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Mononobe
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eBook743 Seiten10 Stunden

Mononobe

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Über dieses E-Book

Japan, im Jahre 902: Als die wenigen Überlebenden eines angesehenen Clans in einem abgeschiedenen Bergdorf Zuflucht suchen müssen, trifft die junge und behütete Sumiko auf einen Rachedämon, der die Dorfbewohner seit Jahrhunderten unterdrückt. Mononobe, wie er sich nennt, fasziniert und ängstigt sie zugleich. Durch ihren Leichtsinn kommt es zu einer schicksalhaften Begegnung mit einem uralten mystischen Wesen aus dem fernen Reich der Mitte und sie muss ihr Leben der anderen, nicht weniger bösartigen und tödlichen Kreatur anvertrauen: Mononobe!
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum12. Nov. 2022
ISBN9783987624612
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    Buchvorschau

    Mononobe - Jan Balaz

    Einleitung

    Im Schoße Honshus, der größten Insel im Kaiserreich des Tenno, des unmittelbaren Nachfahren des Gottes Izanagi und seiner Frau Izanami, die einst gemeinsam die Welt erschufen, liegt zwischen dem Gipfel des Tsurugi und der mächtigen Hotaka-Bergkette ein rauer, abweisender Landstrich mit dunklen, von Menschen weithin unberührten Zedernwäldern.

    Es ist eine schroffe Gegend mit steilen Felsspitzen, tiefen Schluchten und engen Tälern. Von den bewaldeten Hängen bahnen sich unzählige Quellen, Flüsse und Bäche ihren Weg hinab zu dem nicht weniger unheilvollen Meer.

    Zwischen den dicht nebeneinander gewachsenen Bäumen ist es still und kalt, wie der eisige Blick des Todes. Nur zögernd kämpft sich in der Frühe die Helligkeit von Bergspitze zu Bergspitze vor, dagegen die Dunkelheit am Abend das Land schnell bedeckt.

    Unter dem beschwörenden Gesang der Zikaden steigen dichte Nebelschwaden empor, die die verwitterten Stämme der Zedern in gespenstischer Langsamkeit verschlingen. Der weiche, feuchte Dunst schiebt sich vor die Gipfel, laugt die dunklen Farben der Landschaft aus und verwandelt sie in flache, verwaschene Zeichnungen.

    Zwischen den schroff aufsteigenden Bergwänden sinkt der Mut der Reisenden. Wer die Weite der Ebenen gewöhnt ist, fühlt sich verloren in der drückenden Enge der Berge.

    Hier, in den wilden Gebieten, gelten andere Gesetze als in den lauten Städten an den Küsten. Die wenigen, zähen Siedler leben in eigenverantwortlichen, beinahe vergessenen Ortschaften. Nur die Holzfäller verlassen bei Tagesanbruch die vermeintlich sicheren Dörfer und betreten widerstrebend das unzugängliche Unterholz. Erschöpft, aber immer rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit, kehren sie zu ihren wartenden Familien zurück.

    Die Bergbewohner sind vor allem Fremden gegenüber abweisend und verschlossen. Wegen der vielen geteilten Entbehrungen halten sie jedoch fest zusammen, auch wenn es ihren Untergang bedeutet.

    ERSTER TEIL: Das Dorf

    1 - Ichi

    Der unscheinbar aussehende Mann im mittleren Alter blieb stehen und musterte die Gegend vor ihm, während seine Begleiter an ihm vorbeigingen. Die Sonne ging gerade in einer großen, goldenen Scheibe zwischen den Bergspitzen unter und die Stunde des Hahns, und damit die Nacht, nahte unaufhaltsam.

    Seine Haltung war straff, auch wenn ihm die Anstrengungen der vergangenen Tage deutlich anzusehen waren. Trotz eines entschlossenen Blickes wirkte er müde.

    Er seufzte. Am heutigen Toka im Monat Kisaragi war es bereits seit Tagen ungewöhnlich warm. Sollte sich das freundliche Wetter halten, würden die Bauern die Reissetzlinge früher pflanzen müssen. Er hat den Anblick der Menschen auf den Feldern immer genossen. In seiner Jugend hat er selbst Jahr für Jahr, so oft es im möglich war, selbst bei der Aussaat und der Ernte ausgeholfen, zunächst auf Anweisung seiner Eltern und später aus eigenem Antrieb heraus. Doch in dieser Wildnis gab es weit und breit keine Reisfelder, nur Felsen und abweisende Bäume, deren Äste fast bis zum Boden hingen. Hier oben auf den Gipfeln schillerte noch der Schnee, während es im Tal von Tag zu Tag heißer wurde. Mit dem Aufstieg in die oberen Berghänge waren die weißen Blüten des Hornstrauchs dem Gelb der Blumen der Zaubernuss gewichen.

    Das schwierige Gelände beanspruchte viel Kraft von ihnen und die allgegenwärtigen, blutrünstigen Stechmücken waren eine zusätzliche Plage. So ansprechend die Farben der Natur auch leuchteten, längst hatten die wenigen Dutzend Krieger, dazu eine Handvoll Frauen, Bedienstete und Shinuhi, die mit ihm unterwegs waren, jeden Sinn für die Schönheiten der ersten Frühlingstage des Jahres verloren.

    »Jiro, bring mir Takeru!«, sprach er kurz und mit befehlsgewohnter Stimme einen jungen Bushi an, der soeben an ihm vorbeiging.

    »Hai!« Jiro lief eilig zur Spitze der Gruppe.

    »Kommandant«, rief er zu laut, »Herr Sugawara will Euch sehen!«

    Ein kräftiger, ernst wirkender Mann löste sich aus der Vorhut und kam den Weg zurück. Sugawara schaute ihn nur flüchtig an. »Was glaubst du, erreichen wir unser Ziel, bevor es dunkel wird?«

    Takeru knetete sein stoppeliges Kinn. »Ich weiß nicht, wie weit das Dorf noch entfernt ist, vermute aber, dass die Dunkelheit uns vorher einholen wird.«

    »Das befürchte ich auch!« Er sah sich um. »Ehrlich gesagt, möchte ich lieber in einem Haus übernachten als erneut im Unterholz. Wenn wir es nicht schaffen, können wir immer noch nach einer guten Lagerstelle Ausschau halten.«

    »Ich werde unseren Leuten zureden, ein wenig länger durchzuhalten!« Takeru ging wieder nach vorne, um den Befehl weiterzugeben. Seit Wochen schon waren sie in großer Eile unterwegs gewesen, um hierher zu gelangen. An diesen Ort, ins Nichts, in eine vergessene Einöde.

    Auf einmal stockte der Zug und Sugawara drängte sich zu seiner Vorhut durch. Der fast nicht sichtbare Trampelpfad, dem sie seit gestern folgten, gabelte sich in zwei blasse Linien, die zwischen den schwarzen Felsen und knorrigen Bäumen verschwanden. Er seufzte innerlich. Alle warteten auf seine Entscheidung, denn schließlich war er der Hanshu, das Oberhaupt des Clans.

    Die Wege in den Bergen verliefen oft neben steilen Abhängen und stellten auch für den ortskundigen Reisenden sogar am Tag ein Wagnis dar. Fremde jedoch, die im besten Fall sanfte Hügel gewohnt waren, mussten auf den schmalen, steinigen Gebirgspfaden in der Nacht mit dem sicheren Tod rechnen.

    Sugawara stand, ohne dass man es ihm ansehen konnte, unschlüssig vor den beiden Wegen, von denen keiner besser oder schlechter aussah als der andere. Er beschloss widerstrebend, eine kurze Rast einzulegen. Er machte eine entsprechende Geste und seine Leute suchten sich eine geeignete Stelle auf den Boden, wo sie sich niederlassen konnten. Viel mehr Anstrengungen konnte er ihnen nicht zumuten. Er zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf die neu aufgetauchte Schwierigkeit zu richten. Endlich gab er Takeru die erwarteten Anweisungen: »Schicke jeweils einen Mann einen der Wege entlang. Sie sollen eintausend Schritte gehen und dann zurückkehren und Meldung machen.«

    Takeru überlegte kurz. »Ich schlage Keisuke und Rafu für diese Aufgabe vor.«

    »Einverstanden!«, sagte Sugawara. Er schaute zu seiner Gemahlin und seiner Tochter und nickte ihnen mit einem aufmunternden Lächeln zu. Seine Frau Sumi ertrug die gegenwärtige Lage mit bewundernswerter Fassung und ihr Gesicht strahlte nach wie vor Zuversicht aus. Doch er kannte sie zu gut, als dass ihm entgangen wäre, dass ihren Zügen inzwischen dieser leichte, warmherzige Ausdruck fehlte, der ihr früher eine besonders anziehende Note verliehen hatte. Die Ereignisse der letzten Zeit hatten in jedem von ihnen eine tiefe Verbitterung und Wut hinterlassen.

