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DER DRACHE VON DUBLIN: Endzeit-Thriller
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DER DRACHE VON DUBLIN: Endzeit-Thriller
eBook684 Seiten9 Stunden

DER DRACHE VON DUBLIN: Endzeit-Thriller

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Über dieses E-Book

Nach der Apokalypse herrscht die AUCTORITAS mit eiserner Hand über Irland und durchforstet es nach Technologie. Als ein junges Mädchen entführt wird, begibt sich der Samurai Kane Asano auf die Suche nach der Wahrheit – und deckt ein furchtbares Geheimnis auf, das die Welt verändern wird.
Eine wilde Mixtur aus Endzeit, Science Fiction und den epischen Samurai-Abenteuern eines Kurosawa.
SpracheDeutsch
HerausgeberLuzifer-Verlag
Erscheinungsdatum10. Feb. 2023
ISBN9783958357389
DER DRACHE VON DUBLIN: Endzeit-Thriller

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    Buchvorschau

    DER DRACHE VON DUBLIN - Florian Ellenberger

    Am Fuße des Corrán Tuathail

    2215 | Corrán Tuathail

    Man hörte nur Geschichten über die schwarzen Berge im Norden. Versteckt im Nebel und gepeitscht von ewigen Unwettern waren sie gefährlich für jeden, der sie ohne die nötigen Vorkenntnisse überqueren wollte. Viele waren schon an den rutschigen Pässen gescheitert und in den Tod gestürzt.

    Ich blickte in die Tiefe und musste lächeln. Der Corrán Tuathail war der höchste Berg der Macgillycuddy’s Reeks, im Volksmund auch Na Cruacha Dubha – die schwarzen Berge – genannt. Er war der höchste Punkt Irlands. Die Devil‘s Ladder führte einen strebsamen Kletterer bei nötiger Vorsicht den ganzen Berg hinauf. Das von ihr geführte Wasser schliff den kargen Stein und hatte über die Jahre so tiefe Furchen hinterlassen, dass die Route mittlerweile in kleinen Bächen unter den Klippen mündete. Das machte sie umso gefährlicher für achtlose Wanderer, die den Corrán Tuathail erklimmen wollten, um zur nördlichen Küste zu gelangen.

    Bei mir trafen solche Schicksale auf Unverständnis. Eine gefährliche Situation war berechenbar, wenn man die Gefahr kannte und ihr den nötigen Respekt entgegenbrachte. Ich tastete mich langsam voran und erklomm einen Felsen nach dem anderen. Begleitet vom fernen Rauschen des Tals, schwebten tausende Schneeflocken auf mich herab. Die Kälte fraß sich langsam durch meinen Harnisch. Niemand sonst war weit und breit zu sehen. Nur das Klirren meines Katanas durchbrach die heilige Stille der Natur.

    Ich erreichte einen Vorsprung und hievte mich hinauf. Meine Beine versanken bis zu den Knien in der dicken Schneeschicht. Ich schloss die Augen. Ein Hauch von Freiheit durchfloss meinen Körper und füllte meine Venen. Lebendiger konnte man sich kaum fühlen. Ich atmete aus und blickte ins Tal hinab.

    Weit unter mir lagen weiße, schier endlos wirkende Wiesen und eisblaue Seen. Die Wipfel der anderen Berge schimmerten in der Abendsonne ebenso wie die Wolken am Horizont. Den Corrán Tuathail in der Dämmerung und bei schlechter Wetterlage zu besteigen, war auch für mich eine Herausforderung. Hierfür hatte es sich aber bereits gelohnt, diese Gefahr auf sich zu nehmen.

    Ich rappelte mich wieder auf und stapfte auf die Bergspitze zu. Ein schwarzes Gipfelkreuz erwartete mich. Die letzten Sonnenstrahlen brachen sich im Schnee und der Berg strahlte im warmen Licht wie ein Meer aus Diamanten. Ein goldener Glanz umgab mich. Ich legte meine Hand auf das Kreuz und lächelte.

    Vor seinem Tod war ich mit meinem Vater hier gewesen. Zusammen hatten wir etwas in den Stein geritzt, am Fuße des Kreuzes. Ich stützte mich auf meine Knie und schaufelte den Schnee beiseite. Man konnte die verwitterten Buchstaben auch nach fast zwei Jahrzehnten noch erkennen.

    »Sag mir – was bedeuten die Worte auf dem Stein?«

    Meine Miene verdüsterte sich. Jemand stand plötzlich hinter mir. Ich hatte ihn nicht einmal kommen hören.

    »Was ist das Leben wert, wenn man es in Ketten verbringt?«

    Ich hörte Schritte im Schnee. Er kam näher.

    »Ist das alles? Keine Scheu, Ire. Was flüstert der Stein dir zu?«

    Mein ganzer Körper war angespannt. Langsam stand ich auf, während der Mann hinter mir eine Klinge zog.

    »Dann höre mir zu und schweig. Wenn es sein muss, für immer!«

    Die kühle Luft wurde plötzlich von zwei blitzenden Schwertern durchschnitten. Ich hatte mich ruckartig umgedreht und den Angriff pariert. Mein Besucher war augenscheinlich überrascht. Seine dunkelbraunen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und der feste Griff um sein Schwert zeugte von gnadenloser Entschlossenheit. Ein Kampf war unvermeidbar.

    Ich machte mir ein Bild von meinem Gegner: Er war in eine Mönchsrobe gekleidet; seine Gliedmaßen wurden von dünnen Lederriemen geschützt, die kaum warm genug sein konnten.

    Er wird langsam sein. Die Kälte wird ihn bremsen.

    Sein Haar war kurz, sein Bart spärlich und grau. Um den Hals trug er ein Amulett. Es hatte die Form eines Drachen.

    Er ist alt und weise. Ich muss ihn überraschen.

    Die Klinge seines Schwerts war pechschwarz und mit japanischen Schriftzeichen verziert. Sie schimmerte bedrohlich und hätte jeden normalen Mann vermutlich das Fürchten gelehrt.

    »Wählen, zwischen falschem Leben und freiem Tod!«

    Mit Wucht hieb ich mit meiner Klinge auf ihn ein. Er rutschte über den Schnee, konnte die Angriffe jedoch abwehren.

    »Kämpfen, wie ein Drache, erbarmungslos und voller Tapferkeit!«

    Mit einem kraftvollen Sprung ließ ich mein Katana herabstürzen.

    Er ging zu Boden, stieß sich jedoch nach oben und erwiderte meinen Angriff. Der Schneefall hatte unterdessen nachgelassen. In der untergehenden Sonne waren es nur noch wenige Flocken, die zu Boden schwebten. Unsere Klingen donnerten in der Abenddämmerung aneinander. Durch das Tal schallten unsere Schreie. Wäre man am Fuße des Berges gewesen, hätte man geglaubt, ein fernes Donnergrollen zu hören.

    In einem unachtsamen Moment, als ich einen Schlag pariert hatte und zum Angriff übergehen wollte, nutzte mein Gegner die entstandene Lücke und schmetterte mir das Schwert aus der Hand. Es bohrte sich in den Schnee und wippte im Wind. Ein Tritt auf die Brust ließ mich rücklings zu Boden gehen. Das Tal verstummte. Ich blickte in die ruhigen Augen meines Feindes. Die Spitze der schwarzen Klinge legte sich auf meine Brust.

    »Du bist noch nicht fertig. Wie lautet der letzte Satz?«

    Nur Sekunden würde es jetzt noch dauern, bis er zum tödlichen Schlag ausholen würde. Der Himmel war rot wie Blut; man sah schon die ersten Sterne zwischen den schrumpfenden Wolken.

