Eila gutheissen sollte. Natürlich freute Valista sich für den Dallano, dass er nach all dem Unrecht, das ihm die Menschen angetan hatten, noch fähig war, so etwas Wunderbares wie Liebe zu empfinden. Eila schien seiner Zuneigung durchaus würdig zu sein, verfügte sie doch über ein gutes Herz und ein sanftes, mitfühlendes Gemüt. Auch glaubte Valista zu spüren, dass sie für Dobin ebenfalls Gefühle hegte, auch wenn sie diesen gegenüber etwas unschlüssig zu sein schien und an der Richtigkeit ihrer Empfindungen für ihn zweifelte. Doch am Ende war sie nur ein Mensch und würde niemals eine solch innige Bindung mit Dobin eingehen können, wie es sich für zwei liebende Aldanoi gehörte. Menschen und Elfen vermochten ihre Seelen nicht in süsser Harmonie und vollendeter Liebe zu verschmelzen und zu wahren Anithaen zu werden. Valista aber wünschte sich, dass Dobin dereinst die Möglichkeit gegeben sein würde, eine solch ewigwährende und reine Verbindung zu erfahren.

    Ausserdem war Eila nur ein kurzes Leben gewährt im Vergleich zu ihm, der ein Elf war. Würden sie irgendwann doch zueinander finden und sich gegeseitig ihre Liebe gestehen, würde Dobin danach zusehen müssen, wie sie vor seinen Augen alterte und verwelkte, während er nur langsam von den Jahren berührt werden würde. Noch war sie jung, doch das würde sich bald ändern. Und wenn sie dann in fünfzig, sechzig oder siebzig Jahren verschied, während er noch jung war, könnte ihm dies nur wieder grossen Kummer bescheren, der ihn für weitere Jahrhunderte begleiten würde, was Valista ihm nicht wünschte.

    Vorerst aber wollte sich die Waldelfe nicht in das zarte Glück ihres entfernten Verwandten einmischen und seine Hoffnungen und Schwärmereien mit ihren Bedenken vergällen. Soll er sich an der Gegenwart Eilas erfreuen, so lange es währt, das hat er sich wahrlich verdient, sagte sich Valista. Ich will ihm nicht schlechten Rat erteilen, solange ich selbst nur wenig über ihr genaues Verhältnis zueinander weiss. Womöglich wird er mit Eila für die Dauer einiger Jahrzehnte mehr Glückseligkeit finden und erfahren als mit einer Aldani, und dann will ich ihm dieses nicht vorenthalten.

    Sie erinnerte sich in diesem Zusammenhang an die bittersüsse Legende von Almariel und Baruon, einer Elfin, die sich in einen menschlichen Helden verliebte. Ihre Liebe war stark und wundervoll, auch wenn sie nur für kurze Zeit währte. Noch lange nach seinem Verscheiden gedachte Almariel ihrer gemeinsamen Jahre nur mit grosser Freude, und bis zu ihrem Tod viele Jahrzehnte später bereute sie es niemals, Baruon zu ihrem Gemahl erwählt zu haben. Vielleicht wird es Dobin ähnlich ergehen. Und welches Recht habe ich, mir anzumassen, über die Herzensangelegenheiten anderer Urteile fällen zu wollen?

    Valista schlich an die Reling des Schiffes heran, zog mit einer Hand den Umhang enger um die Schultern, um sich vor der Kälte des Windes zu schützen, und führte mit der anderen den Teebecher erneut an ihre Lippen. Abermals sah sie sich auf der Mardraken um, verfolgte stillschweigend das Geschehen an Deck.

    Mittlerweile, so erkannte sie, hatten sich neben Eila, Dobin und ihr selbst auch einige andere ihrer Gefährten ins Freie begeben. Sie beobachtete die drei riesigen Minotauren dabei, wie sie seelenruhig den Mittelgang zwischen den Ruderbänken entlangschritten. Die beiden Brüder unterhielten sich in ihrer dunklen, rauen Sprache mit Stimmen so tief und kehlig wie das Röhren grosser Sonnenhirsche. Tearsdoor schwieg und blickte zu Eila hin, wobei ein freudiges Lächeln ihre noch immer etwas ausgemergelten und traurigen Züge erhellte.

    Auffällig war, dass die sonst stets selbstbewusst und hartgesotten wirkenden Lokirer in der Gegenwart der Stiermenschen auf einmal etwas verhalten und vorsichtig agierten und sorgfältig darauf achteten, nicht die Aufmerksamkeit der Kolosse zu erregen, die sogar die wuchtigsten Südmänner an Wuchs und Masse bei weitem übertrafen. Selbst solche rauen Gesellen fürchteten sich offenbar vor dem schaurigen und schrecklichen Ruf der Minotauren, und Valista wollte ihnen dies keineswegs verübeln. Die gehörnten Ungetüme mit ihren muskelgestählten Körpern, ihren furchterregenden Waffen und den tosenden, rohen Seelenliedern bereiteten ihr noch immer Unbehagen, zumal sie ihr Wesen als wild, dunkel, ungeschlacht und brutal einschätzte. Sie muteten kaum besser an als die hässlichen stählernen Horden der Orks, die mordend und brandschatzend über ihre Heimat hergefallen waren und soviel Leid und Unheil gestiftet hatten.

    Als Valista den Blick weiter über die Planken wandern liess, entdeckte sie auch Torias Alfaran, der allein und mit auf dem Rücken verschränkten Händen am geschnitzten Dollbord des erhöhten Achterdecks stand und starr aufs weite Meer hinausspähte, versunken in Gedanken. Sein gleichmütiges Gesicht liess wie stets keinerlei Schlüsse zu, wie es um seine Gemütsverfassung stand, und auch aus den vielschichtigen Klängen seines Nalaneya vermochte Valista keinerlei Erkenntnisse zu gewinnen, denn der Paladin verstand es wie kein anderer, dem sie je begegnet war, seine Gefühlswelt zu jeder Zeit gänzlich im Zaum zu halten. Dennoch vermutete die Aldani, dass er über düsteren Angelegenheiten brütete.