    Ihre gemeinsame Tochter Sumiko war eine junge Frau, die mittlerweile im heiratsfähigen Alter war. Nur die Umstände, die ihre Flucht erzwungen hatten, hatten auch die Suche nach einem geeigneten Ehemann für sie verhindert. Ihre Wangen waren glatt und fest und in den großen dunklen Augen funkelte gelegentlich ein Rest von ihrem früheren, unbeschwerten und kindlichen Ich. Neben ihr stand Sugawaras Mündel Tomomi, die genauso alt wie Sumiko und gleichzeitig Freundin und Dienerin seiner Tochter war.

    »Okaasan …«, begann Sumiko mit einer leisen und zaghaften Stimme, sodass nur ihre Mutter sie hören konnte.

    »Was gibt es, Sumiko?«

    Sumiko zögerte, zu viele Ängste waren mit der Frage verbunden. Schließlich gab sie sich einen Ruck und sprach leise, fast flüsternd: »Werdet Ihr mich weggeben?«

    Ihre Mutter schaute sie müde an. »Weggeben? Was meinst du damit?«

    »Ich … ich möchte nur wissen, ob Ihr und Vater mich verkaufen werdet?« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie machte sich weniger Sorgen um sich selbst und ihre Zukunft, jedoch wollte sie ihre geliebte Familie nicht verlassen.

    Sumikos Mutter hob die Augenbrauen und gab der Tochter einen leichten Klaps auf die Schulter. »Rede keinen Unsinn! Niemand wird dich verkaufen! Wieso glaubst du das?«

    »Nun, außer mir habt Ihr nichts, was einigermaßen wertvoll sein könnte!«

    Auf Frau Sugawaras Lippen erschien ein kleines spitzbübisches Lächeln. »Wer sagt denn, dass du von Wert sein könntest? Die ein bis zwei Koku Reis, die wir für dich bekommen würden, hätten wir im Nu aufgegessen!«

    Mit einem empörten Ausruf und hochroten Wangen drehte Sumiko das Gesicht weg von ihrer Mutter in die Arme Tomomis, um sich trösten zu lassen.

    Frau Sugawara schaute, weiterhin lächelnd, auf ihre hitzköpfige Tochter. Sumiko war, ebenso wie der kleine Kohei, ein Kind der Liebe. Mit seinem Tod war in seiner Mutter ein wesentlicher Teil gestorben. Nicht lange nach dem lähmenden Schrecken über den Verlust hatte sie sich gezwungen, zum Wohl der Lebenden nach vorne zu sehen. Trotzdem konnte sie sich selbst nicht erklären, woher sie die Kraft nahm, weiterzumachen.

    Als Herrin des Clans hatte sie bei sämtlichen Entscheidungen genauso viel Einfluss wie ihr Mann. Sie besaß eigene Besitztümer, auf deren Erträgen sich die eigentliche Stärke und Ansehen der Familie gründete und ihnen allen das Auskommen sicherte. Auch wenn die Sippe zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr ihre alte Macht hatte, waren sie, der Clan der Sugawara, deswegen keinesfalls am Ende. Sie würde für ihre Familie kämpfen und lieber sterben, als aufzugeben. Ihr Mann, das wusste sie genau, dachte so wie sie.

    Sumiko hatten die im Scherz geäußerten Worte ihrer Mutter ein wenig beruhigt, zumindest für den Augenblick. Weiterhin war aber ihr Schicksal unbestimmt und sie ahnte, dass der weitere Lauf ihres Lebens von Entscheidungen beeinflusst werden würde, auf die sie jetzt und später wenig Einfluss nehmen konnte. Vielleicht musste sie jemanden aus einem anderen Clan heiraten, um ein Bündnis zu schließen, das den übrig gebliebenen Sugawara nützen würde. Früher war ihr das Leben einer rechtmäßigen Ehefrau eines Edelmannes nicht sonderlich spannend erschienen. Sie hatte sich in ihren Tagträumen lieber ausgemalt, wie es wohl wäre, als Liebesdienerin in Spelunken und Freudenhäusern kluge und starke Fürsten mit Gesang und gebildeten Gesprächen zu unterhalten. Ihr Ruhm würde sich natürlich schnell im ganzen Land verbreiten und sie stellte sich vor, dass die wildesten Edelleute in stürmische Leidenschaft zu ihr verfielen und in ihrem Namen in blutige Schlachten zogen. Allerdings hatte sie gar keine rechte Ahnung von den Tätigkeiten einer verruchten Frau, denn ihr Traumgebilde bestand aus Vermutungen, die sich um einen hohlen Stamm rankten, welcher auf dem unsicheren Boden aus Andeutungen und halben Sätzen von zufällig aufgeschnappten Äußerungen von Erwachsenen stand. Dementsprechend hatte sie sich nie lange mit den wirklichen Gegebenheiten aufgehalten und war gleich zum wesentlichen Punkt ihrer Vorstellungswelt geeilt: Der Tenno selbst würde sie zu einer Nyogo, einer Hofdame des »Himmlischen Schlafgemachs«, ernennen! Auch hier wies ihr Kenntnisstand zu den Pflichten einer Nebenfrau des göttlichen Kaisers beträchtliche Lücken auf. Niemand, nicht einmal die Dienerschaft, hatte sich durch ihre Versuche, mithilfe geschickter und scheinbar belangloser Fragestellungen Näheres zu ermitteln, übertölpeln lassen.

    Jetzt aber, nach den schrecklichen und tatsächlichen Erlebnissen, beschloss sie, das Träumen zu beenden und bei ihrer Familie zu bleiben, solange sie konnte. Sie hatte viele liebe Menschen und ihr Geborgenheit schenkendes Heim für immer verloren. Die übrig gebliebenen Personen und Erinnerungen waren ihr inzwischen wertvoller als alles andere auf der Welt.

    Die restlichen Mitglieder des Clans ruhten sich aus, so gut es unter diesen Umständen möglich war, aßen aber nichts, da ihre Speisen fast aufgezehrt waren.

    Takeru, die rechte Hand des Herrn Sugawara, schritt zu einer der Gruppen und ordnete an: »Wer von euch diese Gegend hier kennt, oder sogar von hier stammt, hat dies umgehend zu melden! Teilt dies den anderen mit!«

    »Ja, Kommandant!« Die Männer sprangen trotz ihrer Müdigkeit auf und sprachen mit jedem einzelnen Rastenden, um den Befehl Takerus weiter zu geben.

    Ein wenig später näherte sich einer der Soldaten Herrn Sugawaras Platz. Er kniete nieder und wartete, bis er angesprochen wurde. Als sich eine Lücke im Gespräch mit dem Oberhaupt des Clans ergab, sah Takeru in Richtung des Wartenden und machte eine Handbewegung.

    »Komm näher, Kazuki!« Obwohl sich Sugawara für gewöhnlich selbst um sein Gefolge kümmerte, war es Takerus Aufgabe, alle Männer und Frauen des Clans mit Namen zu kennen. Kazuki kam heran und kniete vor seinem Herrn nieder. Dieser sprach ihn mit leiser Stimme an.

    »Was gibt es, Kazuki?« Alle noch verbliebenen Männer waren die Treusten der Treuen. Die lange Flucht und der Hunger zehrten an jedem, dennoch beschwerte sich keiner von ihnen oder war davongelaufen, um fortan als herrenloser Bushi zu leben.

    »Herr, Euer Diener will melden, dass er möglicherweise aus dieser Gegend stammt.«

    »Möglicherweise?«

    Es gab keinen Grund ungeduldig zu sein, obwohl alle fast am Ende ihrer Kräfte waren und das kleinste bisschen Gelassenheit Anstrengung bedeutete.

    »Ja, meine Vorfahren könnten lange vor der Geburt meiner Großeltern von hier fortgezogen sein.«

    »Warst du in den letzten Jahren hier?«

    »Nein, nie.«

    »Und wieso bist du dir nicht sicher, ob deine Vorfahren von diesem Ort stammen?«

    »Einmal nur fiel der Name Takamura zwischen meinen Eltern. Es war der Todestag meines Großvaters. Er hat vieles erzählt, wenn er nicht bei vollem Bewusstsein war. Meine Mutter sagte etwas, was ich damals nicht verstand: ›Wir sind die Letzten von Takamura!‹ Daher vermute ich, dass meine Familie ursprünglich aus dieser Gegend kam.«

    »Was meinte sie mit: ›die Letzten von Takamura‹? In Takamura sollten nach wie vor Leute leben. Oder haben sie die Siedlung inzwischen verlassen?« An diese Möglichkeit hatte Sugawara bisher gar nicht gedacht! Seine Miene verfinsterte sich. Natürlich war es nicht ungewöhnlich, wenn die Menschen eine Niederlassung aufgaben, weil die Landschaft zu rau war und nicht genügend Nahrung hergab. Den Ort gab es schon seit Jahrhunderten und der Berg Kuro, auf dem man ihn errichtet hatte, konnte seine Bewohner bisher ernähren. Zumindest war er bis gerade eben noch von dieser Annahme ausgegangen! Vielleicht aber hatte mittlerweile ein furchtbares Naturereignis das Dorf zerstört?

