Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Das Verschwundene Tal
Das Verschwundene Tal
Das Verschwundene Tal
eBook342 Seiten5 Stunden

Das Verschwundene Tal

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Wulfiard von Gandra hat den Krieg in seiner Heimat, den nordischen Greiflanden, satt. Als Skalde zieht er zum Unsteten Pfad, der Landenge zwischen den Greiflanden und Scimmien, dem heißen Südkontinent. Dort werden andere Götter verehrt, es herrschen andere Sitten und die Frauen sollen von ungeahnter Schönheit sein. Es heißt, hier kann ein Händler reich werden, ein Krieger ein Reich erobern, ein Mann seine große Liebe finden. Darum wagen es Männer und Frauen immer wieder, den Weg über die himmelhohen Klippen zu nehmen. Schon vor vielen unlauteren Herzen ist der Pfad verschwunden und hat die Reisenden in den Tod stürzen lassen.
Doch die Gefahr lohnt sich, denn als Nordmann stehen Wulfiard viele Wege und Herzen offen. Und da er keine Gelegenheit bei den schönen Südländerinnen auslässt, gerät er zwischen die Schwerter der Gesetzeshüter, die Knüppel gehörnter Ehemänner und die Dolche der Ssadesti, einer gefährlichen Bande. Deren Anführer Ssadec Tabar wurde bei der Thronfolge in Bual-Bator, einem Emirat in Scimmien, übergangen. Dafür rächt er sich mit Attentaten, Diebstahl und der Entführung der schönsten Frauen. Die macht er willenlos, sodass sie einen Anreiz für alle Gesetzlosen des Landes bieten, zu ihm ins Verschwundene Tal zu kommen. Mit Hilfe eines Magiers wurde eine unüberwindliche Mauer geschaffen, hinter der es sich die Ssadesti mit Drogen, Gelagen und den geraubten Frauen gut gehen lassen.
Auch auf Wulfiard hat der Ruf dieses Tals, dessen Herr sich selbst als Freiheitskämpfer bezeichnet, eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Vor allem, weil die junge Frau, für die er zum ersten Mal in seinem Leben echte Gefühle entwickelt hat, in dieses Tal entführt wird. Mit Hilfe eines Schmiedes, der als Agent des Emirs in der Gegend ist, soll er einen Eingang in das Tal finden. Zuerst will er aber herausfinden, ob die Ssadesti tatsächlich nur gemeine Mörder sind, oder ob das Leben in Fülle und Wollust das ist, was er auf seinen Wanderungen gesucht hat.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum10. Jan. 2017
ISBN9783738098440
Das Verschwundene Tal

Ähnlich wie Das Verschwundene Tal

Ähnliche E-Books

Fantasy für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Das Verschwundene Tal

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Das Verschwundene Tal - Dietmar Preuß

    Kapitel 1

    „So schmal, dass eine alte Vettel ihn mit einer Mistgabel verteidigen könnte!", sagte der Führer des Handelstreks zu dem Skalden an seiner Seite. Mit seinem breiten Gesicht und dem selbstgefälligen Grinsen konnte der Händler nur Kronländer sein. Er deutete nach vorne, wo der Unstete Pfad hinter den Dolmen Wodans begann. Hunderte von Ruten hoch erhob sich ein schmaler Felsarm aus dem Meer. Die Götter, die die Welt in zwei Kontinente geteilt hatten, hatten auch diese einzige Landbrücke zwischen Nord und Süd geschaffen. Aus der Ferne wirkte der Felsarm wie die Klinge einer Axt, die jemand mit der Schneide nach oben auf einen Silberspiegel gelegt hatte.

    „Scheint heute breit genug für Packpferde zu sein." Der Trekführer kratzte sich den Schmerbauch, über den sich ein speckiges, graues Leinenhemd spannte. Der hochgewachsene Skalde neben ihm legte die Hand über die Augen und betrachtete den Weg, der von ungeheuren Kräften auf halber Höhe in die Flanke der Axtklinge geschnitten worden war. Der Pfad war etwa fünfhundert Ruten lang, ein winziges Stück verglichen mit den Entfernungen, die Karawanen und Handelstreks davor und danach zurücklegten. Und dennoch flößte der plötzliche Anblick dem Skalden Respekt ein. Unbewusst griff er nach dem Langdolch an seinem Gürtel und murmelte ein paar Worte, mit denen er Donar um Mut bat.