    Auch der Kapitän der Mardraken befand sich auf der Plattform des Heckaufbaus und hielt das reich mit Schnitzwerk verzierte, schwere Steuerruder. Er war der grösste Mensch, den Valista je erblickt hatte – ein bärtiger Riese mit breiten Schultern, mächtiger Brust und einem Bauchansatz – und neben ihm wirkte selbst Acrinolas fast schon wie ein schmächtiger Knabe. Breitbeinig stand er da, den dicken Ruderbalken lässig unter einen haarigen Arm geklemmt, in der freien Pranke ein geschwungenes Trinkhorn, das er immer wieder anhob, um einen kräftigen Zug daraus zu nehmen.

    Die Waldelfe hatte den Mann bislang erst einmal gesehen, am frühen Morgen, als sie in Anacca an Bord gestiegen waren. Dafür aber hatte sie ihn in den vergangenen Tagen sehr oft zu hören bekommen. Er besass eine volltönende, wuchtige Reibeisenstimme und pflegte häufig aus voller Kehle zu brüllen oder schallend zu lachen, dass Valista darob stets vor Schreck zusammenzuckte. Selbst wenn er einmal nicht seine Mannschaft über die ganze Länge des Schiffes hinweg anschrie oder über einen albernen Scherz grölte, sprach er sehr laut, und Valista begann sich zu fragen, ob er überhaupt imstande war, seine Stimme zu einem Flüstern herabzusenken oder sich auch nur in angenehmer Tonlage zu unterhalten.

    Noch während die Aldani den struppigen Kapitän aus der Ferne beäugte und ihn einzuschätzen versuchte, schlüpfte Jendara mit raubtierhafter Eleganz aus den Schatten des Türeingangs und bewegte sich auf ihren langen Beinen sicher über das schlingernde Deck auf Valista zu. Ein zartes Lächeln kräuselte ihre Lippen und verlieh ihrem ebenmässigen, durchaus feingezeichneten, doch meist von harten Linien geprägten Gesicht eine freundliche Note, derweil ihre blauvioletten Augen im Licht des klaren Tages funkelten.

    „Es erfreut mein Herz, dich munter und wohlgemut hier oben anzutreffen, Daraiel, begrüsste die hochgewachsene, dunkelhaarige Wiesenelfe ihre Base aus den Wäldern. Sie sprach auf Aldarin, der klangvollen Sprache ihres alten Volkes. „Ich hatte schon angefangen, mir Sorgen um dich zu machen.

    Valista strich sich das silberweisse Haar aus dem alabasternen Gesicht zurück und lächelte scheu. „Ich bin dir wahrlich dankbar für deine Fürsorge, doch kenne ich keinen Grund, weshalb du um mich bangen müsstest. Die Auswirkungen der Grünkrankheit sind fast gänzlich abgeklungen, und ich habe mich inzwischen halbwegs an die Gegebenheiten an Bord des Schiffes gewöhnt. Ich fühle mich wohl – soweit mir dies, fern von Aldanas lebhaftem, nährendem Segen, möglich ist."

    Jendara musterte sie einen Moment lang schweigend, und ihre Züge wurden wieder ernster. Valista empfand ihren eindringlichen Blick als ein wenig unangenehm, doch sie sagte nichts.

    „Das ist gut, meinte die Dallani schliesslich und lehnte sich an die Bordwand. „Es scheint, meine Befürchtungen waren in der Tat unnötig.

    Valista runzelte verwundert die Stirn. „Gab ich dir denn Anlass, dich um mich zu sorgen?"

    Jendara sah sie von der Seite her an und zuckte mit den Schultern. „Ich hatte angenommen, dass es dir grosse Schwierigkeiten bereitete, dich in der Welt der Menschen zurechtzufinden. Mich deuchte, der Aufenthalt in Anacca wäre dir nicht gut bekommen, und eine Seereise auf einem lokirischen Handelsschiff schien mir eher ein schlechter Ausgleich für die erduldete Mühsal zu sein. Doch ich habe mich wohl geirrt."

    „Nun, mit deiner Einschätzung liegts du nicht ganz falsch, Daraiel, räumte Valista kleinlaut ein und seufzte. „In der Menschenstadt habe ich mich durchaus schwer getan, auch wenn ich mich bemühte, es zu verbergen. All das unstete, fiebrige Treiben auf einem dermassen beengten Raum, umgeben nur von totem Holz und aufgeschichteten Steinen, Lehm und Schmutz hat mir schon zugesetzt. Ich sehnte mich Tag für Tag stärker nach der wärmenden Obhut eines blühenden Waldes und der harmonischen Ruhe lebendiger Natur. Stattdessen fühlte und vernahm ich immerzu nur diesen rauen, ewig brodelnden Missklang unzufriedener, ruheloser und stumpfer Seelen. Es hat mir nicht gefallen, und am liebsten wäre ich geflohen, zurück in die verschneiten, schlummernden Haine des Umlandes, weg aus diesem trostlosen, lärmigen Chaos.

    „Mir erging es zu Anfang nicht anders, merkte Jendara an, und ein feines Schmunzeln schlich um ihren Mund. „Ich hielt es niemals länger als ein paar Tage in den überfüllten, hektischen Städten der Menschen aus, floh jedesmal aus ihren umfriedeten Siedlungen, um mich in der vertrauten Einsamkeit der Natur von der verwirrenden Flut an andersartigen Klängen und fremder Stimmungen zu erholen. Ich brauchte viele Jahre, bis ich es ertrug, durch die Dickichte aus Gebäuden zu schreiten, über ihre steinernen Strassen zu gehen und in ihren toten Häusern zu schlafen. Ich lernte, das Gehetze und das Gedränge zu ertragen, mit dem Lärm, dem Gestank und dem rastlosen, abgestumpften Durcheinander umzugehen. Irgendwann wirst auch du dich daran gewöhnen, und dann wirst du merken, dass es letzten Endes nicht so grauenvoll und erschreckend ist, wie es dir jetzt noch erscheinen mag.