    Ich atmete tief ein. So leicht würde ich mich nicht geschlagen geben. Ich beobachtete die Schneeflocken, die sich friedlich auf der Klinge meines Feindes niederließen. Mein Katana vibrierte im Schnee. Es wartete auf mich – noch war der Kampf nicht vorbei. Wie ein Blitz schoss ich durch die malerische Stille und wirbelte zu meiner Klinge. Der Fremde holte zum Schlag aus, doch es war zu spät: Ich konterte mit drei mächtigen Hieben, bis ich das schwarze Schwert schließlich an mich nehmen und meinen Gegner vor dem Kreuz zu Fall bringen konnte.

    Mit beiden Klingen umschloss ich seine Kehle. Ich nickte in Richtung der Inschrift, die mein Vater und ich vor vielen Jahren hier hinterlassen hatten.

    »Sterben, nicht auf Knien, sondern aufrecht und stolz!«

    Der Mann schwieg, bis ein Schmunzeln seine zuvor harten Gesichtszüge erweichte und in freundliche Grübchen verwandelte.

    »Gut gemacht!«

    Ich lächelte stolz, zog die Schwerter zurück und rammte meine Klinge in den Boden. Ich streckte den Arm aus und reichte meinem Meister die Hand. Er nahm dankend an und rappelte sich wieder auf. Schnell war er wieder auf den Beinen und wischte sich den Schnee von der Kleidung.

    »Als ich deinem Vater geschworen habe, dich bei uns aufzunehmen, hätte ich nie gedacht, mal einen so talentierten Krieger aufwachsen zu sehen«, sagte er und klopfte mir auf die Schulter.

    Ich winkte kopfschüttelnd ab. »Du hast mich dennoch kalt erwischt. Seit wann versteckst du dich hinter einem Wahrzeichen Gottes?«

    »Nicht meines Gottes! Auch nicht deines Gottes, soweit ich weiß.«

    Wir mussten lachen und stapften in Richtung der Inschrift. Die Sonne war nun gänzlich untergegangen. Der Mond durchbrach die noch übrig gebliebenen Wolken und tauchte den Berg in ein nunmehr silbernes Licht. Es wurde nicht dunkel, obwohl der Tag endgültig vorüber zu sein schien. Der Schnee reflektierte den Schein des Mondes und warf ihn auf das eisige Tal unter den Klippen. Bei Nacht war der Corrán Tuathail ein eigenwilliger Berg.

    »Wie lang ist es her, Shinji? Wie lange lebe ich nun schon bei euch?«

    Shinji wandte seinen Blick zunächst nicht von dem verwitterten Stein am Fuße des Kreuzes ab, der im Mondlicht seltsam funkelte.

    »Du hast lange keine Fragen mehr gestellt, Kane.«

    Mystische Stille durchzog den Moment. Sie ließ bereits erahnen, dass dies nur der belanglose Anfang eines bedeutenden Gesprächs sein sollte.

    Ich runzelte die Stirn. »Zeiten ändern sich.«

    Shinji drehte seinen Kopf und nickte. »So wie du dich verändert hast, seit du zu uns gekommen bist. Es ist fast fünfzehn Jahre her.«

    Diese Zahl war größer, als ich erwartet hatte. Sie bedeutete, dass ich mehr als mein halbes Leben in diesen Bergen verbracht hatte.

    »Die Welt holt dich ein, nicht wahr? Ein Ruf schallt aus der Ferne. Er kommt von dort, wo Feuer brennen.« Shinji hielt kurz inne. Dann begann er behutsam, den Stein mit den Inschriften auszugraben. »Dein Vater und ich waren oft hier oben und haben gekämpft. Ich habe ihn immer besiegt; zumindest fast immer. Als die Kolonialmächte die Waffen des 22. Jahrhunderts unbrauchbar gemacht hatten, waren Schwert und Schild zu einem mächtigen Begleiter geworden. Ich habe ihn gelehrt, sie zu nutzen.«

    Unter dem Schnee schien ein Stein zu liegen, der ebenso schwarz war wie die Nacht. Er schimmerte bedrohlich.

    »Kurz vor seinem Tod forderte er mich erneut heraus. Ich hatte ihm schon vieles von dem gezeigt, was meine Meister mich während des Krieges gelehrt hatten. Obwohl ich ihm ungeschlagen gegenübertrat, besiegte er mich an jenem Tag.« Shinji legte seine Hände auf den Knien ab.

    Der Mond schien nun auf den vollends befreiten, schwarzen Stein, der sich unter dem Schnee verborgen hatte. Er war geformt wie eine Sichel, die sich an den Fuß des Kreuzes schmiegte. Seine Oberfläche war glatt und rein – nur die Inschrift durchbrach seine makellose Schönheit. Shinji strich mit seiner Hand langsam über die Riffelungen und Kerben.

    »Du hast mich heute sehr an ihn erinnert. An ihn und an das, was er mir an jenem Tag gesagt hat.«

    Bei diesen Worten horchte ich auf.

    »Was hat mein Vater zu dir gesagt?«

    Shinji lächelte mich an, wie nur ein Lehrer seinen Schüler anlächeln konnte. Seine Augen aber lächelten nicht; sie waren voller Trauer.

    »Wenn der Tag kommt, an dem du mich im Kampf besiegst, soll ich dich in die Welt entlassen, sodass du sie kennenlernen kannst.« Shinji stapfte durch den Schnee auf mich zu. In der Stille des Tals schienen seine Schritte noch ewig durch die kalte Luft zu hallen. »Du sollst die Wahrheit über den Krieg erfahren und verstehen, warum er dich verlassen musste. Ein dunkles Erbe geißelt diese Welt. Jemand muss es bekämpfen. Nicht Männer wie ich oder Benjiro Sakai. Wir sind alt und Relikte der Vergangenheit. Doch du kannst ein Teil der Zukunft werden. Das wusste dein Vater von Anfang an.«

    Ich schaute in das warme Gesicht meines Meisters und fühlte mich so leer wie seit Jahren nicht mehr. Für eine Sekunde spürte ich die Gegenwart meines Vaters in allem, was mich umgab: Im Schnee, der langsam vom Nachthimmel herabsank. Im Mond, der wachend über uns schwebte. Vor allem aber in Shinji, meinem Meister, der sich – seit ich denken konnte – um mich gekümmert hatte. Dennoch war da diese Leere, die mich innerlich auffraß.

    »Wieso war er sich so sicher, dass er nicht mehr da sein würde, wenn dieser Tag kommt?« Ich drehte mich um. Das Tal lag vor mir wie ein Meer der Dunkelheit. Die gefrorenen Seen und Flüsse glitzerten silbern – nur vermochte mir ihr Anblick diesmal keinen Frieden zu bringen. »Ich weiß von dieser Wahrheit. Sie hat ihn sein Leben lang verfolgt und schließlich hat sie ihn auch umgebracht. Es hätte nicht so kommen müssen. Er hätte sich anders entscheiden können. Ich habe ihn geliebt, Shinji, und ich vermisse ihn jeden Tag. Doch er hat mich zurückgelassen. Mich und diese Wahrheit, von der du verlangst, dass ich mich ihr ebenfalls verpflichte.« Ich blickte in die Ferne und lauschte dem Seufzen meines Meisters. Wenn Shinji im Begriff war, etwas Unumstößliches zu sagen, begann er immer mit einem Seufzen. Dieses eine Mal würde ich nicht darauf hören.