    Erst vor wenigen Augenblicken hatte der Handelstrek des schmierigen Kronländers den Wald verlassen, der für die meisten Bewohner der Greiflande Schutz und Heimat bedeutete. Wie eine Mauer stieg das satte Grüne hinter ihnen empor. Und obwohl die Hitze des Südens vor ihnen schon zu ahnen war, hielt sich hinter ihnen noch der Nebel in den Baumwipfeln.

    Auf dem felsigen Dreieck vor ihnen, das sich zu der Landbrücke hin verengte, lagerten Hunderte von Packpferden, Treibern und bewaffneten Reisigen. Lagerfeuer verbreiteten den Duft nach brennendem Holz und gebratenem Fleisch. In dem Gewirr der Rufe und lautstarken Diskussionen, das bis an den Waldrand drang, waren Ungeduld, Nervosität und Angst deutlich zu erkennen. Händler und Treks wie der, den der Skalde begleitete, zogen auf der Suche nach einem Lagerplatz durch die engen Gassen des Lagers. Reisige und Glücksritter aller Herzogtümer der Greiflande brachen ihre Zelte ab, nur um sie ein paar Dutzend Ruten näher an den Dolmen vor dem Unsteten Pfad wieder aufzuschlagen. Wie mahnende Finger ragten sie an der engsten Stelle des Lagers in die Höhe. Hinter den Dolmen begann der schmale Pfad, zu dessen linker Seite sich der Fels in schwindelerregende Höhen auftürmte. Zur Rechten fiel der Fels etwa zweihundert Ruten unter dem Unsteten Pfad steil ab, wo das Meer im Licht der weißen Sonnenscheibe gleißte.

    Die klaren blauen Augen des Skalden wanderten nach oben, und er fand, was an den heimischen Feuern in Runland immer wieder erzählt worden war. Hoch über den Dolmen war der reich verzierte Eingang eines Tempels in der Felswand zu sehen. Weder Stufen noch Leitern führten zu dem verwitterten Heiligtum. Angeblich stand die in den Berg geschlagene heilige Stätte leer, andere erzählten, ein unsterblicher Zauberer hause darin. Er sorge dafür, dass der Pfad sich verenge, wenn ihm nicht gefalle, was er in den Herzen und Köpfen der Menschen las. Der Skalde hielt das für eine Geschichte, wie er selbst sie an fast jedem Abend erfand. Doch niemand, der zu den Dutzenden Karawanen, Pilgern und Abenteurern zweifelhafter Herkunft gehörte, hätte versucht dieses Heiligtum zu besuchen. Sie alle warteten nur auf einen günstigen Zeitpunkt, den Unsteten Pfad zu passieren.

    „Wann ist es das letzte Mal vorgekommen, dass der Pfad schmaler wurde?", fragte der Skalde, der für einen Runländer eher sehnig als muskulös zu nennen war. Unbewusst fuhr er sich mit der Hand durch das blonde Haar, das ihm vor die Augen gefallen war.

    „Bekommst du es mit der Angst zu tun, Geschichtenerzähler?" Der Trekführer schwang sich in den Sattel und sah abfällig auf ihn herab. Kronland lag mit den Sippen Runlands seit Ewigkeiten im Krieg, und der Skalde hatte sich gewundert, dass ihm die Händler im Herzen des weiter südlich liegenden Quellreichs angeboten hatten, sich ihnen anzuschließen. Er hatte den Grund während der vierzehn Reisetage herausgefunden und sah sich nun nach den geduldig wartenden Männern und Frauen um. Es waren kräftige, untersetzte Leute, die sich mit ihren breiten Gesichtern und blassen Augen neben ihm, dem hochgewachsenen Runländer, ausnahmen, als hätten Wodan und Baldr sie beim Verteilen körperlicher Vorzüge vergessen.

    Du solltest Angst haben, Beutelschneider, knurrte der Skalde. „Glaubst du, ich habe nicht gesehen, was ihr in den Pelzballen versteckt haltet?

    Sie waren bald in der Mitte des Lagers der Zaudernden angekommen, in dem unentschlossene Bogenweiber aus den Klingensteppen, zögerliche Goden aus den Schimmelhainen und mit Turbanen und Dschellabahs vermummte Händler aus Scimmien auf ein günstiges Zeichen warteten. Die Angst und Nervosität waren nun für Wulfiard, so hieß der Skalde, körperlich spürbar.

