Das glückliche Nichts: Christuserfahrungen auf dem Zen-Weg - Mit einer Sammlung biblischer Koans
Von Sven Kosnick
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Über dieses E-Book
Die zweite Auflage enthält eine Reihe von Aufsätzen, die grundsätzliche Fragen der Religion ansprechen, Religion und Naturwissenschaft, Ethik, Schwierigkeiten mit der Bibel usw.
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Buchvorschau
Das glückliche Nichts - Sven Kosnick
Christuserfahrungen
auf dem Zen-Weg
Eine Parallele: 3-D-Bilder
Mit einem Vergleich möchte ich beginnen. 3-D-Bilder, wie auf der vorigen Seite abgedruckt, sind eine präzise Parallele zur Grundfrage des Zen und zur Grundfrage der Religion überhaupt. Auf den ersten Blick sind 3-D-Bilder zweidimensional. Wir brauchen eine spezielle Blicktechnik und etwas Übung, um die Tiefendimension des Bildes sehen zu können. Oft wird eine genaue Anweisung für diese Blicktechnik mitgegeben, damit die dritte Dimension sichtbar wird. Mit dieser Technik muss ausprobiert und geübt werden. Und plötzlich erscheint ein völlig neues Bild.
Mir persönlich ist es Jahre nicht gelungen, diese andere Ebene in den 3-D-Bildern wahrzunehmen. Andere erzählten von Motiven, die ich nicht in Ansätzen erkannt habe. Manchmal fragte ich mich, ob sie mir eigentlich nur erfundene Motive schildern. Sie gaben mir diese Anweisungen, die ich schon kannte: Du musst mit einem unscharfen Blick hinschauen. Oder die «Nasenspitzenmethode»: Die Nasenspitze auf das Papier setzen, den Blick so lassen und langsam das Bild nach hinten führen. Ich probierte es erneut und sah wieder nichts. Manche können innerhalb von Sekunden das 3-D-Motiv erkennen. Andere probieren es minutenlang und schildern, was sich ihnen auftut. Wieder andere müssen ein um das andere Mal üben und nach vielen Versuchen schaffen sie es irgendwann. Bis es mir nach Jahren selbst gelang, musste ich einfach für wahr halten und glauben, was die Anderen mir erzählten.
So wie mir die 3-D-Bilder erscheint vielen Menschen der Glauben. Sie müssen anscheinend für wahr halten, was Andere erzählen. Sie müssen für wahr halten, wenn jemand von Erleuchtung spricht, wenn er behauptet, dass in dieser Gegenwart so etwas wie der Himmel zu finden ist und wenn er erzählt, dass wir vom Göttlichen geliebt werden. Der Tod soll nicht das Ende sein und wir sollen für unser Tun über den Tod hinaus verantwortlich sein. Auf dieses «Für-wahr-halten» haben viele Menschen keine Lust mehr. Es funktioniert heute nicht mehr, glauben zu müssen, was andere erzählen. «Ich glaube nur, was ich sehe.» ist eine häufige Einstellung. Nur: Die zweite Bildebene ist da, aber eben nicht auf Anhieb sichtbar. Wer die erste Ebene für die ganze Realität hält, geht an der eigentlichen Absicht des Bildes vorbei.
Mit freundlicher Genehmigung von Andreas und Christian Bergel, www.catwins.de. Mir ist es nicht gelungen, dieses 3-D-Bild zu sehen, es soll eine Katze zu erkennen sein.
An diesem Punkt gibt es zwei Möglichkeiten. Ich halte die Behauptungen der Religionen überhaupt nicht für wahr, oder ich möchte selbst spüren und erfahren, wovon die Rede ist. Hier kommt die nächste Parallele zwischen dem 3-D-Bild und dem Zen. So wie wir lernen können, diese andere Bildebene zu sehen, so kann der Mensch auch lernen, die göttliche Wirklichkeitsebene unserer Welt wahrzunehmen. Es gibt auch dabei Anweisungen, wie der Mensch diese Wahrnehmungsfähigkeit entwickeln kann. Meditation und andere Formen von Spiritualität bieten Methoden an, mit denen das trainiert werden kann. Der Mensch hat ein Sinnesorgan für Gott. Dieses Sinnesorgan ist bei vielen Menschen wenig entwickelt. Es ist der eigene Geist, das eigene Bewusstsein. In diesem Geist die Spürfähigkeit und die Sehfähigkeit für das Göttliche zu entwickeln, dazu sind die verschiedenen spirituellen Übungen hilfreich.
Der Zweig der Religion, in dem Spiritualität und Meditation geübt werden, wird Mystik genannt. In der Mystik hält der Mensch die religiösen Behauptungen nicht für wahr, sondern er spürt und erfährt selbst, wovon die Religionen reden.
