Schutzbriefe vom Herzog?: Willebadessen und der "tolle Christian" Frühjahr 1622
Von Thomas Thalmaier
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Scheinbar vergessen liegen Stadt und Kloster Willebadessen am Eggerand, als das nördlich gelegene Neuenheerse geplündert wird, während für die Einwohner des südlichen Borlinghausen sämtlich Schutzbriefe gelten, die Herzog Christian von Braunschweig hat ausstellen lassen.
Aus welchem Grund wurden diese beiden Ortschaften so unterschiedlich behandelt? Was mag dem zwischen diesen Orten angesiedelten Willebadessen widerfahren sein?
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Buchvorschau
Schutzbriefe vom Herzog? - Thomas Thalmaier
Inhalt
Der blinde Fleck
Die Situation des Alten Reichs
Das europäische Theater
Söldner im Lande
Der Heerführer
Die Situation in Willebadessen
Löwen und Borlinghausen
Ein Schuldschein
Thesen
Benutzte Literatur
Anmerkungen
Der blinde Fleck
Gemeinhin gilt der Dreißigjährige Krieg 1618-1648 als eine Zeit der Verwüstung, des Plünderns und Landverderbens, in der Nichts und Niemand vor marodierenden Söldnern sicher war. Ganze Landstriche sollen verdorben worden sein, die Bevölkerung Deutschlands, so heißt es leichthin pauschalisierend, sei um ein Drittel, mancherorts gar um die Hälfte in den Kriegswirren dezimiert worden. So entsteht der Eindruck, Deutschland sei sprichwörtlich nach Gryphius „nunmehr gantz, ja mehr denn gantz verheeret"¹ worden – doch so einfach ist die Sache nicht.
Denn erstens konnte der Jenaer Agrarhistoriker Günther Franz (1902-1992) als einer der Ersten schon 1940 nachweisen, dass es sich bei den entvölkerten Landstrichen zwar tatsächlich um menschenleere Regionen, verlassene Gegenden und wüste Felder und Fluren handelte.² Doch den Grund hierfür fand er in den Wanderungsbewegungen der Bevölkerung, die vor den herannahenden Söldnerheeren flohen oder (ganz im Gegensatz zur kolportierten Meinung) mit diesen zogen, weil sie sich hierin ein besseres Leben versprachen. Oftmals wurden Bauern jedoch auch zum Dienst unter einem beliebigen Feldherrn gepresst. Hunger und Seuchen taten das ihre – in allen Fällen fiel jedoch die Heimstatt wüst.
Zum anderen kumuliert das kollektive Gedächtnis gern die Tatsachen, so dass Fakten nachfolgender Jahre auch an den Anfang einer Epoche gerückt werden. Und so gerät der Befund zum Bevölkerungsverlust des gesamten Krieges schon mal an den Anfang der Reihe der Vorkommnisse, anstatt ihn als Folge der vorangegangenen Jahre zu erkennen.
Dieses kleine Beispiel mag recht profan anmuten, es steht jedoch symptomatisch für die Überlieferung der Geschehnisse des betreffenden Zeitraums zwischen den Jahren 1618 als dem Schicksalsjahr des Prager Fenstersturzes und 1648 als dem Jahr der Verabschiedung des Westfälischen Friedens. So klar das Ende der Ära dieses so genannten „konfessionellen Zeitalters" ersichtlich ist, so verschwommen sind die Missverständnisse, Versäumnisse, Bündnisse, Staats- und Herrscherfehler, die zum Ausbruch und zur Aufrechterhaltung dieses Krieges führten.
Seit gut einhundert Jahren schwelte zudem der Streit um die Sprache des jeweiligen Bekenntnisses, und dieser Streit machte vor nichts und niemandem Halt, alle waren betroffen, jedermann herausgefordert. Bei derart unzähligen Gründen lässt sich kein zentrales Vorkommnis ausmachen, das sich heute als Urkatastrophe des Dreißigjährigen Krieges identifizieren ließe. Über vierhundert Jahre sind seither vergangen, wer wollte da noch wissen, was den Funken ausmachte, der zuletzt alles in Brand setzte?
Anders als es das Zusammenspiel unglücklicher Zufälle und auch anders als die herbeiargumentierten Gründe für Kriege und Katastrophen späterer Jahrhunderte vermuten lassen, hat die Historiographie in Hinblick auf den Dreißigjährigen Krieg jedoch eine ganz eigene Note. Neben stichhaltigen wissenschaftlichen Erkenntnissen der Forschung ist sie reichlich durchwoben von Histörchen, Kolportagen, Vermutungen, oft auch freimütig eingefärbten Meinungen einzelner Autoren und recht häufig auch regionalen Legenden wie etwa für die hiesige Region jene des so genannten „Maria Schuß in Geseke oder des „Trompetersprungs
bei Rheder.³ Diese meist mündlich tradierten und erst zu einem späteren Zeitpunkt schriftlich festgehaltenen Legenden (freilich stets auch gern mit einer Prise Moral gewürzt) spielen nur allzu oft ins Märchenhafte, ja Surreale und sind daher mit Vorsicht zu behandeln. Auch die Legende vom „tollen Christian" und den Paderborner Libori-Reliquien,⁴ welche besagt, der Braunschweiger habe, als er 27jährig auf dem Totenbett lag, sich noch der von ihm gewaltsam geraubten Reliquien erinnert und reumütig gewünscht, Gott und seinen Heiligen nicht derart gelästert zu haben, will mir eher als ein Beispiel bester Legendenbildung erscheinen denn als historisches Faktum.
Solcherlei Legenden um die Person des Christian von Braunschweig haben bereits 1926 Heinrich von Xylander und 1929 Hans Wertheim aufzuspüren und zu entkräften versucht. Denn Legenden passen so gar nicht zur historischen Gestalt dieses für seine Zeit hervorragend ausgebildeten und belesenen, bereits in jungen Jahren weit gereisten und studierten Höflings aus dem nicht unbedeutenden Herzogenhaus der Welfen in Braunschweig-Wolfenbüttel.
Und doch ist selbst der Biograph Christians, Heinrich von Xylander, nicht davor gefeit, einer solchen Legende zu erliegen:
„Vielleicht hat er damals eine Tat begangen, von der der Chevalier Aubéry in geschwätziger Übertreibung erzählt, er habe sie sich öfters geleistet: Der Herzog habe, etwa gelegentlich eines Spazierritts einen Dachdecker erblickt, der auf der schwindelnden Höhe eines Kirchturms seine gefahrvolle Arbeit verrichtete. Christian habe den Karabiner seines Begleiters ergriffen und nach lebendiger Scheibe geschossen, bis der Unglückliche vor seinen Füßen zerschellt sei".⁵
Xylander rückt diese Episode zwar an den Rand des Fragwürdigen. Doch ist sie