    »Er wusste es, weil er sich sicher war, zu sterben. Er hatte erfahren, dass die Auctoritas in Richtung eures Dorfes unterwegs war. Sie kam, um es in ihr Königreich einzugliedern. Er stellte sich den Gardisten mit einigen Männern entgegen. Sie hatten keine Chance. Die Auctoritas besitzt weitaus modernere Waffen und so viele Soldaten, dass nur wenige überhaupt die Tapferkeit haben, ihr die Stirn zu bieten. Dein Vater aber war so ein Mann. Tapfer und voller …«

    »Dennoch ist er tot. Er hat es nicht geschafft. Wenn stimmt, was du sagst, hat er sogar gewusst, dass er es nicht schaffen würde. Trotzdem ist er fortgegangen, obwohl das hieß, mich zurückzulassen.«

    Ich wollte nicht weiter hören, was Shinji zu sagen hatte. Tief in mir wusste ich, dass mein Vater ein tapferer Mann gewesen war. Doch den Gespenstern zu folgen, denen er gefolgt war – dafür fühlte ich mich noch nicht bereit. »Ich werde das Kloster verlassen, aber ich werde nicht die Monster jagen, die er gejagt hat.« In meinen Augen hatte ich das Gespräch damit beendet.

    Mein Meister schaute mich eindringlich an. Vielleicht konnte er in diesem Moment in mein Herz sehen und die Trauer spüren, die sich seit vielen Jahren dort eingenistet hatte. Egal, wie sehr ich versuchte, sie zu verstecken: Shinji war weise genug, mich zu durchschauen. Er blickte in den klaren Nachthimmel, wo ein strahlendes Sternenmeer über uns seine Wellen schlug.

    »Beschreite den Pfad deiner Zukunft auf deine Weise. Wenn du nur halb der Mann bist, der dein Vater war, wirst du am Ende genau das Gegenteil von dem sein, was du jetzt in dir siehst. Ich weiß sogar schon, wo du deine Reise beginnen kannst.«

    Ich schnaubte amüsiert und trat neben meinen Meister.

    »Du meinst, ich werde schlussendlich doch meinem Vater folgen?«

    Shinji schmunzelte. Er stapfte in Richtung des Kreuzes, bückte sich und hob den schwarzen Stein auf.

    »Nein. Ein Teil von ihm wird dir folgen.« Er drehte sich um und reichte mir diesen kleinen Teil des Berges.

    »Shinji ... das ist ein Stein. Wieso sollte ich mir das antun?«

    Mein Meister warf mir den Brocken zu. Ich fing ihn noch in der Luft; er war leicht wie eine Feder.

    »Das ist kein gewöhnlicher Stein. Er ist eine Träne des Universums. Euer beider Schicksal wird in Irlands Flammen geschmiedet.«

    Ich stutzte. Erst jetzt erkannte ich in der Dunkelheit des Steins etwas Vertrautes. Mein Blick fiel auf Shinjis Katana. Er lächelte und nickte.

    »Ein gewöhnlicher Mann sieht in einem Stein einen Stein. Er dreht der Welt den Rücken zu und lässt sich von den Winden des Schicksals durch sein Leben wehen wie ein Ahornblatt. Doch dies ist kein Stein, ebenso wenig, wie du ein gewöhnlicher Mann bist. Du drehst niemandem den Rücken zu, sondern blickst der Welt in ihr vernarbtes Gesicht – und sie blickt in deines.«

    Ich schaute meinen Meister nachdenklich an.

    »Und was sieht die Welt in meinem Gesicht?«

    Shinji lächelte und tippte auf meine Brust.

    »Einen Samurai.«

    Mit diesen Worten sollte meine Reise beginnen.

    Teil 1

    Der Drache von Dublin

    Kapitel 1

    In den Händen des Unbekannten

    Ich bin ein kleiner Junge. In den verwitterten Außenanlagen des Klosters finde ich ein Schwert, das unter dem blassen Grün trockener Blätter aufblitzt. Ich bin wütend, weil die anderen Kinder nach meinem Vater gefragt haben. Ich nehme das Schwert und schmettere es gegen einen Baumstumpf. Er verhöhnt mich ebenso wie die Kinder: Es ist kein Kratzer zu sehen.

    Mein Schädel dröhnte. Ich spürte etwas Warmes und Feuchtes auf meiner Stirn und kam langsam wieder zu mir. Zögerlich öffnete ich die Augen, doch der Schmerz hielt mich auf dem kalten Boden gefangen.

    Ich bin wieder ein kleiner Junge. Shinji findet mich. Er zeigt mir zum ersten Mal, wie man mit einem Schwert kämpft. Er wird mein Meister. Fünfzehn Jahre später schickt er mich nach Norden. Dort wartet eine Fabrik darauf, geplündert zu werden. Danach soll ich den schwarzen Stein zu einem Schmied bringen, um seine wahre Natur zu offenbaren.

    Ich scheuchte die Erinnerungen zurück in mein Unterbewusstsein, um ihren Platz am Licht einzunehmen. Meine Sicht war verschwommen, doch mit der Zeit gewöhnte ich mich an die Dunkelheit. Ich schaute mich um. Ich befand mich in einer kleinen Zelle. Überall sah ich glattes Metall. Ein rundes, verglastes Fenster lag auf ungefähr zwei Metern Höhe. Die Tür schien notdürftig präpariert worden zu sein, um nicht von selbst aus den Angeln zu fallen. Die Sterne vor meinen Augen verschwanden.

    Wieder wurde es warm und feucht. Erleichtert erkannte ich Asuka, die mich liebevoll und zärtlich geweckt hatte.

    Asuka – meine Wolfshündin. Shinji hat sie mir mitgegeben, um mich zu beschützen. Scheint schiefgegangen zu sein.

    »Da bist du ja, kleine Prinzessin«, flüsterte ich glücklich und strich sanft über ihr graues Fell.

    Ich rappelte mich auf und schaute mich genauer um. Weder mein Beutel noch mein Schwert waren irgendwo zu sehen.

    Mein Beutel. Ich habe EVOPads in der Fabrik gefunden; wertvolle Geräte, die ich in Dublin verkaufen wollte. Ich bin Kane Asano, ein Scavenger – ein Aasfresser des Westens. Ich bin auf der Suche.

    Ich fluchte kurz, trat dann näher an das kleine Fenster und schaute durch die rostigen Gitter. Außer Schnee und Bäumen konnte ich nichts entdecken. Ich musste noch in der Nähe der Fabrik sein. Der stürmische Wind hatte mittlerweile nachgelassen und an einigen Stellen klarte der Himmel wieder auf. Kein Wunder, dass die Auctoritas diese Anlage noch nicht besetzt hatte. Sie lag inmitten der frostigen Winterlandschaft, die Irlands Vergangenheit unter weißen Teppichen vor den gierigen Augen der Garde verbarg.

    Kampflos wollte ich nicht in diesem Loch versauern. Meine Beute war mir heilig. Wer sie anrührte, sollte meinen Zorn zu spüren bekommen. Asuka fiepste und stupste mich an. Ich beugte mich zu ihr herunter und kraulte ihr Ohr.

    »Wird Zeit, von hier zu verschwinden, was?«

    Ich hob entschlossen meinen Kopf. Die Tür machte einen stabilen Eindruck. Von hier würde ich sie nicht öffnen können. Ich musste also jemanden von draußen dazu bringen, mir meinen Fluchtweg zu bereiten. Wer auch immer mich gefangen hielt, er hatte keine Ahnung, mit wem er sich hier angelegt hatte.

    Jemand hat mich niedergeschlagen, als ich die Fabrik verlassen habe. Die Auctoritas hat sich bisher von der Anlage ferngehalten. Es muss jemand anderes gewesen sein.