Das Wort «spüren» ist in der Religion noch viel zu wenig in seiner Bedeutung gewürdigt. Es ist nicht notwendig, an das Göttliche zu glauben im Sinne von «für-wahr-halten». Ich kann es ahnen, spüren, erfahren. Der Glaube fängt vielleicht damit an, dass ich Behauptungen für wahr halte. Wenn mir jemand von einer anderen Ebene des 3-D-Bildes erzählt, halte ich es zuerst auch nur für möglich. Ich glaube ihm. Das ist jedoch nicht das Ende des Weges, sondern hoffentlich der Anfang. So wie ich immer und immer wieder versuche, die 3-D-Ebene des Bildes zu sehen, so übe ich immer und immer wieder, das Göttliche zu erspüren. Der Glaube wird zuerst zu einer Ahnung. Der Mensch ahnt das Göttliche, er wird immer wieder zart von dieser Wirklichkeit berührt. Das wird hoffentlich deutlicher und zu einem Spüren. Irgendwann wird das Gespür zu einer klaren Erfahrung, z.B. bei dem Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung. Er wurde im Alter gefragt, ob er an Gott glaube. «Nein, ich weiß», antwortete er.¹ Sein Glaube war ein Herzenswissen.
Die Problematik des 3-D-Bildes beantwortet ein zentrales Gegenargument gegen die Mystik: Innere Erfahrung wäre doch rein subjektiv. Wenn mehrere Menschen ein solches Bild betrachten und sie sehen alle ungefähr dasselbe, liegt objektive geistige Realität vor. Wenn es rein subjektiv wäre, müsste jeder Betrachter etwas Anderes wahrnehmen. Dass dem nicht so ist, zeigt den objektiven Charakter dieser Wahrnehmung.
In den Religionen ist es genauso. Wenn Menschen das Göttliche wahrnehmen, ähneln sich ihre Schilderungen. Sie sind überwältigt von der Tiefe des Göttlichen, sie sind erschüttert von dem Glück, das sie erleben, sie sind berührt von der Schönheit, die sie sehen dürfen. Erleuchtungserfahrungen im Zen können gerade deshalb von einem Lehrer oder Meister bestätigt werden, weil der Grundcharakter gleich ist. Menschen, die Erleuchtungserfahrungen gemacht haben, erkennen sich gegenseitig. Sie hören sich zu und merken, dass sie prinzipiell dasselbe erfahren haben. Die Einzelheiten sind individuell. Keine Erleuchtung gleicht der anderen. Der Grundcharakter ist aber identisch.
Daher trifft das Argument, solche Erfahrungen wären rein subjektiv, nicht zu. Die Ähnlichkeit zeigt, dass hier eine objektive geistige Wirklichkeit geschaut wurde. Wir müssen zwischen subjektiv und introspektiv unterscheiden. Eine subjektive Erfahrung ist eine innere geistige und völlig individuelle Erfahrung, die kein anderer Mensch machen wird. Eine introspektive Erfahrung ist ebenfalls innerlich und geistig. Sie wird jedoch von vielen Menschen gemacht, sie können darüber reden und merken im Gespräch, dass der Andere prinzipiell dasselbe erfahren hat. Daher hat sie objektiven Charakter.
Das Christentum hat sich folgende Frage zu wenig gestellt: Wie kann der Mensch lernen, das Göttliche wahrzunehmen? Manche Menschen spüren von alleine. Die Frage wird jedoch dem Zufall überlassen, bzw. häufig nicht gestellt. Wie kann ein Mensch das Gespür für das Göttliche entwickeln? In den Kirchen und Schulen lernen wir das Denken. Wie lernen wir zu spüren? In den Kirchen wird sozusagen von der nächsten Ebene des 3-D-Bildes erzählt, ohne das Spüren einzuüben. An diese Ebene können wir glauben, oder auch nicht. Wie der Glaubende die göttliche Wirklichkeitsebene selbst spüren lernen kann, wird sehr selten erzählt und noch seltener eingeübt. Es ist allerdings das Entscheidende auf dem Weg zum eigenen «Ich weiß».
In den letzten Jahren hat sich das geändert. Die Mystik ist im Christentum wiederentdeckt worden. Viele Methoden der Übung wurden geschildert. Dabei haben Christen über den kirchlichen Horizont hinausgeschaut und probieren auch spirituelle Methoden anderer Religionen. Sie praktizieren Yoga, tibetische Meditation, Zen und vieles mehr. Sie merken, dass das Fremde ihnen das Eigene verständlich machen kann.