    „Ach, beim Flammenhaarigen! Wodan und al-Lat können ihre Augen nicht überall haben, fluchte der Trekführer. „Was glaubst du eigentlich, warum wir dich feigen Runländer mit uns reisen lassen? Mit tückischen Augen sah der Händler den erhobenen Hauptes ausschreitenden Skalden an seiner Seite an und zog sein Schwert. „Du wirst vorgehen! Los! Der Zeitpunkt scheint günstig, denn dich naiven Herzling wird der Unstete Pfad nicht fallen lassen."

    Die Männer und Frauen um sie herum sprangen von ihren Lagerfeuern hoch. Wie eine Welle setzte sich das Klirren von Metall auf Metall, das Klappern von Holz und das Knarzen lederner Kleidung um sie herum fort. Als die Leute erkannten, dass hier ein Trek den Mut hatte, ohne Rast auf den Pfad zu reiten, folgten sie den Kronländern zu den Dolmen. Anerkennend nickten hartgesottene Männer und Frauen, raunten einander zu, denn der Kronländer und seine Leute zögerten nicht wie sie selbst, die sie zwischen ihren Pferden, Kamelen, Waffen und Waren ausharrten.

    Während sich die Kronländer geradewegs auf den Unsteten Pfad zu ritten, fasste eine Handvoll Männer vor ihnen, mit Kiepen auf den Rücken und gedrehten Wanderstäben in den Händen, ebenfalls Mut. Sie beschlossen, das Wagnis einzugehen, und passierten noch vor ihnen die Dolmen Wodans. Der Unstete Pfad bot genug Platz für die breiten Körbe auf ihren Rücken und der felsige Weg blieb unverändert, denn der unsichtbare Wächter war offenbar einverstanden mit der Passage der Kiepenträger. Dennoch vermieden es die Männer, die sich vor der Felswand ausnahmen wie Ameisen, in die Tiefe zu sehen. Wo das Meer gegen die Felsen brandete, sollten unsagbare Wesen leben, mit messerscharfen Zähnen die einen, mit langen Tentakeln die anderen. Gift und Schmerz sollten dort unten auf die lauern, die sich beim Sturz nicht schon das Genick brachen. Doch die Kiepenträger kamen stetig voran.

    „Na also, hinterher!, rief der Trekführer. „Was diese armseligen Quellreicher können, können wir auch. Mit der gezogenen Klinge trieb er sein Pferd an.

    Die Wanderer und Händler, die noch Mut für den Aufbruch sammelten, sahen neugierig zu. Viele wünschten ihnen lautstark Glück bei der Passage, andere schwiegen, hofften vielleicht auf ein Unglück, damit ihnen dann ein solches mit geringerer Wahrscheinlichkeit drohte.

    Wulfiard hatte nicht die Absicht, auf dem gefährlichen Pfad in der Nähe der Schmuggler zu bleiben. Seine Frage nach den zwischen harmlosen Waren verborgenen Dingen hatte einzig den Zweck gehabt, sein Wissen zu offenbaren. Denn dass die Götter beider Kontinente über die einzige Verbindung zwischen den Kontinenten wachten, so wurde an den Lagerfeuern seines Volkes gemutmaßt, konnte nur einen Sinn haben. Keine Armee, ausgesandt von Königen, Herzögen, Imamen oder Wesiren, sollte jemals in das Land des anderen Gottes oder Pantheons eindringen. Das hieß auch, dass kein Mensch, der mehr Waffen als die zu seiner eigenen Verteidigung trug, den Pfad passieren würde. Und genau das taten die als Händler getarnten Schmuggler.