    Valista blickte Jendara an, und ein Anflug von Kummer wehte über ihre weichen Züge. „Und was ist, wenn ich das nicht möchte?" hauchte sie und fröstelte in ihrem Umhang.

    Jendaras Stirn legte sich in feine Falten. „Was meinst du damit?"

    Wieder entliess Valista ihren Atem geräuschvoll. „Etwas in mir sträubt sich gegen die Vorstellung, mich an die Welt der Menschen zu gewöhnen. Ich fürchte mich davor, mich gänzlich auf sie und ihre dumpfe Lebensweise einzulassen, weil ich dann etwas von mir verlieren würde, das mir viel bedeutet und das ich womöglich nie mehr zurückerlangen kann. Ich will das nicht. Ich möchte nicht…", begann sie und stockte auf einmal. Ich möchte nicht so werden wie du, beendete sie den Satz in Gedanken und floh den Blick ihrer Base aus den weiten Steppen und lichten Auen.

    Obschon sie Jendara Mondschatten durchaus zu schätzen gelernt hatte, verspürte Valista noch immer eine leise Beklommenheit im Beisein der Wiesenelfe. In manchen Belangen ähnelte Jendara mehr einer Menschenfrau denn einer Aldani, und vieles an ihr wirkte eigenartig und befremdend. In ihr wogte eine Dunkelheit, wie sie bei Menschen und anderen Völkern häufig wahrzunehmen war, ein Hauch von roher Gewalttätigkeit, Unmut und abgestumpfter Gleichgültigkeit. Niemals zuvor hatte sie in einer Elfe, einem Abkömmling ihrer Art, diesen dunklen Makel festgestellt, und wiewohl er in Jendara nur schwach ausgeprägt war, bereitete sein blosses Vorhandensein Valista kalte Schauder, verfälschte er doch immer wieder den Klang von Jendaras Nalaneya.

    «Ich verstehe", erwiderte Jendara leise und bedachte Valista mit einem eigentümlichen Blick, der die Waldelfe glauben machte, sie wisse über ihre Gedanken Bescheid. „Du fürchtest dich davor, deine elfische Unschuld einzubüssen, wenn du zu innigen Umgang mit den Menschen pflegst, die dir verdorben, grob und herzlos erscheinen. Du möchtest dich nicht von ihnen und ihren unsensiblen Ansichten beeinflussen oder gar vereinnahmen lassen. Das kann ich durchaus nachvollziehen. Doch ein gewisser Wandel deines Wesens lässt sich leider nicht vermeiden.»

    Valista starrte Jendara erschrocken an, und ein neuerlicher kalter Schauder rann ihr über den Rücken und liess sie erblassen. „Dann muss ich damit rechnen, dass meine Sinne früher oder später ertauben und mein Herz sich verhärtet, bis ich nicht länger fähig bin, mein Umfeld zu erspüren und blind werde für die Schönheit der Welt?"

    Die dunkelhaarige Wiesenelfe lachte leise auf. „Nun, so schlimm wird es gewiss nicht werden, denke ich, beschwichtigte sie erheitert, und Valista vermochte ihren Frohsinn nicht zu begreifen. „Es mag sein, dass deine feine Wahrnehmung sich ein wenig trübt im Laufe der Jahre, und womöglich wird es dir schwerer fallen, die vielfältigen Auren des Lebens zu erfühlen. Doch davor habe ich dich gewarnt, meine Teure. Wenn das Sehnen einsetzt, wird wohl oder übel etwas in dir verkümmern, das nicht wieder gedeiht. Dies ist der Preis, den wir Aldanoi zahlen müssen, wenn die tiefe Bindung zu unserer segensreichen Heimat verdorrt.

    Valista blickte betrübt und bang zur Seite. Ja, das hast du. Du hast Fiariol und mir erklärt, was uns erwarten wird, wenn wir uns eurer Sache verschreiben und dafür unser Zuhause im brutalen Vernichtungszug dieser scheusslichen Orkländer zugrunde gehen lassen. Valista erinnerte sich noch gut an das emotionale und aufwühlende Gespräch an jenem frühen Morgen in Altorosh, als Fiariol und sie versucht hatten, sich heimlich davonzustehlen, während die anderen Gefährten noch schliefen. Vor Jendaras raubtierhafter Wachsamkeit aber waren auch sie nicht gefeit gewesen, obwohl sie es als Waldläufer durchaus verstanden, sich nahezu lautlos zu bewegen. Die Wiesenelfe hatte sie überrascht und sie davon abgehalten, die Gruppe zu verlassen und den weiten, ungewissen und gefährlichen Weg nach Hause anzutreten. Sie hatte ihnen einfühlsam, aber ehrlich ins Gewissen geredet, ihre Ängste und Sorgen zu einem gewissen Teil entkräftet, ihnen Mut zugesprochen und ihre einfältigen Hoffnungen mit schonungslosen Wahrheiten zerschlagen. Valista hatte bitterlich geweint, Fiariol war zornig geworden, doch am Ende hatten beide einsehen müssen, dass Solanithra, ihre geliebte, wunderschöne Heimat dem Untergang geweiht war und es ihnen nicht möglich sein würde, daran etwas zu ändern.