    »Verzeiht mir, darüber kann ich nichts sagen. Alle weiteren Antworten sind mit meinen Eltern gestorben. Als der Name fiel, wussten sie nicht, dass ich sie hörte und im Beisein von anderen Leuten sprachen sie nie über Takamura. Sie erzählten immer, sie wären aus der Nähe der Hauptstadt gekommen.«

    »Ja, ich erinnere mich an deine Eltern. Dein Großvater brachte sie zu uns mit der Bitte, sie in den Clan aufzunehmen. Unsere Familie hat euch ein Heim gegeben und diese Entscheidung nie bereut.«

    Sugawaras Gedanken glitten kurz weg zu seinem Vater und seiner Mutter, die schon lange tot waren. »Deine Eltern sind tot?«

    »Ja, sie starben bei dem Angriff.« Sugawara nickte mit finsterem Blick. Mit einem jähen Schmerz erinnerte sich Sugawara an seinen Sohn Kohei, der sein Leben bei dem Kampf verloren hatte. Er hatte dessen von Schwerthieben verunstalteten kleinen Körper zurücklassen müssen. Die Trauer war nun ein bedeutender Teil von ihm. Mit einem tiefen Atemzug befreite er sich aus der Lähmung, die seinen Brustkorb umklammerte. Nur durch eine glückliche Fügung der Götter waren seine Frau und seine Tochter dem blutigen Handstreich entkommen. Mühsam versuchte er, seine Gefühle in den Hintergrund zu drängen.

    »Zu viele wertvolle Mitglieder unseres Clans starben bei dem Überfall.« Er ballte die rechte Hand, als hielte er darin den Griff eines unsichtbaren Schwertes. Kazuki senkte den Kopf.

    Sugawara deutete beiläufig auf eines seiner persönlichen Gepäckstücke. Neben der unentbehrlichen Ausrüstung sollten sich darin einige wenige übrig gebliebene Lebensmittel befinden. Takeru hatte trotzdem Mühe, etwas Passendes in der Kiste zu finden. Nach einer Weile fischte er eine Schale mit Gemüsestückchen, die in einer scharfen, zähflüssigen Brühe eingelegt waren, heraus. Sugawara hatte seine Verpflegung ebenso rationiert wie seine Leute, obwohl ihm mehr Essen zugeteilt war als ihnen. Den Rest hatte er an die Schwächsten verteilt. Er nickte und Takeru reichte dem Bushi die Schale.

    Kazuki hob hastig das Gefäß vor das Gesicht und senkte anschließend die Stirn bis auf den Boden: »Danke!« Kaum hatte er sich wieder hingesetzt, erschienen wie aus dem Nichts ein Paar abgeschabte Hashi in seiner Hand. Fast ebenso schnell leerte er den Inhalt mit den Stäbchen. Danach hob er die Schale erneut an seine Stirn und nach einer flüchtigen Kopfbewegung Takerus ging er zurück zu seinen Kameraden.

    »Ihr seid sehr großzügig.«

    »Ich kann ihm nicht genug für seine Treue danken.«

    »Leider kann er uns nicht helfen, den Empfang bei den Dorfbewohnern zu erleichtern.«

    Sugawara schwieg, da er selbst keine Antworten anbieten konnte. Auch er war niemals vorher in dieser unwirtlichen Gegend gewesen. Er erinnerte sich schwach an irgendwelche alten Briefe, in denen jemand den Weg nach Takamura beschrieben hatte, wenn auch nicht ausführlich. Trotz der dürftigen Einzelheiten war er sich aber sicher, ihr Ziel fast erreicht zu haben.

    »Immerhin, es ist unser Land. Alles, was darauf steht und lebt gehört uns. Vermutlich war Kazukis Großvater diese Tatsache bekannt gewesen, deshalb kam er in unser Haus und bat um Aufnahme für seine Familie.«

    »Ja, nach Recht und Gesetz ist dieses Gebiet unser Eigentum. Die Frage ist nur, ob das Recht weiterhin auf unserer Seite ist. Im Vergleich zu früher sind wir arm und, wie alle armen Leute, rechtlos.«

    »Es wird eines Tages wieder anders werden, wir sind nicht vollkommen wehrlos!«

    Sugawara nickte. Er kannte seinen Hauptmann gut genug und wusste, dass die wohlmeinende Zuversicht seiner Worte nur dazu dienen sollte, ihm seine ungebrochene Unterstützung zu zeigen.

    »Es ist wahr, wir haben noch die Schwerter. Allerdings nützen die uns im Augenblick wenig. Wir brauchen Mitkämpfer und keine weiteren Feinde. Die Zukunft des Clans hängt ab von der Kraft unserer Arme und lastet auf den Schultern von einigen verstreuten Freunden und Vertrauten.« Die Frage war nur, wie viele Verbündete waren ihnen in diesen Zeiten geblieben? Und wie ging es den Kleinkindern und Säuglingen, die sie, aufgeteilt und versteckt bei Vertrauensleuten innerhalb der Stadt, in Sorge und Schmerz zurücklassen mussten? Die Entscheidung hatte sich als richtig erwiesen, denn keinesfalls hätten die Kinder die Anstrengungen der Flucht überlebt, und erst recht nicht die Kämpfe, die ihnen ihre Gegner unterwegs aufgezwungen hatten. Leider waren die Kontakte seit dem Tag, an dem sie überfallen wurden, abgerissen. Die Ungewissheit über das Wohl ihrer geliebten Angehörigen drückte zusätzlich auf die Gemüter der Gruppe.

    Sugawara dürstete es nach Nachrichten aus der Heimat. Vielleicht waren mittlerweile die Ereignisse bekannt geworden und jemand, ein Clan, oder wer auch immer, hatte die Verantwortung für die Tat übernommen. Jedoch waren sie schon seit einer geraumen Zeit an keiner Siedlung vorbei gekommen, und selbst wenn, sie hätten ohnehin niemanden fragen dürfen. Sie hatten um jedes Dorf, jede Hütte und jeden Wanderer einen weiten Bogen machen müssen, denn schon ein einzelner Reisender weckte die Neugierde der Bewohner auf dem Land. Die Nachricht über eine größere Gruppe auf der Flucht hätte sich wie ein Lauffeuer verbreitet.

    Zuerst hatten sie sich nach Norden gewandt, dann in die entgegengesetzte Richtung. Alles nur, um etwaige Verfolger abzuschütteln. Die letzten Tage, nachdem sie die wenig benutzten Nebenstraßen verlassen hatten, und querfeldein in die Berge gezogen waren, mussten sie die übrig gebliebenen Lasttiere freilassen und zu Fuß weitergehen. Habseligkeiten, die sie nicht zu tragen vermochten, vergruben sie schweren Herzens zwischen den Büschen. Noch immer konnten sie sich nicht sicher sein, ob ihre Flucht geglückt war oder nicht. Schlimmstenfalls hing ihnen der Feind weiterhin an den Fersen und würde sie, trotz aller ihrer Bemühungen zu entkommen, abfangen und vernichten. »Wer bist du?«, war die einzige Frage, die seit jenem Tag in seinem Inneren brannte. Schon unzählige Male hatte er blutige Rache demjenigen geschworen, der für alles verantwortlich war.

    »Wir werden wieder zurückkehren in unsere Häuser, unsere Städte und unsere Heimat!«

    »Das werden wir, mein Freund!« Sein Blick sollte unerschütterlich wirken, doch er schaffte es nicht ganz, die nötige Entschlossenheit und Zuversicht dafür aufzubringen.

    Der Weg, der hinter ihnen lag, hatte sich als zu beschwerlich und anstrengend erwiesen. Die Erde des langen Weges trugen sie in ihren Kleidern, seinen Staub in Mund und Haaren. Alle sehnten sich nach Schutz und Ruhe und einem ausgiebigen, heißen Bad. Neben der Erschöpfung plagten jeden der Flüchtenden leidvolle Erinnerungen an den blutigen Überfall.