    Wulfiard, der Skalde aus Gandra, einem Dorf im äußersten Norden Runlands, passierte so eilig die beiden verwitterten Dolmen, dass die Kronländer mit den Packpferden nicht mithalten konnten. Natürlich hatte auch Wulfiard Furcht davor, den Unsteten Pfad zu betreten. Zwar war er sich keiner anderen Taten bewusst als jener, die der tägliche Kampf ums Leben mit sich brachte. Doch wer wusste, was die Mächte, die den Unsteten Pfad kontrollierten, davon hielten? Daher blieb die Furcht vor einem Fall ins Bodenlose. Aber alles war besser, als zu seiner heimischen Sippe zurückzukehren, selbst der Sturz in den Tod. Natürlich hätte er sich am liebsten Schritt für Schritt vorwärts getastet, nur langsam einen Fuß vor den anderen gesetzt. Während der langen Reise durch den nördlichen Kontinent hatte er sich vorgenommen, den Felsen zu beobachten und beim leisesten Zittern umzukehren und zurück zu laufen. Doch nun musste er sich beeilen, um nicht im Dunstkreis der Waffenschmuggler zu bleiben. Das Kribbeln in seinem Nacken wurde immer schlimmer, denn er sah sich gleich nur noch auf auf einem Fußbreit Felsen zu stehen, sich mit Händen und Füßen an die Wand krallen und am Ende in die Tiefe zu stürzen. Hoffentlich geht es schnell zu Ende und ich schreie nicht vor Angst, sodass Wodan und Donar meine Furcht sehen, dachte er. Immer schneller schritt er aus, bis er mehrere Pferdelängen Abstand vor den Kronländern gewonnen hatte. Er hielt den Blick fest auf den Pfad gerichtet, damit ihm nicht schwindelig wurde, denn ein einziger Fehltritt bedeutete den sicheren Tod.

    „Verfluchter Runländer!", hörte er hinter sich den Trekführer brüllen. Aber er marschierte unverdrossen weiter, die Hand am Dolch, so wie er früher mit den Kriegern seines Vaters marschiert war. Bald sah er - gut zweihundert Ruten voraus - einen mit Arabesken verzierten Spitzbogen: Das Tor Tengris, das Ende dieses halsbrecherischen Pfades -oder der Beginn, wenn man Scimmien verlassen wollte! Er hielt den Blick immer auf das Ziel gerichtet. Dahinter, so ahnte er, lag ein weiterer Lagerplatz, ähnlich dem, den er hinter sich gelassen hatte. Dort würde er in Sicherheit sein.

    „Schneller, Männer, treibt die Pferde an!, brüllte der Kronländer hinter ihm. „Verflucht, beim Feuerhaarigen! Schneller!

    Der Boden unter den Füßen Wulfiards begann zu vibrieren, während er dem Tor immer näher kam. Gleich hatte er es geschafft! Er legte die Hand auf den glatten Fels neben sich. Auch die Wand vibrierte, während hinter ihm die Schreie immer schriller wurden. Mit einem gewaltigen Satz hetzte er unter dem in den Fels geschlagenen Spitzbogen hindurch. Dort warteten bereits die Kiepenträger, beachteten ihn aber gar nicht. Zusammen mit mehreren Dutzend schwarzhaariger Menschen mit Hakennasen und Raubvogelblick sahen sie an ihm vorbei, sodass auch er sich umdrehte.

    Etwa fünfzig Ruten vor dem Arabeskentor begann der Unstete Pfad sich in die Felswand zurückzuziehen und wurde schmaler und schmaler. Schon schrammten die Pferde der Kronländer mit ihren Lasten an der Wand entlang, und immer weiter verschwand der Weg in der Felswand. Nur noch drei Fuß Breite blieben am Ende des Treks. Das letzte Packpferd der Reihe schrie vor Angst wie ein Mensch, seine Hufe suchten einen Moment lang in der Luft nach Halt, dann fiel es mit seinem Führer an der senkrechten Felswand herab. Schon rutschten auch die nächsten beiden Pferde mit ihren Treiberinnen ab und stürzten vor Todesangst kreischend in die Tiefe. Der fette Trekführer brüllte und fluchte und zerrte am Halfter seines Packpferdes, denn ihm bot der Pfad noch einen Fußbreit mehr Halt. Doch hinter ihm nahm das Unglück seinen Lauf. Als der vierte Mann aufschrie, den Halt verlor und samt Pferd in den Tod fiel, ließ er das Geschirr des Tiers los und rannte los. Der Unstete Pfad bot ihm kaum mehr Platz als einen halben Schritt, und während hinter ihm seine beiden letzten Männer und Pferde brüllend die Klippe hinunterstürzten, tastete er sich seitwärts an der Felswand weiter voran. Nur noch einen Fuß breit maß der Weg, vergeblich suchte er mit den Fingerspitzen Spalten in dem glatten Fels, um sich festzuhalten. Beim nächsten Schritt fand sein rechter Fuß keinen Halt mehr. „Bei Loki, verflucht seien Wodan und Tengris!", schrie er, keine zehn Ruten von Wulfiard, den Kiepenträgern und den vor Grauen erstarrten Scimmiern entfernt. Dann fiel auch er schauerlich schreiend die Klippe hinab ins Meer.