    Scavenger waren meist nicht in größeren Gruppen unterwegs und hatten auch kein Interesse daran, sich mit Geiseln herumzuschlagen. Ich vermutete deshalb, dass ich auf Raider gestoßen war. Raider waren Söldner und Freischärler. Eine geldgierige Bande von Halsabschneidern. In den letzten Jahren waren sie vermehrt im Auftrag der Auctoritas über rebellische Dörfer hergefallen oder hatten Jagd auf gesuchte Verbrecher gemacht. Sie selbst waren keinen Pecun wert. Nach Verlassen des Klosters hatte ich kurz mit dem Gedanken gespielt, ihnen beizutreten. Man verdiente gutes Geld und hatte die Auctoritas auf seiner Seite. Die Gewissheit, das Andenken meines Vaters so mit Füßen zu treten, hatte mich schließlich davon abgehalten.

    Asuka schaute mich erwartungsvoll an. Ich knurrte grimmig.

    »Dann sagen wir denen da draußen mal Dia duit, meine Kleine.«

    Asuka hechelte zustimmend. Es war ein Fehler der Raider gewesen, sie mit mir einzusperren.

    Ich trat vom Fenster weg und klopfte gegen das Metall um mich herum. Ein Echo hallte zurück und vermischte sich zu einem tiefen Chor. Rechts und links neben mir mussten sich ebenfalls kleinere Zellen befinden. Ich hämmerte stärker – jetzt gegen die Tür. Nicht wild, sondern monoton und in gleichbleibendem Rhythmus. Meine Intuition sagte mir, dass man einen simplen Charakter als Wache aufgestellt hatte. Jemanden mit mehr Muskeln als Verstand. Die Monotonie meiner Schläge würde ihn nervös machen.

    Nach einigen Minuten schien sich meine Hoffnung zu erfüllen. Ich hörte Schritte vor der Tür und unterbrach das Klopfen.

    »Was soll der Lärm? Aufhören!«, tönte es von der anderen Seite. Der Mann hatte einen starken Akzent. Es war vermutlich derselbe Ochse, der mich vor der Fabrik rücklings niedergeschlagen hatte. Er lachte dreckig, als ich einen Moment lang schwieg.

    »Gut so, Bastard. Zwing mich nicht, reinzukommen.«

    Die Schritte entfernten sich wieder. Ich schwang meine Faust und hämmerte gegen das Metall – diesmal noch stärker. Der Mann blieb augenblicklich stehen und kehrte um. Er hämmerte nun seinerseits gegen die Tür.

    »Затвори си устата! Klappe da drin!«

    Diesmal hörte ich nicht auf. Russisch. Vielleicht war eine Beleidigung in seiner Muttersprache genau das richtige, um dieses stumpfe Fass zum Überlaufen zu bringen. Ich trat weiter nach hinten und behielt die Tür im Blick.

    »Cукин сын!«, brüllte ich, während ich kräftig stampfte.

    Kein Mann nahm es einfach so hin, wenn man ihn einen Hurensohn nannte. Vor der Tür brach ein Sturm der Flüche los.

    »Du wirst bluten! Ich werde deinen Köter töten und dich mit seinen Gedärmen erwürgen!«

    Ein Grinsen huschte über mein Gesicht, als der Mann sich an der Tür zu schaffen machte und die Schlösser öffnete. Ein primitiver Schläger – so, wie ich gehofft hatte. Ich bedeutete Asuka, die Zähne zu fletschen. Jemand würde es gleich bereuen, mich in eine stinkende Zelle gesperrt zu haben.

    Ich rannte auf den wachsenden Spalt und die breite Silhouette dahinter zu und sprang mit den Füßen voran in ihre Richtung. Meine Stiefel krachten in die Magengegend des Mannes, der wutentbrannt in die Zelle stürmte. Überrascht von meinem plötzlichen Angriff und der Wucht meines Aufpralls stolperte er aus der Tür und fiel zu Boden. Ich landete auf dem Rücken, schwang mich mit einem kurzen Ruck wieder auf die Beine und hechtete mit einem weiteren Sprung zum Cукин сын. Er war groß und muskulös. In seiner rechten Hand hielt er eine Brechstange fest umklammert. Er war die einzige Wache. Es tat mir fast schon leid, dass er nun als Prügelknabe herhalten musste.

    »Bleib unten!«, zischte ich giftiger als eine Kobra und rammte mein Knie auf seinen Ellbogen. Es knackte. Mit einem schmerzverzerrten Gesicht und einem leisen Schrei ließ der Hüne die Brechstange fallen. Er wollte mit der anderen Faust zum Schlag ausholen, Asuka war aber schneller und rammte ihre Zähne in seinen Arm.

    Ich schnappte mir die Brechstange und hieb sie ihm mit Wucht über den kahl rasierten Schädel. Ohnmächtig blieb er am Boden liegen. Ich atmete tief ein und nickte Asuka zu. Wie immer hatte sich mich tatkräftig unterstützt.

    »Das war wieder eines unserer guten Dia duit, Asuka. Jetzt schauen wir, dass wir hier wegkommen.«

    Ich stand keuchend auf und blickte mich in dem langen Gang um, in dem ich gelandet war. Er war sehr schmal und auf beiden Seiten konnte ich eine Menge Türen entdecken. Beleuchtet wurde er von Neonröhren, die sich über die Decke zogen.

    Meine Zelle schien sich am Ende des Ganges zu befinden. Einige Meter rechts neben mir konnte ich eine Treppe erkennen, die nach oben führte. Auf der linken Seite dagegen schien der Gang noch unendlich lang weiter zu gehen. Ich hatte keine Ahnung, wo oder worin ich mich gerade befand. Asuka schaute sich ebenso ratlos um und wartete auf meinen nächsten Schritt. Ich entschied mich für die Treppe und stieg über den Fleischberg, der hoffentlich von irischen Weiden und Regenbögen träumte.

    Irgendwo in diesem Koloss aus Stahl und Rost musste sich mein Hab und Gut verstecken. Vermutlich von einer Schar hässlicher Geier bewacht. Behutsam nahm ich eine Stufe nach der anderen. Oben angekommen, presste ich mich an die kalte Wand. Sollte es hier Alarmanlagen geben, wollte ich sie möglichst vermeiden. Zähneknirschend lief ich einen weiteren Korridor entlang. Es gab keinen Hinweis darauf, wo ich war. Die Wände strotzten nur so vor nichtssagender Leere. Plötzlich hörte ich mehrere Stimmen und kniete mich instinktiv hin. Nicht weit vor mir öffnete sich eine Tür, aus der eine Gruppe, bestehend aus drei Männern und einer Frau, in den Korridor trat. Einer hatte eine mächtige Armbrust auf dem Rücken, den Gürtel der Frau zierten zwei rostige Dolche.

    Ich musste in die Fänge der Raider geraten sein; diese Narren würden sogar einem Huhn eine Säge umschnallen. Die umherstreifenden Abtrünnigen waren für ihre Brutalität bekannt.

    Unvermittelt begann Asuka zu knurren. Ich rollte mit den Augen und beobachtete die Gruppe Halsabschneider, wie sie ruckartig in unsere Richtung blickte.

    »Der Gefangene!«, brüllte ein winziger Raider und deutete in unsere Richtung. Ich hatte nur Sekunden, um zu reagieren.

    Der Mann mit der Armbrust griff zu seiner Waffe und warf seine langen Haare in den Nacken. So eng wie der Korridor war, musste man sich schon anstrengen, mich nicht zu treffen. Die rothaarige Frau holte zwei Wurfmesser hervor und schleuderte sie ruckartig in meine Richtung. Nur knapp konnte ich ihnen mit einer geschickten Drehung und einem Sprung nach vorn ausweichen. Ich klatschte auf den Boden, wie ein gestrandeter Wal.