    »Leider führt uns der Weg nach Hause zunächst über Takamura. Wahr ist, dass sich meine Vorfahren nie um das Dorf gekümmert haben. Das Land, einschließlich der Siedlung, war die Mitgift für eine angeheiratete Verwandte einer Seitenlinie des Clans. Diese Nebenlinie blieb ohne Erben und ihre Güter fielen an das Haupthaus. Kaum jemand weiß überhaupt, dass es das Dorf gibt und da es sich weit oben im unwegsamen Gebiet befindet, hatte bisher keiner unserer Nachbarn seine Hand danach ausgestreckt. Für uns sind der Ort und das Fleckchen Land jetzt die letzte Hoffnung.« Sugawara seufzte. »Soweit ich mich entsinne, lieferten die Dorfbewohner jahrzehntelang unterschiedliche Sorten von Erzen. Seltsamerweise habe ich nirgendwo einen Grund gefunden, warum die Abgaben plötzlich eingestellt wurden. Das Erz hat für den Clan aufgrund der niedrigen Liefermengen nie eine besondere Rolle gespielt. Es war ein zu kleiner Tropfen in einem großen, üppig fließenden Fluss. Möglicherweise ging man davon aus, dass die Ader versiegte, als die Lieferungen aus den Bergen ausblieben. Leider hat sich inzwischen die Lage geändert und wir haben einfach kein anderes Rückzugsgebiet als diesen abgeschiedenen Felsklotz. Wir sollten dankbar sein, dass wir uns jetzt dorthin zurückziehen und unsere Wunden lecken können. Es wäre dennoch leichter, mit einem menschlichen Bezug zu den Einheimischen anzukommen. Es muss uns gelingen, die Menschen dort als Verbündete zu gewinnen. Der Ort könnte der letzte Abschnitt unseres Leidensweges sein, oder eine Sackgasse, in der alle Träume enden.«

    »Wir werden sie schon dazu bringen, sich zu erinnern, wohin sie gehören.«

    Sugawara nickte versonnen. »Das werden wir, das müssen wir!« Früher hatte er mit der Macht, die ihm seine Abstammung gewährleistete, alle seine Ziele durchsetzen können. Jetzt war er auf die Mithilfe eines einzigen bedeutungslosen und unbekannten Flecken Landes angewiesen. Konnte er überhaupt auf die Gefolgschaft der Dörfler zählen?

    Er schaute auf: »Hast du mitgezählt?«

    »Ja, Keisuke und Rafu müssten gleich zurück sein.«

    Tatsächlich tauchte Keisuke, der den linken Weg genommen hatte, kurze Zeit später auf und erstattete seinen Bericht: »Herr, nach ungefähr einem Cho ging ich auf Fels und noch vor den tausend Schritten kam ich an eine Felswand, die ich nicht umgehen konnte. Ich habe eine Weile lang einen Durchlass gesucht, fand aber keinen. Daher kam ich unverzüglich zurück.«

    Takeru nickte ihm zu, »Gut gemacht, jetzt geh wieder zu deinem Trupp!«

    »Ja, Kommandant!«

    Als Keisuke außer Hörweite war, sprach Takeru erneut: »Rafu hätte ebenfalls schon längst zurückkehren müssen.«

    »Allerdings!«

    »Vielleicht hat er ja das Dorf erreicht.«

    Sugawara schaute prüfend in den Himmel. »Ohne uns zu benachrichtigen? Das klingt eher unwahrscheinlich. Da muss etwas vorgefallen sein und wir sollten herausfinden was, meinst du nicht auch? Wir brechen auf!«

    2 - Ni

    Die Menschen erhoben sich widerstrebend und zogen mit schweren Beinen weiter. Drei Männer prüften als Vorhut an der Spitze der Gruppe den Weg. Sugawara folgte ihnen mit Takeru. Sie gingen den rechten Trampelpfad entlang, in der leisen Hoffnung, Rafu unterwegs zu begegnen und von ihm zu hören, dass er das Dorf gefunden hatte. Sugawaras Gesicht verfinsterte sich, als auch nach den tausend Schritten keine Spur von Rafu zu sehen war.

    »Sollen wir stehen bleiben und ihn suchen?«, wollte Takeru wissen.

    Sugawara schüttelte den Kopf, »Nein, wir gehen weiter. Viele Wahlmöglichkeiten haben wir nicht, und da Keisukes Weg versperrt ist, muss es diese Seite sein, die zum Dorf führt. Unsere Leute sollen ihre Schritte sorgsam setzen, ich will niemanden kurz vor dem Ziel verlieren!«

    Sie hatten keine nennenswerte Strecke zurückgelegt, als erst ein gräuliches Zwielicht und danach die Dämmerung einsetzte. Sobald die Helligkeit schließlich vollständig verschwunden war, blieben alle abwartend stehen. Die Menschen versuchten, jedes überflüssige Geräusch zu vermeiden, und atmeten unwillkürlich leiser. So mancher in der Gruppe sprach ein hastiges Gebet zu den Göttern, mit der Bitte sie oder ihn vor den bösen Geistern, die die Schwärze bevölkerten, zu beschützen. Sie lauschten in die fremde, dunkle Gegend vor sich und hofften, dass die Luft die vertrauten Laute einer nahen menschlichen Siedlung herantragen würde. Blökende Schafe, brüllende Ochsen oder das weithin hörbare Bellen der Hunde könnten ihnen helfen, den Weg zu ihrem Ziel zu finden. Doch ihre Umgebung war ungewöhnlich ruhig und sogar die allgegenwärtigen, kaum wahrnehmbaren Geräusche der niederen und meist unsichtbaren Tiere waren heute nicht zu hören. Selbst am Himmel kam ihnen kein Mond mit seinem Schein zur Hilfe und die Flüchtlinge mussten ihre wenigen Laternen hervorholen und anzünden.

    Gerade hatten sie sich an das schwache Licht der Lampen gewöhnt, als eine plötzliche Unruhe unter der Vorhut aufkam.

    »Halt, halt! Hebt die Laternen, da kommt jemand!«, rief einer. Und ein anderer: »Heda! Wer ist da?« Diejenigen, die Waffen bei sich trugen, legten eine Hand auf die Griffe. Trotz der Aufregung sah man gefasst und auf alles vorbereitet zum Rand des Lichtscheins.

    Ein schmächtiger junger Mann trat alleine aus der Finsternis in den Schein der Lampen. Er trug einen geschmackvollen, mit wenigen Farben bestickten Kimono, der allerdings einen nicht mehr zeitgemäßen Schnitt hatte. An seiner linken Seite hing ein ebenfalls altmodisches, gerades Schwert mit ausländisch wirkenden Verzierungen. Aufgrund der kunstvollen und verspielten Muster sah es eher wie das Spielzeug eines Höflings als eine echte Waffe aus. Der Mann bewegte sich linkisch und unsicher und sein Gesicht wirkte blutleer und nicht gesund. Das Kinn hatte er glatt rasiert und der Mund lächelte freundlich, während die Augen und Haare tief und dunkel wie Kohle schimmerten.

    Er wartete ein paar Augenblicke und betrachtete neugierig die Menschen vor ihm. Dann verbeugte er sich leicht und stellte sich höflich vor: »Guten Abend, verehrte Reisende. Mein Name ist Mononobe no Maro.«

    Die Stimme des Mannes klang unangenehm düster und hochmütig. Sugawara war zunächst nicht begeistert, von einem Fremden gesehen zu werden. Auf der anderen Seite konnte die Anwesenheit eines Menschen in dieser Gegend nur bedeuten, dass Takamura nicht weit entfernt war. Jedoch hatte er nicht erwartet, eine Person anzutreffen, die deutlich über dem Rang eines gewöhnlichen Dorfbewohners stand. Vorausgesetzt natürlich, dass die Angaben des jungen Mannes der Wahrheit entsprachen. Er hatte schon vom Mononobe-Uji gehört, die zwar zu den ursprünglichen Familien des Landes zählten, aber heutzutage als unbedeutend galten. Er war überrascht, überhaupt einen Abkömmling dieses alten Clans zu treffen. Dazu noch hier im Nirgendwo und so weit entfernt von den bedeutenden Städten im Westen. Ein Wappen, ein Kamon, das die Herkunft von der ihm genannten Familie bestätigte, gab es nicht auf seinen Kleidern.

    Sugawara trat vor. »Mein Name ist … Katayama no Kiyomori und wir sind … sind Angehörige des Katayama-Uji.« Sugawara sprach so laut, dass ihn jeder seiner Leute hören konnte. Keiner würde ihre wahre Herkunft verraten.

    Mononobe nickte: »Ich habe von den Katayama gehört. Ich dachte, Euer Clan siedelt weit unten im Süden?« Sugawara antwortete nicht. Was hätte er auch sagen sollen, ohne sich unwissentlich in Widersprüche und Unwahrheiten zu verstricken?