    Wulfiard, der vor Erschöpfung auf dem Boden zusammen gesunken war, ließ sich von zwei Scimmiern auf die Beine helfen und klopfte sich den Staub von der Kleidung. Die Kiepenträger nickten ihm zu, wandten sich wortlos ab und marschierten weiter, um die Emirate der Gotteskrieger zu erreichen. Die Scimmier, die sich auf dieser Seite auf die Passage vorbereiteten, hatten sich gesetzt und widmeten sich ihren Shishas und Gebetsteppichen.

    „Heimdall, meinen Dank, dass du mich über diesen Weg geleitet hast! Auch wenn es nicht der Bifröst ist", murmelte Wulfiard und holte tief Luft. Dann hob er den Blick und suchte am westlichen Horizont die von Sagen umwobene Insel beider Liebenden. Da war sie, ein winziger Punkt im endlosen Meer. Und da war auch das einzige Schiff, das nach dem Gebot der Götter allein das Meer neben der steilen Landbrücke befahren durfte. An seinen halbmondförmigen Segeln war es deutlich zu erkennen, so wie es die Geschichten an Herden und Feuern berichtet hatten.

    Kapitel 2

    Du, meine Schöne, wirst mich heute satt machen. Wulfiard schlenderte zum Ende der Bazargasse, wo eine üppig gebaute Batoriana mit bronzefarbener Haut und Glutaugen hinter einem der Stände auf Kundschaft wartete. Sie erwiderte seinen Blick, der untere Teil ihres Schleiers löste sich wie zufällig und zeigte ihr herzförmiges Gesicht, das von einer schwarzen Lockenpracht umrahmt war. Von ihr werde ich heute mein Mahl bekommen - und einen besonders süßen Nachtisch dazu. Wenn der alte Fettsack ihr Gatte ist, habe ich leichtes Spiel. Hinterher verdiene ich vielleicht noch den einen oder anderen Rachni für ein Nachtlager, dachte er. Und wenn nicht, dann werde ich eben im Schein des Tengrissohns schlafen. Es ist warm, es wird wieder einmal nicht regnen. Wulfiard vermisste den Regen, den weichen Landregen seiner Heimat.

    Die Händler auf dem Bazar von Fayum, farbenfroh aber nicht besonders reinlich gekleidete Männer, beobachteten ihn voller Misstrauen, während er neben den andern Leuten aus aller Herren Länder vorbei ging. In der Sommerhitze tummelten sich Söldner, Händler und Abenteurer - Männer, Weiber und Bachabazis zweifelhafter Herkunft zwischen den Ständen und Auslagen. Aber Wulfiard war der einzige der hochgewachsenen Nordmänner, die meist ihre Waffenkraft in einem der Kleinkriege der Emire oder Khane anboten, der ohne Kettenhemd oder ledernen Harnisch daherkam. Also musste er in den Augen der Händler ein Dieb oder Falschmünzer sein, oder gar einer der Ssadesti, die immer offener Raub und Mord im Nordwesten Bual-Bators verbreiteten. Wulfiard hatte gehört, dass manch einer ihr Tun als Freiheitskampf pries, dass sie ihr Raubgut unter den Armen verteilten. Gesehen hatte er noch keinen, aber an ihren Natterzähnen sollten sie leicht zu erkennen sein.

    Dennoch waren die Handwerker und Kaufleute unschlüssig, ob sie ihn von ihren Ständen fortjagen sollten. Er wusste, dass er ihnen mit den wildledernen Hosen und Stiefeln, dem Hemd aus grobem Leinen, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, und der schwarzen Weste aus ungewöhnlich steifem Stoff, barbarisch vorkommen musste. Aus der Ledertasche, die er über der Schulter trug, ragten Pergamentrollen und die Spitzen von Gänsekielen hervor. Trotz dieser Zeichen von Gelehrsamkeit, und obwohl er weniger muskulös war als die Söldner aus dem Norden, konnte auch er nur aus den Greiflanden stammen. Seine Haut war heller als die der Scimmier um ihn herum, und er überragte die Bualis und Batorianer mindestens um eine Handbreit. Und dass aus seinen verträumten Zügen trotz der Armut weder Unterwürfigkeit noch Verzweiflung sprach, unterschied ihn von den wimmernden Bettlern der städtischen Zunft.