Spiritualität ist sozusagen die Lernmethode, die andere Ebene des 3-D-Bildes wahrzunehmen. Da bei vielen Menschen das Sinnesorgan für Gott kaum bis gar nicht ausgeprägt ist, ist es oft erforderlich, den Geist zu «trainieren». Das kann dauern. Menschen sind in dieser Frage sehr unterschiedlich. Es gibt Menschen, die haben dreißig Jahre Zen geübt, bis sie eine erste Erfahrung gemacht haben. Andere üben nur wenige Monate. Das Sinnesorgan entwickelt sich im Lauf der Zeit und wer eine tiefe Sehnsucht nach der göttlichen Wirklichkeit hat, der wird immer mehr ahnen und spüren, der wird immer öfter vom Göttlichen in seinem Herz berührt werden und irgendwann seine klare und deutliche Erfahrung machen.
Platon hat mit seinem Höhlengleichnis dieselbe Schwierigkeit ausgedrückt. Das Höhlengleichnis ist ein Gedankenspiel. Menschen sind in einer Höhle angekettet und können nur auf eine Wand schauen. Hinter ihnen werden mit Hilfe eines Feuers und Figuren Schatten an die Wand geworfen. Das halten sie für die Wirklichkeit.
Ein Mensch kann sich befreien. Er erkennt die wahre Natur der Schattenbilder. Er findet danach den Weg aus der Höhle an die Erdoberfläche. Dort sieht er ein reicheres Leben als das in der Höhle. Er schaut in die Sonne und sieht ein blendendes «Nichts». Er erkennt, dass diese Sonne die eigentliche Quelle allen Lebens ist, auch in der Höhle. Er denkt an seine Mitmenschen in der Höhle und kehrt zu ihnen zurück. Er erzählt ihnen von seinen Erfahrungen und versucht ihnen diese Wirklichkeit schmackhaft zu machen. Sie wollen nichts davon hören. Als er dennoch weiter erzählt, werden sie zornig und schlagen ihn am Ende tot. Platon denkt hier natürlich noch nicht an Christus, sondern an Sokrates. Er wurde von einem Athener Gericht zum Tod verurteilt, weil seine Wahrheiten die Athener überfordert haben.
Das Höhlengleichnis drückt die Hilflosigkeit der Religionen seit 2400 Jahren aus. Grundlage der Religion ist die Wahrnehmung einer höheren Wirklichkeit. Über diese Wirklichkeit lässt sich nicht diskutieren, wenn sie nicht geschaut wurde. Der Rückkehrer in Platons Höhlengleichnis möchte auch nicht diskutieren. Er möchte, dass die Angeketteten sich mit ihm auf den Weg aus der Höhle machen. Nun glauben die Gefangenen jedoch nicht, dass es mehr gibt als die Schattenbilder an der Wand. Der Rückkehrer ist jetzt völlig hilflos. Überzeugen kann er sie nur, indem er ihnen die Welt außerhalb zeigt. Wenn keine Bereitschaft vorhanden ist, sich auf den Weg zu machen, hat er keine Chance.
Die Sonne, das Leben auf der Erde und in der Höhle sind die eine, ungetrennte Wirklichkeit. Genauso sind die beiden Ebenen des 3-D-Bildes nicht voneinander trennbar. Die eine gibt es nur mit der anderen. Die Wirklichkeit, die wir im Zen entdecken möchten, ist auch nicht von dieser irdischen Welt getrennt. Wir gehen nicht irgendwo anders hin. Wir entdekken keine Welt außerhalb unserer Höhle. Was im Zen gefunden werden kann, ist die Tiefendimension dieser irdischen Wirklichkeit. Das glückliche Nichts ist nicht jenseits dieser Welt. Es ist in ihr bereits Gegenwart, in allem, was wir tun und sind.
Wenn der Mensch deutlich spürt, darf dieses «Ich weiß» nicht rechthaberisch werden. Wer so weiß, der sieht Gott überall, in sich, in den Anderen, in Allem. Er kann sich nicht mehr über andere erheben, er kann nicht mehr rechthaberisch sein, denn er nimmt jeden anderen als Gleichnis und Ebenbild Gottes wahr. Die Rechthaberei ist eine große Krankheit in allen Religionen. Daran zu arbeiten ist eine der Aufgaben auf dem weiteren Weg. Wenn wir diese Erkenntnis weitergeben möchten, geht das nur in Liebe und Respekt vor dem Anderen.
Wenn wir Religion so verstehen, ist sie «Sinn und Geschmack für das Unendliche», so die berühmte Definition von Friedrich Schleiermacher aus dem Jahr 1799.² Sie ist nicht an ihre mythologischen Geschichten gebunden, sie ist nicht auf ihre Glaubenssätze begrenzt. Die Grundlage ist die religiöse Erfahrung.