    Diese grausame Erkenntnis nagte noch immer an der jungen Aldani, erfüllte sie mit tiefem Kummer und kalter Angst. Sie fürchtete den Tag, an dem die Sehnsucht einsetzte und sie zu verzehren begann. Jendara hatte ihr mehr als einmal erläutert, welche Auswirkungen dieser langwierige und qualvolle Trennungsvorgang auf ihr seelisches Empfinden und ihre Wesensart haben würde, doch Valista fiel es noch immer schwer, sich damit abzufinden. Und das Wissen, dass sie es nicht würde verhindern können, machte die Vorstellung nur noch entsetzlicher.

    Selbst die Beteuerungen der Wiesenelfe, dass sich am Ende der ganze Wandlungsvorgang als harmloser und nicht so tiefgreifend herausstellen würde, konnten ihr kaum Trost spenden. Jendaras Erfahrungen liessen sich nicht einhellig auf sie oder Fiariol übertragen. Jeder Aldanoi erlebte das Sehnen anders, und am Ende war er nicht mehr derselbe wie vorher, nicht länger vollständig, ein entarteter Elf, gezeichnet von den Fehlern, dem Schmutz und der Gnadenlosigkeit der übrigen Welt. Dass ihr Anithin und sie dazu verurteilt waren, dieses Schicksal zu teilen, belastete Valistas Gemüt schwer, und Jendaras aufmunternde Worte vermochten sie kaum darüber hinweg zu trösten.

    „Nimm den Gedanken nicht so schwer, meine teure Daraiel, flüsterte Jendara ihr sanft zu und griff nach Valistas Hand, um sie zu drücken. Ihre Hand fühlte sich rau und schwielig an, was Valista unwillkürlich leicht erbeben liess. „Du wirst immer eine Aldani bleiben, auch wenn du den Rest deines Lebens unter Menschen verbringen müsstest. Gewisse Dinge werden sich niemals ändern, glaube mir. Jede Erfahrung, die wir in unserem Leben machen, jede Begegnung mit anderen, färbt auf uns ab, lässt unsere Seelenklänge andere Tonarten annehmen, manche mehr, andere kaum. Daran allein ist nichts Schlechtes, denn es hilft uns zu wachsen und zu reifen. Doch in unserem innersten Kern werden wir immer die gleichen bleiben und bewahren, was uns ausmacht.

    Valista bemühte sich, ein Lächeln aufzusetzen, doch ihre Mundwinkel zitterten nur. Sie war dankbar für Jendaras Versuch, ihre Sorgen zu zerstreuen, doch einmal mehr wurde ihr Herz dadurch nicht leichter. Wie kann ich deinen aufmunternden Worten restlos Glauben schenken, wenn deine Seele mir ein anderes Lied singt – ein Klagelied voller Leid, Grauen, Schmerz, Gewalt und tiefer Reue?

    Valistas feinem Sinn entging die Düsternis keineswegs, die Jendaras lichtes Wesen durchwirkte und auf unangenehme Weise verzerrte. Wie Wolken, die sich vor das goldene Antlitz der Sonne schoben, vermochte dieses Dunkel sich über ihr Gemüt zu legen, gleich schwarzen Nebelschwaden hinter ihre Augen zu kriechen und ihre Züge zu entsellen. Es war imstande, ihr eine gefährliche, furchterregende Ausstrahlung zu verleihen, wie sie einer Elfe nicht anstand. Und dass eine solch unnatürliche Dunkelheit auch sie oder Fiariol befallen könnte, bereitete ihr ungeheure Angst. Ich will nicht so werden wie du, sagte sie sich noch einmal in Gedanken, während sie Jendara anzulächeln versuchte.

    Für eine Weile versanken beide Elfen in nachdenkliches Schweigen und sahen auf die weite Wasserfläche hinaus, die sie umschloss. Der Wind wehte weiterhin gleichmässig von Nordosten und füllte das gestreifte Segel, und die Mannschaft der Mardraken ging ihrer Arbeit nach, ohne gross auf die Gäste an Bord zu achten.

    Vielleicht mache ich mir tatsächlich zu viele Gedanken, ging es Valista auf einmal durch den Kopf, derweil sie verträumt die weissschäumende Gischtspur betrachtete, die das Schiff auf seiner Fahrt durch die Wellenwüste hinterliess. Dobin ist ebenfalls ein Aldano, und er verbrachte den grössten Teil seines Lebens unter Menschen und musste unter ihrer Grausamkeit viele Qualen und grosses Elend erdulden. Dennoch verspüre ich in ihm keinerlei Schlechtigkeit und Düsternis. Sein Nalaneya hat sich nicht getrübt und ist erfüllt von lieblicher Sanftheit, wenn auch Trauer, Kummer und Angst es durchwirken.

    Diese Einsicht liess in Valista einen Hoffnungsschimmer aufglühen, an den sie sich klammern konnte, wenn Zweifel und Ängste sie zu erdrücken drohten. Der Anflug von Verderbtheit, der Jendara anhaftete, musste nicht zwangsläufig im Schwinden der innigen Beziehung, die ein Aldanoi mit seinem Heimatland einzugehen pflegte, begründet liegen. Je länger Valista darüber nachsann, desto wahrscheinlicher schien ihr, dass es Jendaras Taten in der Vergangenheit waren, die jenen dunklen Makel in ihrer Seele hinterlassen hatten, und nicht die Auswirkungen der Entfremdung von Aldanas Segen. Dobin selbst war noch ein Kind gewesen, als die schurkischen Seeräuber ihn entführt und als Sklave auf den Märkten der Wüstenmenschen verkauft hatten, und daher war es ihm niemals vergönnt gewesen, eine solch ganzheitliche Bindung mit der ewigblühenden Natur ihrer Heimat aufzubauen. Dennoch hatten all die bitteren Jahrzehnte, die er in der skrupellosen Welt der Menschen verlebt hatte, nicht schlecht auf ihn abgefärbt. Im Gegensatz zu Jendara hatte er sich einen Teil dieser reinen Unbeflecktheit bewahrt, der Valista einen solch grossen Wert zuschrieb. Womöglich würde ihr dies ebenfalls gelingen, selbst wenn Solanithra im Sturm von Krieg und Verwüstung, den die Orks über ihre Heimat brachten, untergehen sollte.