    Während ihn die intensiven Düfte und die Fülle der Farben des Bazars von Fayum, einer Kleistadt nördlich des Khoramgebirges, umgaben, sah Wulfiard immer wieder zu der üppigen Schönheit am Ende der Gasse hinüber. Was den Lärm betraf, musste sich der Markt hinter dem größerer Städte wie Nauris und Chasar nicht verstecken, soviel Mühe gaben sich die Händler beim Anpreisen ihrer Waren. Zum ersten Mal seit dem Tod Cid Cadafs, kurz nachdem Wulfiard den Unsteten Pfad vor siebzehn Monaten bewältigt hatte, herrschte so etwas wie Frieden im Zentrum Scimmiens. Die weitverzweigte Familie der Shahim hatte nach langen und blutigen Wirren die Khanate unter sich aufgeteilt und neu geordnet. Anders noch als vor wenigen Monden eilten Männer und Frauen in bunten Kaftanen und Dschellabahs geschäftig hin und her. Riesige Turbane, manche mit einer goldenen Brosche besetzt, wippten über hakennasigen Gesichtern mit dunklen Augen. Die Frauen waren meist verschleiert, aber ihre Schönheit dennoch unverkennbar, sodass die Fremden aus allen Teilen Greiflands die Blicke nicht von ihnen lassen konnten.

    „Verschwinde!" Wulfiard gab dem halbnackten Sumpfzwerg aus dem Taufi, der sich hinter ein paar hochgewachsenen, in Leder und Metall gekleideten Weißmarkern an ihn herangeschlichen hatte, einen Stoß. Der dreckige Kerl schloss sich einer der Scharen von schmutzigen Kindern, die zwischen den Ständen hin und her rannten und versuchten, süßes Obst oder Backwerk zu stehlen. Kamele, schwer beladen mit Stoffballen, schritten mit scheinbarer Arroganz vorüber. Das Gewirr der Stimmen war unfassbar, am lautesten aber riefen die Händler hinter den bunten Ständen.

    „Emaille aus Runland, Bronze aus dem Tengriswall, alles was das Herz begehrt!"

    „Seht her, Leute, Stoffe, so fein wie am Hofe des Ilkhans von Gidda! Seht euch diese Seide an, das Farbenspiel im Licht!"

    „Gewürze aus aller Herren Länder, Essenzen und Rosenwasser!"

    „Ja, tretet näher, edle Dame, ihr seid von Stand, das sehe ich, ihr wisst gute Qualität zu erkennen!"

    „Dieses Lamm wurde heute geschlachtet, guter Mann, das schwöre ich beim Alten Tengris!"

    „Amulette, Herr!, wurde Wulfiard von einem der schwarzhaarigen Batorier angesprochen. „Die Locke einer rothaarigen Soma. So selten, dass sie einfach Glück bringen muss. Oder eine getrocknete Dattel, die einst von Tengris Teller gefallen ist. Nie wieder werdet Ihr Hunger leiden!

    Wulfiard lächelte den Händler an, schüttelte aber den Kopf.

    „Ich verkaufe Gedichte und Geschichten. Steht Euch der Wunsch nach Kurzweil?"

    Der Amuletthändler winkte ab. „Nichts für ungut, Fremder, aber das ist das Letzte, was ich brauche."

    Wulfiard hatte bereits den ganzen Tag über versucht, seine Kunst an den Mann zu bringen. Immer, wenn er abgewiesen wurde, hatte er ein paar freundliche Worte übrig. „Natürlich, Ihr habt ehrliche Arbeit im Sinn. Aber sagt, edler Herr, wer ist das dort am letzten Stand dieser Gasse?"

    Der Amuletthändler schaute über die Schulter. „Das ist Aguilar ibn Golg. Er und sein Weib Medeme verkaufen Shishar, vergorene Stutenmilch und jede andere bekannte Droge." Der Gesichtsausdruck des Händlers wurde verächtlich. „Ihn kümmert es nicht einmal, an wen er seine verfluchte Ware verkauft. Heute Morgen waren es kaum vierzehn Jahre alte Mädchen, die sich wohl als Houris verdingen – vielleicht sogar bei diesen Ssadesti im Verschwundenen Tal."

    „Habt Dank!" Dem Amuletthändler musste er so fremd vorkommen, wie ein Spindelkatapult einem Sumpfzwerg. Mit einem Blick über die Schulter erkannte er, dass die schöne Medeme ihn mit bebenden Nasenflügeln beobachtete. Sie wartet darauf, dass ich zu ihrem Stand komme, ahnte Wulfiard, denn er hatte die Batorianerinnen bereits kennengelernt. Der beleibte Mann in dem seidenen Kaften neben ihr drehte sich zu ihr um, und sie senkte den Blick und ordnete die Ware.