    Der Zwerg zischte und schüttelte den Kopf. »Lebend, Kathlyn! Jankov will ihn noch sprechen!«

    Die Frau kniff die Augen zusammen und ich nutzte den kurzen Moment, um loszustürmen. Ich hatte keine Ahnung, wer Jankov war, aber sein Name hatte mich gerade vor weiteren Wurfmessern bewahrt. Asuka preschte durch die Beine der drei Raider und sorgte bei ihnen für Verwirrung, während ich an der Wand entlang lief und die Frau zu Boden riss. Der Langhaarige hatte seine Armbrust mittlerweile in seiner Hand und schwang das mächtige Gerät schreiend in meine Richtung. Ich duckte mich und parierte mit einem Tritt gegen die Beine des überraschten Mannes. Er verlor die Bodenhaftung und donnerte rücklings auf den kalten Stahl. Der Kleine hatte derweil eine seiner schwachen Fäuste in meine Richtung gestoßen.

    »Verzeih mir, kleiner Mann!«, grinste ich und wehrte die Schläge problemlos ab. Der folgende Treffer in seine Rosinen war vielleicht nicht fair, dafür aber ungemein effektiv. Er stieß ein bemitleidenswertes Stöhnen aus und sackte zusammen.

    Ich schnappte mir einen Dolch der Frau, den sie bei ihrem Aufprall fallen gelassen hatte, und rannte weiter den Gang entlang. Unser Gerangel war indes nicht unbemerkt geblieben. Meine Schritte hallten wie eine Marschkapelle durch jede Wand.

    Vor mir schoben weitere Raider schwerfällige Schiebetüren beiseite und traten verdutzt heraus. Sie alle waren bewaffnet und der Großteil ihrer Kleidung bestand aus festem Leder und Kampfschonern, die mit roten Symbolen bemalt waren. Sie bildeten ein tödliches Labyrinth, durch das ich mich wohl oder übel durchbeißen musste. Noch wusste keiner, was gerade los war.

    Passenderweise rief hinter mir der Kleine mit heiserer Stimme: »Haltet ihn! Er ist auf der Flucht!«

    Auf einen Schlag hatte ich die Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Der verwunderte Blick der Raider, auf die ich unbeirrt zulief, erkaltete zu einer kampfeslustigen Visage. Ein Blick an die Decke rief mir die Neonröhren ins Gedächtnis, die sich über uns erstreckten. Ich holte kräftig aus und schmetterte den Dolch in eine der Röhren, die direkt über den nächsten Angreifern hingen. Sie zersprang in tausend Scherben und Funken tauchten die Passage des Korridors kurz in ein glimmendes Licht. Die beiden Raider duckten sich erschrocken und schufen mir so genug Raum, um mich mit einem akrobatischen Sprung über sie zu werfen. Asuka tat es mir gleich und folgte mir auf dem Fuß. Fremde Flüche waren die einzigen Waffen, die man mir in den Rücken warf. Die übrigen Raider hatten bereits die Verfolgung aufgenommen.

    Hektisch blickte ich mich um. Ein enger Gang folgte auf den nächsten. Trostloses, elektrisches Licht empfing mich in jedem Winkel dieser Hölle. Keine Schatzkammer, kein Lager. Ich hatte nicht mehr die Zeit, meine Habseligkeiten zu suchen. Jetzt ging es nur darum, einen Ausweg aus diesem Gefängnis zu finden.

    Durch einen Kampfschrei vorgewarnt, versuchte ich dem Tritt einer kurzhaarigen Furie zu entkommen, doch diesmal war ich zu langsam. Ihre pechschwarze Haut hatte sie in den Schatten der Gänge verborgen. Als sie aus einem der seitlichen Räume hinausgeschossen kam, traf mich ihr mit Nieten besetzter Stiefel in die Hüfte.

    Schmerz durchzuckte mich, als ich unkontrolliert in einen losen Vorhang krachte, der als Raumtrenner diente. Innerhalb weniger Sekunden fand ich mich in einer neuen Umgebung wieder, weitaus geräumiger als noch meine Zelle. Ich hatte nur einen kurzen Moment, um meinen Blick über die Landkarten schweifen zu lassen, die an den Wänden hingen: Eine zeigte Irland, die anderen Regionen waren mir unbekannt. Mehr Zeit blieb mir nicht, denn meine Verfolger preschten schon durch das tanzende Laken. So schnell wie möglich kam ich wieder auf die Beine. Nur Asukas wildes Gebell gab mir genug Zeit für eine weitere Flucht. Die Tollwut sprach aus ihren bösartigen Augen. Ich bemitleidete jeden, der sich mit ihr anlegte.

    »Мамка му!«, brüllte der eine und versuchte, sich von meiner kleinen Bestie loszureißen. Ich wollte sie um nichts in der Welt zurücklassen, nur musste ich diese Chance nutzen. Glücklicherweise war Asuka intelligenter als viele der Schläger, die an meinen Fersen hingen. Sie würde vermutlich vor mir aus diesem Wirrwarr entkommen, draußen an einem Baum auf mich warten und Geschäfte erledigen. Mit der Schulter stieß ich eine weitere Tür auf und rannte wie der Teufel. Ich gelangte an ein verschlossenes Tor und vermisste augenblicklich die ungebrochene Weite der Natur.

    »Wie viele Türen denn noch ...?«, murmelte ich leicht verzweifelt und drückte die Klinke hinunter. Plötzlich schlug mir kalte, klare Luft entgegen und das Licht der Sonne blendete mich. Ich schützte meine Augen und versuchte, mich zu orientieren. Vor mir lag eine weite Plattform. Links davon verlief die Außenwand des Ganges. Rotgrüne Adern zogen sich durch das verwitterte Metall und Schnee bedeckte das Dach. Für eine Sekunde wollte ich mich ohne zu zögern vom Rand stürzen, um endlich zu entkommen. Leider war die Plattform von einer Wand aus Nadelbäumen umgeben, die so dicht war, dass ich nie durch sie hindurch schlüpfen konnte. Beinahe schien es, als hätte sie jemand absichtlich so gepflanzt. Eine spitze, grüne Mauer. Ich hatte das Gefühl, im Innenhof einer alten Bastei zu stehen.

    Irland selbst war vor wenigen Jahrhunderten noch eine beinahe entwaldete Insel gewesen, das hatte ich aus verschiedenen Büchern im Kloster erfahren können. Die atmosphärischen Veränderungen durch die Einschläge und das fehlende Eingreifen einer Industrie hatten aber für die Rückkehr der Bäume gesorgt. Die Fabrik, die ich aufgesucht hatte, lag direkt im Bleanbeg Bog, einer weitgehend unbewohnten Naturebene, die bis auf einige Flächen mittlerweile voll von kleineren Wäldern war. Die Anlage musste sich also noch ganz in der Nähe befinden. Ich atmete die scharfe Luft ein und suchte nach anderen Wegen in den schützenden Arm von Irlands Tälern. Vom Himmel schwebten in der Windstille kleine Flocken zu Boden. Ich rannte hektisch ins Freie. Ich musste wohl oder übel wieder in das Innere des Gebäudes gelangen und das Ende dieses endlosen Ganges suchen. Bevor ich den Eingang erreichte, machte mir das Schicksal einen Strich durch die Rechnung.