    Trotz der dünnen Zuversicht, die sie eben wiedererlangt hatte, wollte Valista nicht länger über solchen Dingen grübeln, denn sie beschwerten ihr Gemüt nur mit finsteren und eiskalten Schatten. Sie trank weiter von dem würzigen Kräutertee, den Dobin ihr gebracht hatte, und blickte schweigend auf den wogenden Wasserteppich hinaus, der blau und in der Sonne glitzernd sich bis an den Horizont erstreckte, um dort mit dem unendlichen Azur des Himmels zu verschmelzen. Neben ihr spähte Jendara gleichfalls in die Ferne, und Valista glaubte zu erkennen, wie sich das Gesicht der Dallani leicht verhärtete.

    „Was hast du, Daraiel? Siehst du etwas, das uns Ungemach bereiten könnte?", erkundigte sie sich leise bei ihrer entfernten Base aus den weiten Grasebenen.

    „Vielleicht, antwortete Jendara einsilbig, ohne sie anzusehen. „Kannst du jenen fernen Küstenstreifen erkennen, dort im Südwesten am Rande des Horizonts?

    Valista richtete sich auf, kniff die Augen leicht zusammen und spähte in die angegebene Richtung. Im ersten Moment vermochte sie nichts zu erkennen, doch dann machten ihre weitsichtigen Elfenaugen einen dunkelblauen Streifen aus, der zwischen Himmel und Meer zu schweben schien, dünn und vom Dunst der Ferne verwischt. Land, noch über hundert Meilen entfernt. Und auch wenn Valista nicht begreifen konnte, weshalb sie so empfand, erzitterte sie leicht bis in die Grundfesten ihres zarten Seins bei diesem Anblick.

    „Ja, ich kann es sehen, wisperte sie, als hätte sie Angst, ihre Worte könnten grosses Unheil über das Schiff und seine Besatzung heraufbeschwören, wenn sie zu laut spräche. „Was ist das für eine Küste, und warum schaudert mir bei ihrer blossen Betrachtung aus solche Ferne?

    „Wenn ich mich nicht täusche, ist dies das Horn von Brachzarrh, antwortete Jendara dunkel, und ein kalter Glanz erglühte in ihren Augen. „Falls der Wind nicht nachlässt, werden wir innerhalb der nächsten zwei Tage die Küste des Orklandes erreichen.

    Irgendetwas in Valista zog sich bei dieser Aussage krampfhaft zusammen, und ihre Hände begannen zu zittern. „Müssen wir uns davor in Acht nehmen?"

    Jendara richtete ihre blauvioletten, stählernen Augen auf Valista. „Vorsicht ist immer angebracht, wenn sich blutrünstiges, geiferndes Pack aus dem Orkland in der Nähe herumtreibt, sprach sie hart und schloss eine Hand um den hölzernen, mit zierlichen Einlegearbeiten aus Gold geschmückten Griff ihres Schwertes an der Hüfte. „Und wir nähern uns ihrer verruchten und wilden Heimat. Ich hoffe, unser Kapitän weiss, was er tut. Ich selbst würde mich nicht näher an ihre schwarzen Küsten heranwagen. Diese verdorbenen Kreaturen sind seit Jahren in Aufruhr, und ihre stahlverstärkten Kriegsschiffe machen die Gewässer um Sul-Marok unsicher. Nur ein Narr kann hoffen, sich ihrem gnadenlosen Zugriff zu entziehen, wenn er zu nahe an ihren schaurigen Gestaden entlangsegelt.

    Mit diesen Worten wandte sich Jendara ab, steuerte die Treppe an, die zum Achterdeck hinaufführte und liess Valista allein an der Reling stehen, wohl um sich mit dem Paladin auszutauschen. Die Waldelfe starrte derweil den dünnen Küstenstreifen am Horizont an und zog sich den Umhang enger um die Schultern, denn der Wind schien auf einmal frostiger geworden zu sein und biss durch ihre Kleidung als hätte er eiserne Zähne und wuchtige Hauer.

    Kapitel 2

    „Ihr haltet Euer Schwert noch immer zu verkrampft, meinte Joran zu Acrinolas, der atemlos vor ihm stand und sich mit dem Handrücken über die Stirn fuhr. „Ein Schwert ist kein Streitkolben, das habe ich Euch schon zu Beginn unserer Übungsstunde eindringlich nahegelegt. Euer Griff muss entspannt bleiben, keinesfalls lose, sonst schlägt Euch ein versierter Gegner die Klinge im Nu aus der Hand, doch auch nicht zu fest, weil Euch sonst bei einem harten Zusammenprall das Schwert ebenso leicht entgleitet und ihr nicht schnell genug auf Finten reagieren könnt.

    Der grosse Heidenbrucker blickte den nordländischen Ritter lange an und schnaufte schwer. Seine blaugrauen Augen standen weit offen, die feuchtglänzende Stirn war zu verständnislosen Furchen aufgeworfen. Auf seinem breiten, glattwangigen Gesicht wuchs leichte Verzweiflung heran, und sein Mund öffnete und schloss sich, ohne etwas zu äussern.

    Joran schien zu erkennen, dass sein Schüler seinen Erläuterungen nur schwerlich folgen konnte, und ein mildes Lächeln huschte über seine Züge. Er ging auf den blonden Mann zu und hob seine Schwerthand, um es ihm anschaulich vorzuführen.