    „Sieh dir diesen halb verhungerten Bettler an, Medeme! Zu stolz das Haupt zu beugen, aber im Bauch nichts als Hunger", hörte Wulfiard, denn er er war keine fünf Schritt mehr entfernt. Der fette Händler wischte sich den Schweiß aus dem glänzenden Gesicht.

    „Aguilar ist stolz auf sein junges Weib, flüsterte der Amuletthändler, der Wulfiards Blick gefolgt war, „ist sie doch der lebende Beweis für seine Tüchtigkeit. Sie ist die Tochter eines Nachbarn, den er mit einem hinterhältigen Kontrakt in den Ruin getrieben hat. Er legte einen Finger an den Nasenflügel und rotzte auf den Boden. „Nur dadurch, dass er ihm seine Tochter gab, das schönste Mädchen des Dorfs, hat er sein Geschäft retten können. Aguilar ist reich und imstande, ihr alles zu bieten, was sie begehrt."

    Dass sie sich nichts weniger wünschte, als einen alten, fetten Mann mit schlechtem Atem, und ihn mit Leichtigkeit um den Finger wickelte, war für Wulfiard nicht schwer zu erraten. Sie beobachtete ihn eingehender, als es einem tugendhaften Weib zugestanden hätte. Wulfiard rückte die Ledertasche über der Schulter zurecht, damit sie das Pergament und die Federn sah und ihn als Haimamud erkannte, als Geschichtenerzähler, wie man hier sagte, und ihn nicht für einen Bettler hielt.

    Sie lächelte über die anderen Stände hinweg und sah ihm in die Augen, deren Blau so strahlend war wie der Himmel, wenn der seltene Regen die Luft vom Staub befreit hatte. Vielleicht erfüllte sie sich in Gedanken gerade Wünsche, die ihren Gatten in entrüstetes Staunen versetzen würden. Wulfiard ging weiter zu dem Kupferschmied, der den Laden neben dem Stand Aguilar ibn Golgs betrieb. Er würde diesem Pfeffersack Aguilar wohl anbieten müssen, für ihn zu arbeiten. Wohlgemerkt: nur anbieten!

    Der Kupferschmied in der brandfleckigen Dschellabah folgte seinem Blick. „Ja, frag den dicken Aguilar. Er hat erst vor wenigen Wochen die schöne Medeme geheiratet. Vielleicht steht ihm der Sinn nach Poesie und Gedichten, ich kann mit dergleichen nichts anfangen. Aber wahrscheinlich wirst du auch bei ihm Pech haben, denn für ihn zählt nur bare Münze. Und die kann der Hundesohn sich mit Rauschmitteln verdienen, weil er die Büttel bestochen hat."

    Aguilar ibn Golg beäugte seine Frau mit einem misstrauischen Ausdruck, als Wulfiard an ihren Stand trat. „Tengris zum Gruße, edle Dame, reicher Herr!" Er hielt sich lange genug in diesem Land auf, und so beherrschte er das Batorianische gut, wenn auch mit einem Akzent.

    Während Medeme ihn verträumt ansah, wurde der Händler bei diesem Gruß plötzlich nervös, machte ein betroffenes Gesicht und sah sich nach allen Seiten um. Sein Blick blieb bei einer Gruppe von Männern hängen, die – bis auf einen Greifländer in Schwarz - in Burnusse, Kaftane und Pluderhosen aller Farben gekleidet waren. Ihre wilden Augen und grimmigen Gesichter versetzten nicht nur Aguilar in Schreckten, währends sie im Schatten der um den Bazar laufenden Arkaden standen und das Volk beobachteten. Wulfiard hielt sie für zwielichtiges Gesindel, wahrscheinlich Diebe und Räuber, und ihm wurde klar, warum der Markthändler nicht lauthals als „reich" bezeichnet werden wollte. Es waren Ssadesti, erkennbar an den Natterzähnen, die sie am Gürtel oder in der Schärpe trugen, drei der gebogenen Dolche hatten sogar einen silbernen Griff.

    „Ich biete euch meine Dienste als Haimamud an. Ein Lied aus fernen Landen für ein Brot. Für eine Mahlzeit ein Gedicht auf die Schönheit Eurer Frau, verewigt auf Pergament", sagte Wulfiard dennoch zu dem fettleibigen Markthändler.