    Der Fremde sah mit unbewegter Miene an der Reisegruppe entlang. »Es ist klug, in dieser Wildnis möglichst zahlreich unterwegs zu sein.« Seine Worte klangen leicht spöttisch. Obwohl er unbeholfen wirkte, Angst schien er nicht zu haben.

    Sugawara ging dem Fremden nicht auf den Leim und sah über die spitze Bemerkung hinweg. Mononobe erwartete offenbar keine Antwort, denn er redete in einem aufgeschlossenen Tonfall weiter. »Verzeiht, wenn ich Euch mit meinem plötzlichen Auftauchen erschreckt haben sollte! Eure Anwesenheit hier in dieser Wildnis ist für mich ein glücklicher Zufall und ich danke Amaterasu für unser Zusammentreffen. Ich komme geradewegs aus Takamura, einem kleinen, recht abgeschieden gelegenen Dorf, unweit von hier. Von dort aus bin ich kurz nach Mittag aufgebrochen mit zwei Dienern, die meine Habseligkeiten trugen. Ich brauchte dringend eine Rast und kaum verließ ich unser Lager, haben die beiden mich im Stich gelassen und sind mit meinem Gepäck davongelaufen. Vielleicht seid Ihr ihnen schon begegnet? Sie müssen hier vorbeigegangen sein, denn eine andere Straße gibt es nicht. Vorausgesetzt, die Dummköpfe sind nicht abgestürzt – und mit ihnen meine Kleidung!«

    »Sagtet Ihr, dass Ihr aus Takamura kommt? Und es liegt in dieser Richtung? Wie weit ist es noch bis zum Dorf? Ist es überhaupt bewohnt?«

    »Natürlich leben Leute in dem hinterwäldlerischen Nest! Ihr stellt seltsame Fragen! Ich bin die meiste Zeit hin und her gelaufen, aber ich kann Euch sagen, diese Ansammlung von erbärmlichen Hütten, die Ihr Dorf nennt, ist nur ein wenig mehr als eine Zeiteinheit entfernt von hier. Das ist nur eine grobe Schätzung, denn ich bin kein guter Wanderer und in dieser Gegend …«, er sah übertrieben sorgenvoll in die Dunkelheit links und rechts, »ist es schwer, flinke Träger zu finden.«

    Sugawara hob unwillkürlich eine Braue. Trotz der Umstände, in der er sich befand, konnte der junge Mann noch scherzen. Er schien sein Gepäck verloren zu haben, seine gute Laune aber nicht.

    »Nein, der Herr, niemand ist uns seit heute Morgen entgegengekommen. Die Wahrheit ist, wir waren überrascht, Euch hier anzutreffen. Wir hatten gehofft, einen unserer Leute zurückkehren zu sehen. Ihr habt ihn nicht zufällig unterwegs getroffen? Ihr hättet ihm eigentlich begegnen müssen, denn er hat diesen Weg hier genommen.«

    »Ich muss Euch leider enttäuschen, ich habe Euren Mann nicht gesehen. Genauso wenig, wie Ihr meine Diener getroffen habt. Ich kann mir nicht erklären, wo die beiden Diebe geblieben sein könnten, denn dieser Weg ist der einzige sichere Weg von und nach Takamura. Jedoch, sofern man nicht achtgibt, kommt man hier in den Bergen, vor allem während der Nacht, leicht vom Weg ab und verläuft sich.«

    »Hm, man hatte uns vor dem anderen Weg gewarnt«, gab Sugawara zögernd zu.

    »Natürlich, der zweite Weg führt entlang der dunklen Schlucht. Es gibt dort keinen geeigneten Weg – so habe ich gehört – sondern nur tiefe, todbringende Spalten im Boden. Nun, da ich kaum ohne meine Sachen weiterreisen kann, erlaubt mir, mit Euch wieder nach Takamura zurückzugehen und von dort die Fortsetzung meiner Reise neu zu ordnen.«

    »Sehr gerne, Herr Mononobe, es ist freundlich von Euch, uns zu begleiten. Wir sind froh, einen ortskundigen Führer, der uns in das Dorf führen kann, bei uns zu haben.«

    Die Sugawara rafften ihre Kräfte zusammen und folgten Mononobe in die Richtung, aus der er gekommen war. Der kaum sichtbare Steig war unwegsam und höchstens zwei Personen konnten nebeneinander gehen. Felsbrocken standen wie verlassene Gestalten mitten auf dem Weg und die Reisegruppe musste vorsichtig um sie herumgehen. Jeder der Sugawara hatte dabei Angst, vom schmalen Pfad zu rutschen und in den dunklen Abgrund zu fallen.

    In einem ruhigen Augenblick, als weniger Leute neben ihnen gingen, zupfte Sumiko ihre Freundin Tomomi am Ärmel. »Ich glaube, dieser Mononobe schaut ständig zu mir her!« Sie drehte rasch ihr Gesicht zur Seite, um ihre Neugier zu verbergen.

    »Oh, wirklich?« Tomomi war überrascht, und sie sah zum Jüngling hinüber, als würde sie ihn zum allerersten Mal sehen. Der Fremde schlenderte gelassen an der Seite von Sumikos Vater und hatte seine Augen, statt auf Sumiko, gegenwärtig auf den angeleuchteten Boden gerichtet. Sein entspannter Gang passte weit besser zu dem gepflegten Weg eines kunstvoll gestalteten Gartens, als in diese steinige Wildnis.

    »Vielleicht gefällst du ihm ja«, überlegte sie laut.

    »Unsinn! Wer geht hinter mir?«, wollte Sumiko stattdessen wissen, dabei richtete sie die Augen angestrengt auf den Boden, denn eine tiefe Röte strömte über ihre hellen Wangen.

    Tomomi drehte sich wie beiläufig um und schaute zurück. »Ich sehe gleich hinter dir deine Mutter. Ihr folgt die alte Asami, die ihr die Sachen trägt. Ihnen leuchtet einer der Männer, ich glaube, sein Name ist Kazuki. Es ist zu bezweifeln, dass der Fremde deine Mutter oder einen von den anderen mit seinen Blicken meint.«

    Sie konnte ein albernes Kichern nicht zurückhalten. Sumiko antwortete nicht. Sie schmollte kurz über das mangelnde Einfühlungsvermögen ihrer Freundin, dann gab sie sich lieber ihren schwärmerischen Gedanken hin und warf neugierige Blicke auf den fremden Jüngling vor ihr.

    Seine Haltung beim Gehen war vornehm und seine Manieren vorbildlich. Mit Genugtuung beobachtete sie, wie er ihren Vater mit dem nötigen Respekt behandelte. Er trug Kleidung mit einem veralteten Schnitt, die ihn ehrenhaft und verlässlich aussehen ließ. In ihrer Vorstellung lebte er einsam auf seiner halb verfallenen Burg in einer abgelegenen Gegend und war der letzte Abkömmling eines uralten Clans. Er verzehrte sich Tag und Nacht sich nach einer jungen Frau, die genug Stärke besitzen und ihm viele Kinder schenken würde, um seiner Familie den alten Glanz wiederzubringen. Sie seufzte selbstgefällig. Amaterasu hatte sie beide hier zusammengeführt, um für immer ihre Leben miteinander zu verknüpfen.

    Als sie bei einer Gelegenheit näher zu ihm und ihrem Vater aufschließen konnte, vermochte sie sein Gewand eingehender zu betrachten. Es ärgerte sie, dass die Umstände nicht zuließen, dass sie ihre schönsten Kleider trug. Sein Kimono jedoch, lose mit einem dünnen Obi zusammengehalten, schien aus edlem Damast gefertigt zu sein, während der Kosode darunter aus schimmernder Seide bestand.

    Die Stickerei, die seine Bekleidung rundherum schmückte, zeigte eine mit hoher Kunstfertigkeit nachempfundene Darstellung einer dicht bewaldeten Berglandschaft. Den Vordergrund des Bildes bildeten weich abgestufte Nebelschwaden über meisterlich angedeuteten Bäumen. Im Hintergrund erhob sich eine dunkle Bergkette, in deren Gipfel weiße Tupfer gearbeitet waren.

    Leider war das Licht zu schlecht, um die Farbabstufungen angemessen würdigen zu können. Sumiko gelang es ebenfalls nicht, zu erkennen, was für ein Schuhwerk er für das unwegsame Gelände in den Bergen gewählt hatte, da er diese beim Gehen nicht zeigte. Sie nahm jedoch an, dass er die festeren Zori anstelle der üblichen Geta anhatte.