    Die Pforte ins Labyrinth klappte scheppernd zur Seite und mehrere bewaffnete Männer traten heraus. Auch sie hatten rote Symbole auf ihrer Kleidung. Jeder trug eine schwere Armbrust und richtete sie direkt auf meinen Schädel. Abrupt bremste ich ab und machte kehrt, nur um hinter mir dieselben grimmigen und schadenfrohen Fratzen meiner Verfolger zu sehen. Einer der beiden Hünen hatte Asuka im Arm, die winselnd nach Luft rang.

    Kathlyn, die rothaarige Messerwerferin, hielt ihren verbliebenen Dolch in meine Richtung und fletschte die Zähne.

    »Bleib stehen oder ich befehle Viktor, deinem Hund den Hals umzudrehen!«

    Niemand tat Asuka etwas an, ohne selbst bei dem Versuch zu sterben. Doch ich hatte keine Wahl. Mein Blick verdüsterte sich und ich bewegte mich nicht mehr. Erst jetzt merkte ich, dass ich schon ziemlich außer Atem war. Die Verfolgungsjagd war anstrengender gewesen, als seelenruhig durch menschenleere Produktionshallen zu wandern. Jetzt war ich umstellt.

    Behutsam hob ich den Arm und deutete auf Viktor. Alle zückten ihre Waffen und zielten schussbereit auf mich. Ich würdigte sie keines Blickes. Im Gegenteil: Ich sprach ebenfalls eine Warnung aus.

    »Wenn du es auch nur wagst, meinen Hund anzurühren, werde ich jeden einzelnen Knochen in deinem Körper brechen.« Meine Unterlegenheit war mir im Moment gänzlich egal. Ich würde nicht kampflos sterben. Es konnte sich nur um Sekunden handeln, bevor irgendjemand den ersten Schritt tat.

    Kathlyn begann, hämisch zu grinsen.

    »Der Vierbeiner scheint dir wohl wichtig zu sein. Das kümmert mich nur wenig. Wenn du nicht auf der Stelle mit deinem Köter sterben willst, dann geh auf die Knie und lege all deine Waffen nieder.«

    Erwartungsvoll verfolgten die dutzenden Raider um mich herum all meine Bewegungen. Ein vernünftiger Mann hätte den Befehlen Folge geleistet. Doch das würde bedeuten, dass ich mich knechten ließ von diesen Halsabschneidern, und Asuka würde wahrscheinlich so oder so sterben. Mit mir hatten sie den falschen Scavenger eingesperrt; oder zumindest den unvernünftigsten.

    »Nein«, erwiderte ich entschlossen und suchte einen festen Stand. »Lasst meinen Hund frei und ich werde vielleicht davon absehen, euch alle umzubringen.«

    Ich knurrte mit zusammengepressten Zähnen und wartete auf die Reaktion meiner Gegner. Die Gewissheit, dass ich heute wahrscheinlich mein Leben lassen würde, gab mir zusätzlich Kraft für den bevorstehenden Kampf. Mittlerweile war auch der kleine Mann mit den Stiefeln vorgetreten – wenn man ihn denn noch einen Mann nennen konnte – und schaute mich überrascht an.

    »Das ist dein Todesurteil. Bist du wahnsinnig? Gegen all diese Kämpfer hier hast du niemals eine Chance.«

    Alle warteten nur darauf, mich mit ihren Bolzen und Dolchen durchbohren zu können. Natürlich hatte der Winzling recht.

    Im Leben traf man Entscheidungen aus Überzeugung oder Dummheit. Beides lag näher beieinander als ein Baum und sein Schatten. Ich antwortete nicht und stand regungslos im Zentrum der Plattform. Beinahe hoffte ich, die Raider würden mich angreifen.

    Kathlyn schaute mir in die Augen und schien zu verstehen, dass ich nicht nachgeben würde. Sie nickte langsam und streckte die Hand in die Höhe. Gleich würde sie den Befehl geben, zu feuern.

    Ich schaute mich um und arbeitete derweil einen schnellen Plan aus. Wenn ich flink genug war, würde ich auf das Dach des Ganges neben mir gelangen können. Die hohe Position würde mir einen Vorteil verschaffen. Vielleicht hatte ich sogar noch eine kleine Chance, zu überleben. Wer auch immer Asuka in seiner Gewalt hatte, ich würde ihn zuerst töten. Adrenalin durchschoss meinen Körper. Mein Herz schlug immer schneller. Die Luft knisterte, als würde sie gleich explodieren und die Plattform in Brand setzen.

    Ich schloss die Augen. Jetzt greife ich an.

    Plötzlich durchschnitt eine tiefe Stimme das drückende Schweigen und ich schlug verwirrt die Augen auf. Der kleine Mann zuckte kurz zusammen und schaute mir über die Schulter, als würde der Tod selbst hinter mir stehen.

    »Haltet ein, ihr Narren!«, dröhnte es von der anderen Seite. Es musste jemand von Bedeutung sein, sonst hätte ich vermutlich schon mehr Löcher im Körper als ein Bienenstock. War das ein versöhnlicher Gefallen des Schicksals? Wollte man mir eine Möglichkeit zur Flucht verschaffen?

    »Du denkst sicherlich, jetzt wäre ein guter Augenblick, zu fliehen.« Der tiefen Stimme folgte ein Klicken – ganz so, als würde jemand eine Waffe entsichern. Meine Mundwinkel verzogen sich merklich nach unten. Es wäre zu schön gewesen.

    »Lass dir von mir einen Rat geben: Du liegst falsch. Bevor du dich auch nur regen könntest, hätte ich bereits ein Loch in deinen Brustkorb geschossen. Vielleicht könnte ich durch dich hindurch sehen und Kathlyn winken.« Verhaltenes Gelächter ertönte.

    Auch das noch. Ein Witzbold.

    Ich schwieg und blickte auf die starren Gesichter, angespannten Körper und rot bemalten Uniformen, die einen engen Kreis um mich zogen. Ich hatte wohl den schlafenden Bären geweckt, dem diese Hölle gehörte.

    »Ich interpretiere dein Schweigen als einsichtige Zustimmung. Bei der Auctoritas lernt man wohl doch etwas Vernunft.«

    Der Ton der Stimme war nun spöttisch. Ich dagegen stutzte. Wenn meine Gastgeber mich für einen Abgesandten der Auctoritas hielten, konnte ich mir zumindest ihre aggressive Grundstimmung erklären. Als stolzer Scavenger hatte ich das Bedürfnis, dieses Missverständnis sofort aus der Welt zu schaffen.

    »Ich bin nicht von der Auctoritas«, zischte ich zähneknirschend und begann, mich umzudrehen, »und Vernunft ist mir so fremd wie ein Bad es eurer stinkenden Truppe zu sein scheint.«

    Mit meinen Bewegungen sorgte ich für Unruhe. Einige schüttelten ihre Waffen wie Flaggen, die sie präsentieren wollten. Andere wechselten misstrauische Blicke.

    Irgendwann stand ich Angesicht zu Angesicht mit der greisen Person, die eine alte Impulskanone auf mich richtete. Meine Verfolger hatten keine Angst vor diesem Mann. Es war Respekt, den ich in ihren Augen sah. Respekt vor einer mehr oder weniger gebrechlichen Gestalt, die ganz und gar nicht nach einem stumpfen Anführer der Raider aussah. Es war kein gefährlicher Krieger, der vor mir stand, sondern ein alter, blinder Mann. Verwundert stockte mir der Atem. Trotz seiner milchigen Augen richtete er den Lauf der Waffe gezielt auf meinen Kopf. Er war blind, keine Frage – aber Zielen gehörte wohl zu seinen gottgegebenen Talenten. Interessiert hob er seine Augenbrauen und starrte in meine Richtung.