    „Seht her. Meine Finger umschliessen das Heft, als hielte ich einen zappelnden Vogel in der Hand. Der Griff muss fest genug sein, dass er mir nicht entwischen kann, aber nicht so stark, dass ich ihn zerquetsche. Auf diese Art vermag ich die Klinge leichter zu führen, sie zu lenken, ohne grosse Kraftanstrengung. Der Ritter schwang seine stumpfe, leicht angerostete Übungswaffe geschmeidig durch die Luft, vollführte einige Bewegungen und Wirbel. „Könnt Ihr mir folgen, mein Freund?

    Acrinolas beobachtete ihn eingehend, folgte seinen Bewegungen sehr genau und runzelte die Stirn. Schliesslich nickte er. „Ja, ich denke, ich habe es nun verstanden", sagte er schleppend, machte dabei jedoch einen wenig überzeugten Eindruck.

    „Gut, dann wollen wir es sogleich noch einmal versuchen, mein Freund. Hebt Euer Schwert auf und nehmt Kampfhaltung an, wenn ich bitten darf!"

    Acrinolas stampfte über das Deck und bückte sich nach seinem Übungsschwert, das ihm heute bereits zum ungefähr zwanzigsten Mal aus der Hand geglitten war. Er hob es auf, schloss seine riesige Faust ganz vorsichtig um den mit abgewetzem Leder umwickelten Griff und stellte sich seinem Lehrer.

    Joran hatte indes auf der freien Fläche zwischen den Ruderbänken und dem Heckaufbau abermals Stellung bezogen und wartete geduldig auf seinen Schüler. „Achtet darauf, dass Eure Schwerthand sich nicht versteift, rief er dem bäurischen Mann zu. „Ihr seid zweifellos viel stärker als ich, doch Eure Kraft alleine bringt Euch keinerlei Vorteile, wenn es Euch an den notwendigen Fertigkeiten mangelt. Im Schwertkampf sind Gewandheit und Technik wichtiger als pure Kraft. Das Schwert ist eine elegantere, vielschichtigere Waffe, nicht so plump und roh wie eine Axt oder ein Knüppel. Es ist eher ein Werkzeug der Kunst, einer blutigen und tödlichen Kunst zwar, dennoch weitaus virtuoser zu handhaben.

    Acrinolas nickte bestimmt und mit konzentriertem Gesicht. „Ja, ich weiss, das hat mir Euer Freund und Landsmann schon gestern gesagt, als er mich unterrichtete."

    „Wenn dem so ist, dann nehmt Haltung ein", forderte Joran seinen Schüler auf und musterte ihn dabei kritisch, wie er sich in kämpferischer Pose hinstellte. Das Ergebnis rief beim Ritter ein leichtes Kopfschütteln hervor.

    „Achtet auf Eure Beine, mein Guter. Ihr müsst leicht in die Knie gehen, damit Ihr zugleich einen festen Stand einnehmen und trotzdem beweglich bleiben könnt."

    „Ich habe meine Knie gebeugt", protestierte Acrinolas, das breite Kinn leicht vorgereckt.

    „Ein wenig mehr, so wie ich. Nein, jetzt seht Ihr aus, als hättet Ihr Euch in die Hosen gemacht. Ja, so ist es besser. Jetzt, hebt das Schwert. Ein wenig höher. So ist es gut. Und nun richtet Euren Blick auf mich. Lasst mich niemals aus den Augen, nicht für einen flüchtigen Moment, sonst werde ich Euch überwältigen. Ich bin schneller als Ihr, gewandter, leichtfüssiger. Lasst Euch nicht von dem ablenken, was sonst noch um Euch herum auf dem Schiff geschieht. Ich bin Euer Gegner, und nur ich allein zähle. Habt Ihr das verstanden? Gut. In einem wahren Kampf nämlich dürft Ihr Euch keine Fehler erlauben und niemals unaufmerksam sein, sonst ist es schnell um Euch geschehen, und das wäre bedauerlich."

    Acrinolas nickte, und ein grimmiger, gesammelter Ausdruck nahm seine üblicherweise gutmütigen, erstaunlich sanften Züge ein. „Ich bin bereit", brummte er.

    „Rechts oben, warnte Joran vor, ehe er den Angriff in fast schon beiläufiger Manier ausführte. Acrinolas riss sein Schwert nach oben und wehrte den Hieb ab. „Links unten. Wieder brachte der Heidenbrucker seine stumpfe Klinge zwischen sich und die heranfahrende Schneide des Ritters. Und dieserart fuhren sie fort mit ihrem Schwerttanz. „Linker Streich. Rechter Schwinger. Links unten. Rechts unten. Rechts oben. Linke Mitte."

    Im klirrenden Takt der aufeinanderschlagenden Klingen, bewegten sich die beiden unterschiedlichen Männer über das Deck. Joran führte die Angriffe und liess seinen Gegner jedesmal wissen, wo er seinen nächsten Hieb landen wollte, damit dieser sich darauf einstellen konnte, und Acrinolas bemühte sich herzhaft, jeden Hieb rechtzeitig und gekonnt zu parieren.

    Torias Alfaran lehnte mit dem Rücken an der Steuerbordreling, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und verfolgte gespannt die Übungen seiner Gefährten. Sein geschulter Blick erkannte jeden kleinen Fehler, den der blonde Kraftprotz beging, während er sich abmühte, die vom Ritter locker geführten Streiche abzuwehren. Auf der anderen Seite aber vermochte der Paladin auch erste Anzeichen von Fortschritt im Kampfverhalten des Heidenbruckers auszumachen, und diese winzigen Erfolge stimmten ihn zufrieden.

    Mit kleinen Schritten vermag selbst der höchste Berg erklommen zu werden, erinnerte sich der Paladin mit einem hauchzarten Lächeln an die Worte der greisen Jila Orsis, seiner Tutorin, die ihn an der Paladinschule zu Isistarid in die Geheimnisse der Magie eingeführt hatte. Seine Gedanken verweilten noch für ein paar Momente in den Erinnerungen an diese gutherzige, weise Frau, die vor bald einmal zwanzig Jahren gestorben war, ehe er sich wieder der Beobachtung des Übungskampfes auf dem Hauptdeck widmete.