    An seinem Gürtel hing ein Langschwert mit einem fremdländisch gestalteten Knauf. Eine einzelne Waffe zu tragen war nichts Bemerkenswertes, die jüngeren Bushi indes bevorzugten ausnahmslos die neuartigen gebogenen Klingen. Sumiko fand, ein langer Dolch und ein großes Schwert nebeneinander am Obi, zusammen Daisho genannt, ließen den Träger kraftvoller und schwungvoller aussehen. Sie erinnerte sich, dass von den Kämpfern ihrer Familie nur noch der uralte Genpaku mit der geraden Klinge eines Tsurugi herumgelaufen war.

    Mononobes Umgang mit seinem Schwert, das lose an seiner Hüfte hing, war recht nachlässig. Es sah kostbar aus und steckte in einer schwarzen Scheide, die mit erlesenen, weißen und goldenen Verzierungen belegt war. Gewöhnliche Männer, die Waffen tragen durften, betrieben eine überschwängliche Verehrung ihrer Schwerter. Sie pflegten sie mit feinen Ölen, um sie vor der Nässe zu schützten, und überhaupt fassten sie die Griffe ständig und bei jeder sich bietenden Gelegenheit an. Dieser Mononobe verhielt sich aber so, als würde ihn das Schwert an seiner Seite stören, ihn eher behindern, als nützlich sein. Seiner ganzen Erscheinung verlieh diese Gelassenheit, mit der er seine Waffe mit sich führte, etwas Herausforderndes, etwas … ja, Freches.

    Sobald sie einmal ein Gefühl für seine Persönlichkeit bekommen hatte, fielen ihr weitere widersprüchliche Wesenszüge an ihm auf. Sie selbst hatte sich oft genug nicht an »Sitte und Anstand«, wie ihre Mutter stets beklagte, gehalten. Sumiko wusste alles darüber, was eine junge Frau nicht tun sollte, da sie nahezu täglich das Gegenteil von dem, was von ihr erwartet wurde, machte. Die Mutter ihres Vaters hatte, sehr zu dessen Unwillen, Sumikos Wesen mit Lobgesängen von den goldenen Zeiten der Herrschaft der Frauen über die Männer »vergiftet« und sie missmutig gegenüber ihren Pflichten als Tochter und werdende Frau gemacht. Dieser Mann jedoch … Sumiko war ratlos und konnte sich seine Art nicht erklären. Obwohl er sich ausgesprochen höflich und zuvorkommend benahm, spürte sie, dass unter der Oberfläche seines gewinnenden Gebarens eine völlig andere Person lauerte.

    Wieder drehte er sein ungewöhnlich helles Gesicht in ihre Richtung, nur diesmal war der Blick weitaus stechender als zuvor. So als würde er sie zum ersten Mal richtig sehen. Diese Augen … Sie waren pechschwarz und kein Glanz funkelte in ihnen. Er schien sich zu gleicher Zeit angeregt mit ihrem Vater zu unterhalten und sie dennoch zu betrachten, obwohl er ihr den Rücken zudrehte.

    »Dieser Fremde ist ein seltsamer Mensch!«, fand Sumiko im Stillen und musste ihn trotzdem andauernd ansehen. Gleichzeitig fühlte sie eine leise Gänsehaut über ihren Körper laufen, wenn er sie anblickte. Sie wusste nicht, ob sie in der Lage wäre, ihm zu antworten, sollte er es wagen, das Wort unmittelbar an sie zu richten. Ihr fielen die anderen Jünglinge ihres Alters ein, die sie früher kennengelernt hatte, und sie musste fast lächeln, als sie sich an deren unbeholfene Einfachheit erinnerte.

     Mittlerweile kam die Gruppe immer langsamer voran. Neben dem Weg ging es tief in das schwarze Nichts hinab. Da sie zu wenige Lampen bei sich hatten, musste einer der Männer an einer gefährlichen Stelle stehen bleiben, um allen Nachfolgenden mit seinem Licht das Weiterkommen zu ermöglichen. Anschließend wurde die Lampe wieder nach vorne gereicht. Diese Vorgehensweise bot zwar eine gewisse Sicherheit, erschwerte ihr Vorankommen aber ungemein.

    Sugawara hatte mittlerweile das Gefühl, dass der Weg immer schlechter wurde. Nach einer Weile konnte er sich nicht beherrschen und machte eine Bemerkung zu Mononobe: »Der Boden wird nach jedem Schritt steiler und beschwerlicher. Wir setzen einen Fuß vor den anderen, nur kann ich beim besten Willen schon lange keinen Weg erkennen!«

    »Hm«, war einzige Antwort, die er auf seinen Vorwurf erhielt.

    »Meiner Meinung nach ist es zu dunkel, um weiterhin in so einem unwegsamen Landstrich unterwegs zu sein. Wenn ich nicht gelegentlich das Rauschen der Blätter und das Huschen eines Tieres um mich herum hören würde, müsste ich glauben, wir marschieren seit Stunden in einer dunklen Kammer, ohne uns auch nur einen Shaku von der Stelle zu bewegen! Sogar der Mond lässt uns im Stich! Wer weiß, wo er jetzt sein feistes Gesicht versteckt.« Sugawara leises Lachen klang gezwungen.

    Ein paar Schritte weiter sprach er erneut, den Blick auf Mononobe gerichtet: »Wie lange noch, junger Mann, sagtet Ihr, benötigen wir bis zum Dorf? Mir kommt es vor, als hätten wir längst an unserem Ziel ankommen müssen! Die Menschen hinter uns sind müde und hungrig und schon seit Stunden ohne eine ausreichend erholsame Rast auf den Beinen. Vielleicht sind wir in der Dunkelheit vom richtigen Weg abgekommen?«

    Als Mononobe offenbar keine Anstalten machte, sich zu rechtfertigen, hakte Sugawara drängender nach: »Ihr müsstet es wissen, schließlich seid Ihr diese Strecke bereits gegangen? Das habt Ihr vorhin gesagt, oder nicht?« Er konnte den wachsenden Argwohn in seiner Stimme kaum unterdrücken.

    Der Angesprochene blieb ruhig und freundlich. Er lächelte leicht: »Herr Katayama, ich versichere Euch, dass wir mit ein wenig Ausdauer unser Ziel bald erreichen werden! Wir sind höchstens einen halben Ri vom … Dorf entfernt. Ich kenne die Gegend und bin diese Straße schon einige Male in beide Richtungen gegangen. Ihr braucht Euch daher keine Sorgen zu machen, dass wir uns verirrt haben. Und wenn ich mich sogar nicht allzu sehr irre: Ungefähr hier an dieser Stelle wurde ich von den hinterhältigen Dienern bestohlen.« Er seufzte auf eine übertriebene Weise. »Wie kann ich Euch nur von meiner Aufrichtigkeit überzeugen?«

    Wie zur Unterstützung der Worte des jungen Fremden zeigte sich der blasse Mond am bedeckten Himmel. Ein allgemeines, erleichtertes Murmeln begrüßte das zusätzliche Licht, selbst wenn es noch so schwach war. Sugawara atmete schnaubend durch die Nase aus. Er war keineswegs beruhigt, denn Mononobe hatte ihn mit seinen Worten nicht die wachsenden Zweifel nehmen können. Er glaubte den Beschwichtigungsversuchen seines Begleiters immer weniger. Dazu hielt er dessen überhebliches Grinsen nur schwer aus.

    In diesem Augenblick rief jemand hinter ihnen etwas. Als Sugawara sich umdrehte, sah er einige seiner Gefolgsmänner mit einer der Lampen zwischen die Bäume des Abhanges deuten.

    »Takeru, was ist da los? Geh und schau nach!«

    Der Angesprochene gab seinem Herrn die Lampe und ging vorsichtig zu der Stelle, an der sich bereits eine kleine Ansammlung von Schaulustigen gebildet hatte. Sugawara sah, wie sich Takeru weit in die Tiefe beugte. Dann zog er sich wieder auf den schmalen Weg hoch und kam zu seinem Herrn zurück.

    »Es könnte sein, dass da unten etwas liegt.« Er schnaufte ein wenig und sah, während er sprach, Mononobe an.

    »Konntest du erkennen, was es ist?«

    »Schwer zu sagen, denn unsere Lampen reichen nicht weit genug den Abhang hinab. Wer weiß … es könnte durchaus ein Mensch sein.«

    »Dann wäre es unsere Pflicht, hinunterzugehen und nachzusehen.«

    Takeru ging wieder zu der Fundstelle zurück, gab sein Schwert einem der Krieger in Obhut, nahm eine Lampe von einem seiner Männer und stieg den dunklen Abhang hinunter. Ein paar lose Steine folgten ihm laut klappernd in die angespannte Stille. Schon der Weg oben war unter diesen Umständen gefährlich, doch ihn zu verlassen war im wahrsten Sinne des Wortes halsbrecherisch.