    »Nicht von der Auctoritas, sagst du? Aber meine Männer haben dich in der Nähe der alten Fabrik gefunden. Dich und deinen Hund, wie mir zugetragen wurde.« Er kniff die Augen zusammen und wartete gespannt auf meine Antwort. Hinter mir kamen Schritte näher. Kurz darauf stand Kathlyn nicht weit neben mir und hielt ihren Dolch fest umklammert. Meinen Fluchtplan konnte ich bei den anderen Dingen begraben, die in meinem Leben schiefgelaufen waren. Seufzend wandte ich mich dem alten Mann zu.

    »Das ist richtig. Dort hat dein Raider-Pack mich überfallen. Ich bin Scavenger, nicht mehr. Ich habe in der Fabrik alte Technologie gesucht, um sie in der Stadt zu verkaufen. Es wundert mich, dass nicht vor mir schon welche hier waren.«

    Der alte Mann senkte zögerlich die Waffe. Er runzelte immer noch ungläubig die Stirn und leckte sich über die Lippen.

    »Ein Scavenger? Nun, Junge, die meisten Scavenger wissen, dass diese Fabrik uns gehört. Deswegen schnüffelt normalerweise auch keiner von ihnen hier herum. Nur die Auctoritas wäre an ihr bestimmt sehr interessiert. Aber da auch sie weiß, dass wir hier sind, würde sie vermutlich erst einen Kundschafter schicken, bevor sie ihre Leute als unser Kanonenfutter opfert. Jemanden, der herausfindet, wie viele wir sind und was wir alles in dieser Fabrik verstecken. Also ganz genau jemanden wie dich.« Die Gesichtszüge des alten Mannes zuckten. »Und wären wir Raider, würdest du schon als Trophäe auf einem Pfahl baumeln wie die armen Hunde in Kilkenny.«

    Widerwillig stellte ich fest, dass er recht hatte. Ich war verdächtig. In Irlands Wildnis galt kein Ehrenkodex; eine Fabrik zu betreten, machte einen automatisch zu Freiwild. Spielte es da eine Rolle, ob einem die Auctoritas an die Gurgel wollte oder ein paar Söldner?

    Nach kurzem Schweigen nickte ich in Richtung des stählernen Labyrinths, das mich nach wie vor in seinen Klauen hielt.

    »Irgendwo da drin bewahrt ihr meine Sachen auf. Schaut doch nach und überzeugt euch selbst. In meinem Beutel habe ich Energiezellen verstaut und darunter an die zwanzig EVOPads. Ich wollte damit weiterziehen und etwas Geld machen. Die Auctoritas geht mir am Arsch vorbei und wenn ich ehrlich bin, ist es mit diesem traurigen Haufen nicht anders. Der da hinten soll nur meinen Hund loslassen, bevor ich mich noch vergesse und Blut fließen muss.« Mit meinem gestreckten Zeigefinger deutete ich auf den verdutzt dreinblickenden Kerl, der Asuka noch umklammert hielt.

    Der Greis bedeutete ihm seufzend, Asuka freizulassen.

    Erleichtert fiel ich auf die Knie und streichelte meine völlig aufgelöste Hundedame. Sie hatte heute viel für mich riskiert, vielleicht sogar mein Leben gerettet.

    »Vielen Dank«, raunte ich leise und zeigte meinerseits etwas Respekt vor der Geste des Alten. Die Lage entspannte sich und ich sah meinen Tod enttäuscht davongaloppieren.

    »Allzu fremd scheint dir Vernunft doch nicht zu sein. Ich möchte nicht, dass hier Blut fließt. Lass uns also nachsehen, ob du die Wahrheit sagst.« Er drehte sich kurz zur Seite und schwenkte seine Waffe. »Bringt die Sachen des Mannes hierher!«

    Kathlyn schien sich freiwillig für die Aufgabe zu melden. Ich konnte in ihrem wütenden Gesicht sehen, wie sehr sie darauf brannte, mir einen Dolch in den Rücken zu jagen.

    »Vorsichtig, Kathlyn. Der Inhalt ist zerbrechlich!«, rief ich ihr zu.

    Zwei Dolche. Ein Grinsen breitete sich aus und im Schneidersitz machte ich es mir auf dem Boden gemütlich. Asuka legte zufrieden ihren Kopf in meinen Schoß. Wir warteten ein paar Minuten und der alte Mann schaute in die Leere.

    »Ich möchte dir keine Hoffnungen machen. Unsere kleine Hochburg hier ist kein Ort, von dem erzählt werden soll. Deine Chancen, ihn lebend zu verlassen, sind im Moment ziemlich gering. Solltest du lügen – und ich werde herausfinden, ob du das tust – möchte ich noch einiges über die Auctoritas erfahren, bevor wir dich töten. Sie hat schon genügend Fabriken besetzt. Diese hier bleibt aber in unserem Besitz.«

    Kleine Schneeflocken schmolzen auf meiner Haut und kitzelten meinen Körper. Ohne den Blick zu heben, schüttelte ich den Kopf.

    »Ich kann über nichts sprechen, von dem ich nichts weiß. Und weder weiß ich etwas über diesen Ort noch über die Auctoritas. Die roten Markierungen auf euren Uniformen kenne ich genauso wenig. Für Plünderer fehlt euch Diskretion. Ich hatte eher damit gerechnet, dass ihr mich tötet und meine Sachen an euch nehmt. Auf eine Befragung dagegen bin ich nicht vorbereitet gewesen. Das erscheint mir dann doch etwas unüblich und lässt in mir die Frage aufkeimen, wer ihr eigentlich seid.«

    Meine trockene Art schien dem Mann zu gefallen, denn er lachte gemächlich und richtete seine weißen Augen auf mich.

    »Das mag sein. Wir kennen die Gepflogenheiten aus deiner Welt wohl nicht sonderlich gut. Wir halten uns von alledem fern. Aber du irrst, wir sind keine Plünderer. Und meine Leute hätten dich schon längst getötet, wenn ich nicht geduldiger wäre als die Gorillas der Raider. Jemanden umzubringen, ist dumm. Man erfährt nichts. Ich habe schon einiges miterlebt. Einen einfachen Scavenger aufgegriffen zu haben, würde mich doch etwas enttäuschen. Ich hoffe, hinter dir steckt etwas mehr. Und wenn es auch nur zu unser aller Belustigung wäre.« Ein paar Männer lachten. Langsam verflog ihre Bedrohlichkeit ein wenig. Zumindest schien ich es hier nicht nur mit absoluten Hohlbirnen zu tun zu haben, wie ich anfangs gedacht hatte. In diesem Moment kam Kathlyn aus der stählernen Tür getreten und lief auf den alten Mann zu. Sie hatte zu meiner großen Freude sowohl mein Schwert als auch meinen vollgestopften Beutel bei sich. Doch die Heuschrecken lauerten schon. Sie hatten ihn noch nicht durchsucht, aber das würden sie jetzt wohl in meinem Beisein nachholen. Auf diese Weise konnte ich wenigstens darauf achten, dass sie nichts zerstörten. Besonders meine wertvollen Energiezellen.

    Der alte Mann drehte sich halb um und starrte wieder in die Luft.

    »Kathlyn, wir haben dich schon erwartet. Ich brenne darauf, zu erfahren, was dieser Mann alles mit sich geführt hat. Am Ende haben unsere Männer tatsächlich nur einen Vagabunden eingesperrt ...«

    Ich merkte, wie der kleine Mann mit den Stiefeln etwas verlegen zu Boden schaute. Es würde ihm wohl besser gefallen, wenn ich irgendeinen Wert hätte. Kathlyn stellte meinen Beutel unsanft auf den Boden. Ihrem Blick nach zu urteilen mit purer Absicht. Sie öffnete den Beutel und kramte dann wild darin herum. Zu grob für meinen Geschmack.