    Vorgestern im Verlaufe des Nachmittags hatten die Sepharier begonnen, Acrinolas im Umgang mit dem Schwert zu schulen. Malik, der noch nicht vollständig von den Verletzungen genesen war, die ihm beim Überfall auf den Wagenzug zugeführt worden waren, hatte die ersten grundlegenden Lektionen übernommen und dem breitschultrigen Burschen das Schwert und seine Besonderheiten behutsam und geduldig nähergebracht und ihn sachte in den Unterricht eingeführt, indem er ihn Körperhaltung, Griff und erste Bewegungsabläufe gelehrt hatte.

    Am gestrigen Tage hatte Torac die Trockenübungen fortgesetzt und erweitert, ihn für mehr als zwei Stunden Hiebe gegen unsichtbare Gegner ausführen lassen und ihm verschiedene Paraden beigebracht. Am Ende hatte der Himmelsritter sich ein Übungsschwert gegriffen und unter den belustigten Blicken der halben Besatzung einen ersten vorsichtigen und verhaltenen Schlagabtausch durchgeführt.

    Torias, der auch gestern schon die Übungen in Augenschein genommen hatte, befand, dass sich Acrinolas befleissigte, die Anordnungen seiner Lehrer nach bestem Gewissen zu befolgen und umzusetzen. Obschon er immer wieder den Anschein erweckte, dass er den Ausführungen seiner Lehrer nicht zu folgen vermochte, und gelegentlich aussah, als würde er vor lauter Verzweiflung ob der von ihm geforderten Leistung fast in Tränen ausbrechen, erwies er sich als gelehriger und erstaunlich begabter Schüler. Sein Verstand scheint nicht annähernd so träge und schwerfällig zu sein, wie es sein behäbiges, unbedarftes Gebaren zu Anfang vermuten lässt, ging es dem Paladin abermals durch den Kopf, dieweil er dabei zusah, wie Joran seinen Schlagrhythmus langsam erhöhte.

    Sicherlich war der grosse Mann noch weit davon entfernt, ein gekonnter Schwertkämpfer zu sein, doch die zarten Fortschritte, die sich bei ihm schon nach nur drei Tagen feststellen liessen, entkräfteten Torias’ anfängliche Zweifel, ob es überhaupt im Bereich des Möglichen lag, Acrinolas binnen annehmbarer Zeit zu einem kampffähigen und damit brauchbaren Mitglied ihrer Gemeinschaft zu ertüchtigen. In der Tat wagte Torias nun bereits mit der Vorstellung zu spielen, dass es den Sephariern womöglich gelingen könnte, Acrinolas innert weniger Wochen auf ein taugliches Niveau zu heben, damit der Heidenbrucker in einem zweifellos bevorstehenden Gefecht befähigt war, sich hinlänglich zu verteidigen.

    Der breitschultrige Mann hatte zwar bereits während des Scharmützels auf der Landstrasse bewiesen, dass in ihm das Herz eines Kämpfers schlug, doch der Wille allein machte noch keinen begabten Krieger aus ihm. Tollkühn und voller Eifer hatte er sich in das Getümmel gestürzt und mit seinem Streitkolben den einen oder anderen Gegner erschlagen. Dabei aber hatte er sich lediglich auf die ungeheuren Kräfte seines muskelgestählten Körpers verlassen, und das war töricht. Allzu leicht hätte ihn einer der erfahrenen Söldner in einem Zweikampf niederstrecken können, und allein dem Wohlwollen der Götter hatte er es zu verdanken, dass er nur mit ein paar Schrammen, Prellungen und einer leichten Schnittwunde davongekommen war. Ein solches Wagnis durfte Acrinolas nicht noch einmal eingehen, und Torias musste dafür Sorge tragen, trug er doch als Anführer ihrer bunten Gemeinschaft die Verantwortung auch für diesen unerwarteten Neuzugang.

    Noch immer sangen die schartigen Schwerter, wenn sie aufeinandertrafen, und Jorans gleichmässige Anweisungen verschmolzen mit dem metallischen Metrum zu einem eigentümlichen Lied, das auf dem gesamten Deck zu vernehmen war. „Rechts unten, links oben, rechts oben, linker Streich."

    Der Ritter scheuchte seinen Schüler über die Planken, während er unaufhörlich auf ihn einhieb. Er hatte die Abfolge seiner Angriffe stetig ein wenig erhöht, um Acrinolas allmählich an seine Grenzen zu führen, doch bislang schlug sich der Heidenbrucker tapfer und wehrte jeden Streich erfolgreich ab.

    Torias aber entging nicht, dass der grosse Mann mehr und mehr Schwierigkeiten bekundete, dem anhaltenden Hagel beizukommen. Er schien müde zu werden und sich zu verkrampfen, und seine Bewegungen wurden unbeholfener und träger. Von Anfang an hatte Acrinolas nicht durch Grazie und Eleganz oder besondere Schnelligkeit bestochen. Er besass einen Körper, der einen Ochsen beschämen konnte, und wie ein solcher gebärdete er sich auch, ruhig, gemächlich und langsam. Doch mittlerweile geriet er häufiger leicht ins Stolpern, sein Schwert schlingerte ungestüm durch die Luft, und den einen oder anderen Schlag des Ritters parierte er eher durch Zufall denn mit Absicht.

    Joran, der ob der Übungen noch nicht einmal ins Schwitzen geraten war, wurde der zunehmenden Ermattung seines Zöglings ebenfalls gewahr und beendete den Unterricht. Er senkte das Schwert, rückte einen Schritt von Acrinolas ab und bedachte ihn mit einem anerkennenden Nicken.