    Die Augen Medemes begannen zu glänzen, denn ein fahrender Dichter hatte die herrlichsten Geschichten zu erzählen. Und dass er sie edle Dame genannt hatte, wiewohl er doch viele bezaubernde Frauen auf seinen Reisen getroffen haben musste, verfehlte seine Wirkung nicht. Sie richtete ihr golddurchwirktes Kopftuch, und wie zufällig rutschten ein paar Strähnen des dicken, schwarzglänzenden Haares hervor. Die mit Kajal verzierten Augen waren geeignet, die Lebenssäfte eines Mannes zum kochen zu bringen. Sie reckte sich und verschaffte den üppigen Rundungen unter dem hochgeschlossenen Kleid Geltung. Die Blicke des Wulfiards ruhten für einen Moment auf den prachtvollen Brüsten, die sich unter der Seide abzeichneten.

    „Nein!", sagte Aguilar, der solch zweifelhafter Kunst wie Geschichten und Poesie keinen Wert beizumessen schien.

    „Aber, Aguilar, du gütiger und großzügiger Ehemann, willst du mir diesen Wunsch nicht erfüllen?" Wulfiard war sehr zufrieden, dass die Schöne ein gutes Wort für ihn einlegte. Das war schon der halbe Weg zum Ziel, wie er aus Erfahrung wusste.

    „Der Nichtsnutz soll verschwinden, bei seinen rauen Göttern! Sein Magen knurrt so laut, dass er die anderen Kunden vertreibt. Kunden mit Geld, die nicht kommen, um zu betteln."

    „Welche Kunden, liebster Aguilar? Medeme griff nach seiner Hand und streichelte sie. „Es ist kaum noch jemand auf den Strassen, mein Gatte, denn bald schlägt die Mittagsstunde und wir bauen ab, sagte sie, wobei sie Wulfiard Blicke zuwarf, die ihn hoffen ließen.

    „Das liegt an diesen verfluchten Ssadesti, flüsterte der dicke Händler. „Das Volk, das sich jetzt noch vor die Türe wagt, ist solch Gesindel wie dieser da!

    Der Pfeffersack lässt sich nicht erweichen, erkannte Wulfiard. Aber wenn ich lange genug in der Nähe bleibe, ergibt sich bestimmt eine Gelegenheit. Außerdem könnte ich wirklich eine anständige Mahlzeit vertragen. Lass dir etwas einfallen, Geschichtenerzähler! „Ihr habt Recht, edler Herr und Meister des Handels. Was scheren euch Reim und Sang? Heute Abend werdet ihr in den Armen eurer jungen Frau liegen. Der Genuss, den sie euch bereiten wird, ist meiner belanglosen Kunst natürlich vorzuziehen. Handfeste Arbeit biete ich Euch also, den Stand will ich abbauen und die Waren auf den Wagen laden, während Ihr Euch im Schatten vom harten Geschäft erholt. Und nicht mehr verlange ich dafür, als etwas zu essen, ein halbes Brot oder ein Schälchen Reis. Ihr aber trinkt ein kaltes Minzwasser, schließt die Augen oder wagt euer Glück beim Spiel! Das Glück ist mit dem Tüchtigen, und dass ihr tüchtig seid, das sieht man sofort." Solche blumigen Ansprachen kamen Wulfiard nach über einem Jahre in den Ländern Scimmiens leicht von den Lippen. Wenn Vater oder die Brüder mich so hätten reden hören, sie hätten mich zu einem Goden gebracht, um mir ein Loch in den Kopf bohren zu lassen, damit die bösen Geister entweichen können! Ohne Wehmut dachte er an seine Sippe zurück. Ohne Wehmut? Nein, der Gedanke an die alte Mutter und die kleinste der Schwestern verursachte ein ärgerliches Brennen in der Brust.

    Der dicke Händler schaute zum Himmel, schaute seine Frau und dannn den freundlich lächelnden Wulfiard an. Tatsächlich war es ein überaus heißer und trockener Tag gewesen, und er war auf den Beinen, seit die Tengristochter aufgegangen war. Die meisten Leute, die den Bazar soeben noch zu einem quirligen Platz gemacht hatten, waren in die Schatten der Tavernen und Schlaftempel geflüchtet. Nur noch ein paar schmutzige Kinder zeigten Interesse für die Stände und Waren. Dazu hatte ibn Golg noch den Heimweg auf dem schaukelnden

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1