    »Langsam! In der Stadt erziele ich nur mit gutem Zustand auch gute Preise!« Als käme ihr das gerade recht, donnerte die dolchwerfende Kriegerin die nächste Energiezelle demonstrativ hart auf den kalten Boden. Bevor ich alles noch verschlimmerte, ließ ich das Reden lieber sein. Irgendwann hatte Kathlyn alles auf den Stahlplatten verteilt und ließ ihren Blick darüber schweifen, während der Alte erwartungsvoll hinter ihr stand. Er trat einen vorsichtigen Schritt vor und versuchte, in ihre Richtung zu sprechen.

    »Was hat er bei sich? Irgendwelche Geräte der Auctoritas? Waffen? Setz uns doch kurz in Kenntnis, bitte.«

    Fast schon etwas enttäuscht schüttelte Kathlyn den Kopf.

    »Nichts. Er hat lediglich ein Schwert bei sich. Sieht exotisch aus.« Sie wendete meine Samurai-Klinge und schaute etwas verwundert drein, bevor sie mit ihrer kleinen Inventur fortfuhr. »In seinem Beutel sind die Geräte, von denen er gesprochen hat und einige Energiezellen. Sie sehen gut aus, wir könnten sie für unseren Radar verwenden. Außerdem ist da noch ein Fell und ein schwarzer Stein. Sehr leicht, vermutlich wertlos.«

    Bei ihren letzten Worten horchte der alte Mann auf. Hoffentlich nicht, um meine wertvollen Souvenirs zu stehlen, sonst konnte es schnell wieder ungemütlich werden.

    »Wie bedauerlich. Dann bist du also tatsächlich ein Scavenger. Kein guter, will ich meinen. Die Fabrik ist äußerlich zerstört, das erkennt ein brauchbares Auge sofort. Für Scavenger normalerweise ein rotes Tuch. Was hast du dir erhofft, dort zu finden?«

    Ich beobachtete misstrauisch die Hand des Mannes, wie sie langsam das Gewehr streichelte. Ich hatte mich nie mit Regeln oder Statuten des Scavenger-Daseins auseinandergesetzt. Meine Knie knackten, als ich aufstand.

    »Ein Festmahl, das niemand anrührt, sieht vielleicht schön aus. Schmecken kann es trotzdem wie Kuhmist. Zerstörte Fabriken sind meist strategisch wertvoll gewesen. Ich habe also gefunden, was ich gesucht habe – nur wusste ich nicht, dass auch noch Leute abseits der Auctoritas Anspruch auf die Dinge der Vergangenheit erheben.«

    Ich stieß ein abfälliges Schnauben aus. Fabriken gehörten niemandem. Wozu brauchte eine Gruppe gut ausgebildeter Leute mitten in der Wildnis eine ganze Fabrik?

    Der Greis hatte sich mittlerweile an meinen Beutel herangetastet und schien mich in den letzten Minuten komplett ignoriert zu haben. Wahrscheinlich hatte er kein Interesse daran, mit einem Fremden über die Moral seines Handelns zu diskutieren. Dennoch runzelte er irgendwann die Stirn und schüttelte den Kopf.

    »Wir erheben Anspruch, damit es die Auctoritas nicht tut. Wir bauen einen Damm, wenn man so will, und schotten einen kleinen Zulauf von dem zerstörerischen Strom ab, zu dem es ihn drängt. Ich erwarte nicht, dass du das verstehst. Auch wenn ich glaube, du könntest es.«

    Er schaute seltsam drein und flüsterte Kathlyn etwas zu, das ich aus der Entfernung nicht verstand. Augenscheinlich hatte er nach dem Stein gefragt. Meinem Stein, denn sie reichte ihm die Kostbarkeit und legte sie ihm in die Hände. Die Waffe hatte er zu meiner Beruhigung zur Seite gelegt. Sie war leider zu weit, um sie zu erreichen. Skeptisch beobachtete ich ihn dabei, wie er meine schwarze Perle umklammerte. Seine Augen weiteten sich. Irgendetwas schien Shinjis Geschenk in ihm auszulösen. Ein Flüstern aus der Vergangenheit womöglich. Eine Erinnerung, die ihn einholte.

    »Dieser schwarze Stein ... woher hast du ihn? Etwa auch aus der Fabrik?« In seiner Stimme lag plötzlich etwas Vertrautes, das ich vorher noch nicht wahrgenommen hatte.

    »Von einem Freund«, sagte ich und schaute den alten Mann fragend an. »Er schenkte ihn mir, als ich ihn verließ.«

    »Wie war der Name deines Freundes?« Der Greis hakte unzufrieden nach. Er klang beinahe energisch; als hätte er schon eine Vermutung, die er sich nicht traute, laut auszusprechen.

    Ich zögerte kurz. Als ich die verwirrten Gesichter seiner Gefolgschaft sah, begann ich, mich langsam dafür zu interessieren.

    »Sein Name ist Shinji Asano. Er lebt noch, falls das die nächste Frage gewesen wäre. Mehr werdet ihr von mir nicht erfahren.«

    Ich würde nicht zulassen, dass diese Banditen aus Gier nach den schwarzen Steinen Shinji aufsuchten. Er war mein Freund – meine Familie. Ihn zu verraten, wäre das Schlimmste, was ich tun konnte.

    Allerdings schien ich gar nicht in diese Bedrängnis zu kommen, denn der blinde Mann schaute plötzlich beinahe erschüttert drein. Es war ein Ausdruck in seinem Gesicht, den man von alten Freunden kannte, wenn sie sich wiedersahen – vermischt mit einem lang vergessenen Schmerz. Auch Kathlyn schien das zu bemerken, denn verunsichert legte sie ihre Hand auf die Schulter ihres Anführers. Dieser wiederholte flüsternd Shinjis Namen. Er richtete sich auf.

    »Woher kennst du Shinji? Etwa hier aus Irland?« Seine Hand zitterte. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Der Mann kannte Shinji und der schwarze Stein hatte etwas damit zu tun.

    »Du weißt, wer er ist, nicht wahr?«

    »Sag mir erst, was ich wissen möchte! Woher kennst du ihn?«

    Er hob seine Stimme und kam näher.

    Ich erschreckte mich nicht, aber auf einmal sah er viel gebrechlicher aus. Viel älter. Der kalte Wind sauste zwischen uns hindurch und ich konnte am Himmel sehen, wie die letzten Überreste des Unwetters verschwanden. Die Wolken lauschten uns. Sogar Asuka strich unruhig um meine Beine.

    »Durch meinen Vater. Shinji war einer seiner engsten Vertrauten. Sie haben zusammen in den Kolonialkriegen gekämpft. Mein Vater brachte mich zu ihm, bevor–« Ich stockte. Ich dachte nicht gern daran. »Bevor er bei einem Angriff der Auctoritas gestorben ist. Shinji hat mich daraufhin großgezogen.«

    »Dein Vater? Nein ... das ist unmöglich. Ich dachte …« Mit wackeligen Beinen setzte er sich auf einen stählernen Kasten, der aus dem Boden der Plattform herausragte. »Connor. War der Name deines Vaters Connor?«

    Stille.

    Ich atmete tief durch und versuchte sicher zu sein, mich gerade nicht verhört zu haben. Beim Anblick des Greises – wie er dort saß und in die Luft starrte, sehnlichst auf meine Antwort wartend – wurde mir ganz flau im

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