    Der Clan beobachtete gebannt, wie Takeru sich vorsichtig, an jedem Vorsprung, Stein oder Strauch festhielt und langsam den Hang hinab arbeitete. Sugawara, der ebenso aufmerksam wie seine Leute zusah, bereute jetzt, dass er ausgerechnet seinen besten Mann nach unten geschickt hatte. Takeru war schon seit Langem seine rechte Hand und er schätzte ihn nicht nur als erfahrenen Kämpfer, sondern ebenso als geduldigen Zuhörer und guten Freund. Jetzt hoffte er, dass sein Stellvertreter nicht in den Tod stürzen würde.

    Diejenigen, die oben standen, sahen gespannt zu, wie Takeru das Ziel erreichte und die Lampe über den Fund hielt. Ein Raunen erklang, als jeder sah, dass ein Mensch unten lag.

    Takeru streckte den Arm aus und zog an der Gestalt. Plötzlich rutschte der Körper ab und ein Bein traf ihn an der Seite. Er zuckte erschrocken zurück, gleichzeitig gab der Boden unter seinem Fuß nach und er fiel vornüber neben den leblosen Leib. Oben vom Weg hallte ein Schrei durch die Schlucht. Er strampelte sich frei, schlitterte dabei eine Armlänge hinab, bis es ihm wieder gelang, einen festen Halt zu finden. Die Leiche jedoch glitt weiter hinunter und wurde von der dunklen Tiefe verschluckt.

    Takerus Lampe fiel zu Boden, aber er riss sich schnell zusammen und hob sie hoch, bevor sie erlosch. Mit dem freien Arm als Hilfe kletterte er hastig den Steilhang zum Weg zurück.

    Sugawara und Mononobe eilten zu dem Punkt, an dem Takeru oben ankommen würde. Noch halb auf den Knien, erstattete er seinem Herrn Bericht.

    Die in der Hörweite stehenden Gefolgsleute drängten sich näher heran, um möglichst kein Wort zu verpassen. Darunter waren auch Sugawaras Ehefrau und Tochter mit ihren Begleiterinnen.

    »Was geschieht hier?«, wollte Frau Sugawara wissen. Ihr Mann bemerkte sie zwar, hob aber beruhigend eine Handfläche in ihre Richtung und schaute weiter erwartungsvoll seinen Stellvertreter an. »Ist es Rafu?«

    Takeru senkte den Kopf und atmete einige Male tief durch. »Nein, da unten liegt ein Fremder. Ein Mann. Er ist tot. Seinen Kleidern nach zu urteilen war er zu Lebzeiten kein Edelmann gewesen. Ich habe nicht viel Gepäck bei ihm gesehen.«

    »Ist dir sonst etwas an ihm aufgefallen?«, wandte sich Mononobe an ihn.

    »Nein.«

    Der Fremde musterte ihn durchdringend, daraufhin trat er bis an den Abhang vor und schaute in die Dunkelheit hinab. »Dann werde ich selbst nach unten steigen. Vielleicht ist es einer der von mir gesuchten Schurken. Ich will wissen, was mit meinem Gepäck geschehen ist.«

    Ohne auf eine Entgegnung zu warten, stieg er hinab. Takeru bot ihm mit einer kleinen Geste seine Lampe an, die Mononobe mit ausdruckslosem Gesicht missachtete. Er bewegte sich mit einer unheimlichen Sicherheit den Abhang abwärts. Aufrecht gehend, die linke Hand um den Griff seines Schwertes gelegt, ließ er die anderen oben zurück. Keiner der Anwesenden wagte es, ein Wort zu sagen; sogar die bleierne Müdigkeit in ihren Gliedern hatten sie vergessen.

    »Takeru …«, Sugawara sprach kaum hörbar. »Hast du den Mann unten gesehen?«

    »Ja, hab ich. Er lag auf der Seite. Ein verkeilter Ast hatte ihn aufgehalten und verhindert, dass er weiter abstürzte. Auf dem Rücken hatte er ein kleines Gepäckstück geladen.«

    »Wann ist er gestorben?«

    »Das dürfte bereits einige Zeit her sein, denn er war starr und eingefallen. Und er stank fürchterlich.«

    »Ein Diener?«

    »Ich denke, er war eher ein fahrender Händler. Seine Kleider sahen zu teuer aus für einen Diener.«

    »Und wenn er eines von Mononobes Gewändern angezogen hatte?«

    »So wertvoll war seine Bekleidung nicht.«

    »Woran ist er gestorben?«

    Der Bushi zögerte mit der Antwort. »Das kann ich nicht mit Gewissheit sagen.« Er machte eine Pause und beugte sich leicht nach vorne, damit ihn die anderen nicht hören sollten.

    »Als ich ihn anfasste … Sein Körper war aufgerissen von Verletzungen, die von Krallen stammen könnten. In seinem Leib war wahrscheinlich kein Knochen heil gewesen und sein Nacken war weich, denn der Kopf schwang ohne Halt in eine unnatürliche Lage. Selbst wenn jemand einen Abhang hinunterfällt, hat er nicht solche Wunden. Als Krieger bevorzuge ich den Stahl einer Klinge, der sauber und für einen Bushi angemessen ist.«

    »Ich verstehe …« Sugawara zog die Stirn in Falten.

    Diejenigen aus der Gruppe, die ihnen am nächsten standen, hörten Takerus leise Schilderung und die Ängstlichen, deren Lebenszweck nicht der Kampf war, zogen sich erschrocken vom Abhang zurück. Allein der räumliche Abstand zu dem Toten sollte sie vor dem gleichen Schicksal bewahren.

    »Er muss schon länger dort unten liegen, denn sein Körper ist voll mit Ungeziefer und bereits stark zerfressen.«

    »O ihr Götter!«, hauchte Frau Sugawara.

    »Genug jetzt, Takeru!«

    Unter den Zuhörer brach ein entsetztes Geraune aus. Takerus Gesicht verdüsterte sich. Schweigend schaute er seinen Herrn an. Dieser hob den Kopf und sofort verstummten die Stimmen.

    »Wie habt ihr ihn in dieser Dunkelheit überhaupt bemerkt?«

    »Es war Jiro, Herrin, er meinte, einen glänzenden Gegenstand gesehen zu haben.«

    »Bei allen Göttern, er hat ausgesprochen gute Augen! Bei der …« Sugawara unterbrach sich, denn von unten drangen die Geräusche von brechendem Holz herauf. Dann war Stille. Jeder horchte mit angehaltenem Atem in die Schwärze hinaus.

    3 - San

    »Er ist nicht mehr da!«, klang es hinter ihnen. Die dunkle Stimme ließ die Flüchtlinge erschrocken herumfahren. Kaum einen Schritt entfernt stand Mononobe auf dem Weg, als wäre er niemals fort gewesen. In der Hand trug er einen großen Krug. Er war viel schneller den Hang herunter und wieder nach oben geklettert als Takeru, obwohl dieser eine wesentlich kürzere Strecke hatte zurücklegen müssen.

    »Fast wäre es mir gelungen, ihn zu ergreifen, als ich jedoch versuchte, näher an ihn heranzukommen, löste sich der Untergrund und die gesamte Erde rutschte ab. Er fiel in die Tiefe und etliche Steine folgten ihm. Um ein Haar hätte mich der Boden mitgerissen. Die Leiche ist furchtbar zugerichtet. So etwas habe ich vorher noch nie gesehen! Offenbar wurde er von wilden Tieren angefallen, denn er hat Verletzungen am ganzen Körper, die eindeutig von Krallen herrühren. Ich fürchtete einen weiteren Erdrutsch und nahm daher einen anderen Weg nach oben, und zu meinem Glück, fand ich unterwegs diesen Sake

    Sugawara sprach die Gedanken seiner Leute aus: »Ihr sagtet, dass Ihr diese Gegend gut kennt. Was für wilde Tiere leben hier, die groß genug sind, um Menschen töten zu können?«