    „Ich… mag… nicht mehr… Herr Ritter. Brauche eine… kurze Rast", schnaufte Acrinolas ausser Atem und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiss aus der breiten Stirn. Sein Gesicht hatte sich von der Anstrengung gerötet, und das strohblonde, dicke Haar klebte an seinen Wangen.

    „Ich denke, die habt Ihr Euch verdient, stimmte Joran mit einem Neigen des Kopfes zu. „Das war schon sehr eindrücklich. Ihr seid auf einem guten Weg, mein Freund, lobte er sein Gegenüber. „Ihr neigt jedoch dazu, Euch noch immer ein wenig zu verkrampfen, daher ermüdet Ihr schneller. Doch daran werden wir in den kommenden Tagen noch arbeiten und feilen, keine Sorge. Er trat auf den grossen Mann zu, der keuchte und schnaufte wie ein Blasebalg, klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und lächelte. „Ruht Euch einen Moment aus, das steht Euch zu. Wenn Ihr wieder zu Kräften gekommen seid, werden wir noch für eine Weile ein paar Angriffstechniken üben, wenn Ihr mögt.

    Acrinolas nickte. „Ja, ist gut. Danke, Herr Ritter."

    Der Heidenbrucker schlurfte über das Deck und liess sich an der Bordwand erschöpft auf den Boden sinken. Joran begab sich zu Torac und Talina, die im Schatten des trutzigen Hecks auf einer Kiste hockten und die Lehrstunde ihres Freundes aufmerksam verfolgt hatten. Kaum war Joran bei ihnen angekommen, begann der Himmelsritter seine Meinung kundzutun und beurteilte nicht nur Acrinolas, sondern auch Jorans Unterrichtsmethoden, was diesen aber eher amüsierte.

    Talina ihrerseits enthielt sich eines Kommentars. Sie wirkte noch immer sehr blass und schwächlich und sass ein wenig zusammengekrümmt da, einen Arm um den aufgewühlten Bauch geschlungen. Auch wenn sie sich seit gestern wieder ins Freie wagte und auf der Mardraken umherging, schienen ihr die rollenden und schwankenden Bewegungen des Schiffes noch immer zu schaffen zu machen. Auf ihrem bildschönen Antlitz wollte sich kein Lachen zeigen, selbst dann nicht, wenn Joran oder Torac eine scherzhafte Bemerkung fallen liessen. Ihre ebenmässigen Züge wurden von einem verkniffenen Ausdruck überschattet, der sich einfach nicht zerstreuen wollte.

    Torias wandte sein Augenmerk von den Sephariern ab und betrachtete flüchtig zwei Besatzungsmitglieder, die in der Nähe standen und tuschelten. Die beiden Lokirer, eine hochgewachsene, schlanke junge Frau mit rotblondem Zopf und Sommersprossen auf dem hübschen Gesicht und ein älterer Mann von untersetzter, aber bulliger Statur und mit ergrautem Bart, hatten, wie etliche andere auch, dem Übungskampf zugesehen und sich immer wieder über die etwas ungelenken Bewegungen des Heidenbruckers lustig gemacht. Noch immer steckten sie die Köpfe zusammen und beobachteten den grossen Mann heimlich, wobei sie grinsten und kicherten.

    Der Paladin empfand ihr albernes und höhnisches Getue als unangebracht, zumal Acrinolas eine durchaus beeindruckende Leistung gezeigt hatte, gemessen an seiner bisherigen Ausbildung. Doch als Gast auf diesem Schiff stand es ihm leider nicht zu, die hart schuftenden Seeleute mit gewählten Worten zurechtzuweisen und ihr Verhalten zu tadeln. Ausserdem kannte er die Gepflogenheiten der Südländer gut genug, um zu wissen, dass die beiden seine Ermahnungen kaum zur Kenntnis nehmen oder gar mit Missbilligung auf schnöde Belehrungen reagieren würden, sollte er gleichwohl nicht lassen können und den Versuch unternehmen, Acrinolas’ Ehre mit Worten zu verteidigen. Lokirer hatten nicht viel übrig für die steife Etikette und die klar strukturierten Umgangsformen, die sich in den Ländern Kymmerias schon vor Jahrhunderten ausgebildet und festgesetzt hatten, und Titel, Abstammung und Blutlinien galten ihnen wenig. In ihren Augen zählten allein Taten, und er würde dem Heidenbrucker keinen Gefallen tun, indem er die beiden in seinem Namen zur Mässigung aufforderte.

    „Wir Lokirer zollen einem schwächlichen Milchgesicht keinen Respekt, nur weil er Rang und Namen von seinem Vater geerbt hat", klangen die höhnischen Worte Valadur Jadrassons, eines Weggefährten und langjährigen Freundes Gilham Varaels, in Torias’ Erinnerungen nach. Er entsann sich lebhaft an jenen Abend vor vielen Jahren, als er im Speisesaal der Paladinschule von Isistarid am selben Tisch mit dem angesehenen Geweihten des lokirischen Gottes Utgwalir gesessen hatte, und ein feines Lächeln kräuselte seine Lippen. Damals war Torias noch ein unerfahrener Akolyth des Ordens des Silbernen Einhorns gewesen, ein junger Bursche, noch grün hinter den Ohren und leicht zu beeindrucken.

    „Hetleode, Jarls und Hykleode geniessen durchaus ein gewisses Ansehen, doch nur weil sie dieses durch Stärke, Heldenmut oder grosse Weisheit selbst errungen haben. Wir beugen auch nicht das Knie vor ihnen und küssen ihre weichen, gepuderten Hände, um unsere Ehrerbietung zu bezeugen. Wir betrachten unsere Anführer eher wie ältere Geschwister. Wir gehorchen ihnen, wenn wir es für richtig halten und schätzen sie hoch, wenn sie sich angemessen verhalten. Aber wenn sie uns im Gegenzug nicht mit der nötigen Achtung bedenken

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