1 Im Gespräch mit Georg Gerster 1960, www.youtube.com/watch?v=KJyryI8Oifw.
2 Friedrich Schleiermacher: Über die Religion, S. 36.
Was «machen» wir im Zen?
Im Zen geht es um einen inneren Prozess. Es geht nicht um die Vermittlung von gedanklichen Glaubensinhalten. Es geht auch nicht um Bücher lesen, Texte verstehen oder das Übernehmen einer bestimmten Weltanschauung. Wenn Sie einen Zen-Kurs besuchen, sitzen Sie nicht an einem Tisch, vor Ihnen Block und Stift und schreiben mit, was vorne jemand sagt. Am Ende findet kein Test statt, in dem abgefragt wird, ob Sie die Inhalte des Vortrags im Gedächtnis behalten und verstanden haben. Sie müssen nichts auswendig lernen. Es geht auch nicht darum, zum Buddhismus oder zum Christentum zu konvertieren. Im Christentum haben wir den Schwerpunkt auf die Gedankengebäude gelegt. Luther hat einen Katechismus geschrieben, dessen Worte auswendig gelernt werden können. Das Examen im Theologiestudium bestehen die Studierenden, wenn sie die richtigen Bücher gelernt haben und ihre Inhalte wiedergeben können. Auch darum geht es im Zen nicht. Im Gegenteil, Sie sollen Ihre Gedanken loslassen. Das intellektuelle Auswendiglernen der richtigen Texte hat mit dem Erspüren der göttlichen Wirklichkeit wenig zu tun. Dem Sinn und Geschmack für das Unendliche³ können die vielen Worte sogar im Weg stehen.
Vor aller Methode, vor aller Technik steht die Sehnsucht. Alle Meditationstechnik bringt wenig, wenn ich diese Sehnsucht nach der göttlichen Wirklichkeit nicht in mir habe. Eine Geschichte, die mir dazu in Indien erzählt wurde, handelt davon. Ein Heiliger fragte einen Schüler: «Was ersehnst du dir am meisten?» Der Schüler antwortete: «Gott.» Als wenige Tage später beide beim Baden an einem Fluss waren, tauchte der Heilige den Schüler etwas länger unter. «Was wolltest du dort unten am meisten?», fragte er. «Luft.» lautete die Antwort des Schülers. «Wenn du Gott so ersehnst wie der Ertrinkende die Luft, wirst du ihn schauen», erwiderte der Heilige.
Eine zweite Geschichte stammt aus dem Zen: Eines Tages sagte ein Mann aus dem Volk zu Zen-Meister Ikkyû: «Meister, wollt Ihr mir bitte einige Grundregeln der höchsten Weisheit aufschreiben?» Ikkyû griff sofort zum Pinsel und schrieb: ‹Aufmerksamkeit›. «Ist das alles?» fragte der Mann. «Wollt Ihr nicht noch etwas hinzufügen?» Ikkyû schrieb daraufhin zweimal hintereinander: ‹Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit›. «Nun», meinte der Mann ziemlich gereizt, «ich sehe wirklich nicht viel Tiefes und Geistreiches in dem, was Ihr gerade geschrieben habt.» Daraufhin schrieb Ikkyû das gleiche Wort dreimal hintereinander: ‹Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit›. Halb verärgert begehrte der Mann zu wissen: «Was bedeutet dieses Wort ‹Aufmerksamkeit› überhaupt?» Und Ikkyû antwortete sanft: «Aufmerksamkeit bedeutet Aufmerksamkeit.»⁴ Die Aufmerksamkeit des Geistes ist der Weg, das Spürvermögen des Menschen zu verfeinern.
Was machen wir also im Zen? Wir sitzen auf einem Bänkchen oder einem Kissen und tun (im Idealfall) nichts. Manchmal gebe ich als Zenlehrer den Hinweis, nicht einmal zu meditieren. Der Meditierende tut gar nichts, er sitzt nur in aller Aufmerksamkeit. Wer das versucht, wird schnell bemerken, dass im Kopf eine Affenherde von Gedanken umherspringt. Je mehr ich diese Gedanken zur Ruhe bringen möchte, desto wilder springen sie. Jetzt versucht der Meditierende, die Gedanken immer wieder zu lassen. Ein Gedanke entsteht. Er bemerkt ihn und lässt ihn los. Die Aufmerksamkeit löst sich wieder von dem Gedanken und kehrt zum Sitzen zurück. Der nächste Gedanke kommt und auch den lässt er wieder und kehrt zum aufmerksamen Sitzen zurück.
Sich in seinem Leib aufrichten und sich in seinen Gedanken lassen, das ist eine Kurzformel für die Zen-Übung von Pater Lasalle. Pater