    Mononobe lächelte überheblich. »Wie ich Euch bereits erklärte, bin ich nur auf der Durchreise und meine Kenntnisse über dieses Gebiet sind keinesfalls so erschöpfend, dass ich jedes ansässige Lebewesen im Umkreis kennen könnte«, schwächte er seine eigenen Worte von vorhin ab. »Zudem haben die hiesigen Dorfbewohner für Fremdlinge nichts übrig. Sie sind störrisch, dumm, misstrauisch und abweisend, wie Ihr bald selbst feststellen werdet. Keiner aus Takamura redet mit einem Unbekannten. Ihr Verhalten ist weniger eine Ängstlichkeit, sondern eine grundlegende Abneigung gegenüber jedem, der nicht aus ihrem Dorf stammt. Sie zeigen einem auf unhöflichste Weise, dass man schnell weiterziehen soll. Ich bin genauso ein Fremder in diesen Bergen wie Ihr und rückblickend nenne ich meinen Versuch, den Weg zur südlichen Küste über diese Anhöhen abzukürzen, einen äußerst törichten Einfall. Anstatt die längere, aber dafür bequemere Strecke auf den mühelos begehbaren Straßen, mit all ihren gemütlichen Gasthöfen, zu nehmen, habe ich mich selbst in eine unangenehme Lage gebracht.«

    »Herr Mononobe, wir wollten die Hilfe, die Ihr uns zukommen lässt, um Takamura zu finden, nicht infrage stellen, aber wir müssen uns im Klaren darüber sein, welche Gefahr in diesem Augenblick um uns herum lauert.«

    »Ich verstehe Euch, Herr Katayama, nur stamme ich nicht aus diesem Landstrich und kann Euch daher nicht sagen, ob und welche gefährlichen Tiere hier umherlaufen. Ich wäre, ebenso wie Ihr, dankbar für eine verlässliche Antwort auf diese Frage.«

    Takeru ergriff das Wort: »So wie ich die Wunden in Erinnerung habe, war es ein Tier mindestens in der Größe eines mannshohen Bären.«

    Die Leute um sie herum gaben ängstliche Rufe von sich, als sie hörten, dass ein riesiger Bär in der Nähe sein könnte. Die anwesenden Krieger ließen sich nicht so leicht erschrecken, dennoch legten sie unwillkürlich die Hände an die Waffen.

    Mononobe warf Sugawaras Stellvertreter einen unfreundlichen Blick zu. »Ich habe nicht dein …«, hier bekam seine Stimme kurz eine spöttische Färbung, »kenntnisreiches Wissen darüber, welche Tiere hier in diesen Bergen leben und es ist ebenso unerheblich, ob ein riesenhafter Bär, ein schmächtiger Wolf oder gar eine angriffslustige Horde Affen für den Tod des Mannes da unten verantwortlich ist! Entscheidend ist für mich nur, dass ein Bär eine so große Ansammlung von Menschen wie unsere nicht angreifen wird. Ich schlage vor, wegen der wilden Tiere dicht beieinanderzubleiben und gemeinsam den Weg fortzusetzen. Es ist tatsächlich nicht weit bis zum Dorf.«

    Sugawara nickte widerwillig. Die Gruppe raffte sich auf und beeilte sich, von diesem Ort fortzukommen. Einige Wegbiegungen später gab es keine zusätzlichen Hinweise auf wilde Bestien und die Sorge, dass Tiere sie anfallen könnten, rückte langsam in den Hintergrund der Gedanken. Doch sobald die Angst nachließ, wurden wieder ihre Beine schwer, als hätte ihnen jemand Felsbrocken an die Knöchel gebunden. Sugawara blieb kurz stehen und drehte sich um. Er sah in völlig müde Gesichter. Weiter hinten war der Zustand der kleinen Schar vermutlich weitaus schlimmer. Er war hin und her gerissen: Einerseits wollte er endlich in Takamura ankommen, andererseits war die Gruppe am Ende ihrer Kräfte angelangt. Er selbst konnte sich kaum auf den Beinen halten. Er blieb an einer breiteren Stelle des Weges stehen und musterte schwer atmend seine Leute.

    Die Männer wirkten ohne Ausnahme kraftlos und matt. Er hätte sie antreiben können, aber die Frauen waren völlig ausgelaugt von der wochenlangen Flucht und kämpften sich, mehr tot als lebendig, vorwärts. Seine Ehefrau drückte ihren Rücken erschöpft und mit leerem Blick gegen den Felsen, um nicht zu nah an den Abgrund vor ihren Füßen zu geraten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand zusammenbrach und in den Tod stürzte. Als Oberhaupt des Clans war er verantwortlich für das Wohlergehen seiner Leute und ein Blick in die Runde bestärkte ihn in seiner Absicht, die Reise zu unterbrechen. Der Weg verbreiterte sich geringfügig und er rief nach Takeru.

    »Wir rasten hier!«

    Mononobe erhob sofort Einspruch: »Herr Sugawara, bedenkt, dass es möglicherweise nur noch wenige Dutzend Schritte bis zur nächsten menschlichen Ansiedlung sind. Eine Ruhepause in dieser Ödnis ist unnötig.«

    »Wären wir so nah an Takamura, müssten wir bereits die Lichter in den Häusern sehen. Wie Ihr selbst feststellen könnt, brauchen meine Leute eine Rast!«

    »Wir können uns alle im Dorf ausruhen!« Sugawara hatte kein Verlangen nach einer weiteren Unterhaltung mit Mononobe. Der Bursche war seltsam. Die Umstände, in denen der Mann steckte, erschienen durchaus nachvollziehbar und seine Erklärungen dazu klangen ebenfalls glaubwürdig. Bekanntlich liefen in seltenen Fällen Diener, ja sogar Nuhi und Shinuhi, aus unterschiedlichen Gründen ihren Herren davon. Da sie Befehle nicht verweigern durften, ohne dafür gezüchtigt oder getötet zu werden, blieb ihnen in der schlimmsten Notlage nur die Flucht übrig. Es gab Berichte, dass sich Diebe und Mörder als Bedienstete anstellen ließen, um in einer abgeschiedenen Gegend Verbrechen zu begehen. Warum also sollte Mononobe nicht die Wahrheit gesagt haben? Auch seine beinahe unerträgliche Selbstgefälligkeit lieferte Sugawara keinen Grund, die Glaubwürdigkeit des vornehmen Burschen anzuzweifeln. Kleinigkeiten an seinen Umgangsformen bestätigten Sugawara, dass dieser Mononobe, selbst wenn er inzwischen die festigenden Wurzeln einer Familie verloren haben sollte, tatsächlich aus einem guten Hause stammte. Der Kerl bereitete ihm dennoch ein ungutes Gefühl und, ohne dass er es unterdrücken konnte, misstraute er ihm zunehmend. Außerdem mochte Sugawara es nicht, wenn ihm jemand Befehle erteilen wollte.

    »Meine Leute sind den ganzen Tag unterwegs, Ihr seid nur die paar Schritte vom Dorf gekommen.«

    »Eure Annahme ist nicht richtig, denn ich suche seit heute früh mein Eigentum. Ich bin ebenfalls am Ende meiner Kräfte, doch ich würde ein Dach über meinem Kopf bevorzugen, ganz gleich wie löchrig es ist. Die Ortschaft ist in Anbetracht Eurer sonstigen Ansprüche vermutlich karg und freudlos, aber zumindest brauchen wir dort keine Angst zu haben, im Schlaf den Berg hinabzufallen.«

    »Ich will jedenfalls alle in eine sichere Unterkunft bringen, nicht nur diejenigen, die stark genug sind, einen festen Halt für ihre Füße zu finden.« Sugawara nickte Takeru zu, der die Anweisung, eine Ruhepause einzulegen, weitergab. Er lächelte, innerlich jedoch war er angespannt. Seine Abneigung gegen diesen Mononobe wuchs immer weiter. »Es steht Euch frei, vorauszugehen und im Dorf auf uns zu warten!«

    »Sehr freundlich von Euch, das zu erwähnen, an diese Möglichkeit hatte ich noch gar nicht gedacht. Euer Vorschlag zeigt Eure Lebenserfahrung und ich sollte darüber nachdenken.«

    Eilig wurden trockene Grashalme und dürre Äste gesammelt und kleinere Feuer entfacht. Die Menschen sanken erleichtert auf die Knie und genossen die Flammen, die ihnen ein wenig Sicherheit spendeten.

    Mononobe setzte sich neben Sugawara, der einen seiner Männer aussandte, um zu überprüfen, ob jemand fehlte. »Ich sehe ein, dass Ihr recht habt, was die schwindenden Kräfte Eurer Leute angeht. Ihr solltet nur bedenken, dass, wenn die Rast zu lange dauert, keiner von ihnen in der Lage sein wird, weiterzugehen.«

    »Ihr könnt jederzeit Eurer Wege gehen. Am besten sofort, noch ehe die Mattigkeit Euch hindert, aufzustehen«, warf Sugawara ein und lächelte wie ein knurrender Hund.

    »Genau das möchte ich ja! Nur …«, Mononobe verzog das Gesicht zu einer weichlichen Grimasse, »da ist nur das wilde, gefährliche Tier, das hier draußen sein Unwesen treibt. Ihr könnt mich nicht schutzlos in die

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