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Vom Guten im Bösen: Wer immer strebend sich bemüht…
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eBook303 Seiten4 Stunden

Vom Guten im Bösen: Wer immer strebend sich bemüht…

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Über dieses E-Book

Erzählt wird das ereignisreiche Leben eines jungen Mannes, der nach dem zweiten Weltkrieg in einer ländlichen Gegend Westdeutschlands seine Ausbildung in einem Handwerksberuf beginnt und trotz vieler Widernisse durch Fleiß, Können und Strebsamkeit seinen Platz an der Spitze eines großen Bauunternehmens findet. Dabei erlebt er seine berufliche Arbeit in einem konflikreichen Umfeld, das sich neuen Sichtweisen öffnen muss, obgleich viele Akteure in überkommenen Vorstellungen wie selbstverständlich gefangen sind und noch viele dunkle Schatten aus der jüngeren Vergangenheit bis in die Gegenwart fallen. In ihrer egoistischen Gier nach Reichtum, Macht und Anerkennung schrecken einige nicht davor zurück, ihre Interessen rücksichtslos mit Lügen, Intrigen, Betrug und sogar tödlicher Gewalt zu verfolgen. Schon in dieser Zeit werden Verhaltensweisen innerhalb einer Gesellschaft deutlich, die mit den Worten ich, alles und sofort nur unvollkommen beschrieben sind und sich bis in unsere Zeit verfestigt haben. Ein spannend erzähltes Arbeitsleben, das auch Bezüge zu aktuellem Geschehen innerhalb der Wirtschaft zulässt und, mit einem Schuss Ironie verfeinert, zu Gedanken über die Erwerbsarbeit der Zukunft anregt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. März 2021
ISBN9783347271418
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    Buchvorschau

    Vom Guten im Bösen - Friedrich Wilhelm Rittmeister

    „Lügen haben kurze Beine!"

    Diese Volksweisheit war Johann Anton Pappenstiel schon vom zarten Kindesalter an ins Fleisch und ins Blut übergeleitet worden. Schon bei der kleinsten vermuteten Unregelmäßigkeit seinerseits war er daran als kleines Kind immer wieder zwei rechts, zwei links mit sich anschließend rötenden Ohren und einem gewissen Grundrauschen daran erinnert worden. So hatte er fortan geglaubt, auch wenn es ihm nicht immer leicht gefallen war, Treu und Redlichkeit üben zu müssen. Im Glauben an die letztlich obsiegende Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit hatte er auch sein über vierzig Jahre währendes Berufsleben als Handwerker und Meister bester Qualität mit viel Arbeit verbracht. Er war dabei ungewöhnlich fleißig gewesen, aber nach langem Arbeitsleben aus eigener Sicht nur zu einem eher bescheidenen Wohlstand gelangt. Dieses hatte ihn angesichts des beruflichen Gebarens von Vertrauten, Kollegen und Wettbewerbern schon gelegentlich am tieferen Sinn seiner verinnerlichten Grundhaltung zweifeln lassen. Nach getragener Last des Tages war ihm oft das Geschehen in den Sinn gekommen, bei welchem der Zusammenhang von Unwahrheiten und verkürzten Extremitäten seinem kindlichen Geist unauslöschlich nahe gebracht worden war.

    OOO

    Es begab sich am sechsten Geburtstag des Nachbarjungen Dietrich Albern, der die Kinder von Freunden, Verwandten und Heuerleuten seiner Familie zum Spielen und Naschen eingeladen hatte. Alle Kinder hatten sich sehr auf einen Nachmittag der ungezwungenen Spiele in Heiterkeit und Freiheit gefreut, was zu jener Zeit noch nicht selbstverständlich war. Vor allen Dingen hatten sie aber die sich anschließende Tafel mit Kuchen und Kakao sowie den Höhepunkt des Tages, einem Wackelpudding mit Waldmeistergeschmack und Sahnehaube, herbeigesehnt. Als gegen Abend nun endlich das wilde Spiel ein Ende gefunden hatte und man zu Tische saß, wurde in einer großen Schüssel auch das Objekt der kindlichen Begierde, nämlich der versprochene Wackelpudding, in das Speisezimmer getragen. Alle Kinderaugen richteten sich auf die grünlichdurchsichtige Masse, von der keiner damals ahnte, dass diese in besseren Kreisen „Götterspeise" genannt wurde, weil vermutlich nur die Götter wussten, welche Zutaten sich darin verbargen. Trotz ihrer Taufe hatten die Kinder von der Existenz irgendwelcher Gottheiten bisher allerdings keine Kenntnis erlangt.

    Mit dem Pudding schob sich auch eine Dame mittleren Alters durch die breite Flügeltür. Es war Emma Albern, von allen Kindern Tante Emma genannt, hauswirtschaftliche Lehrkraft und ledig. Ihr war es in den vielen Jahren ihrer pädagogischen Tätigkeit gelungen, ihre allseits gelobte Kochkunst auch in ein stattliches äußeres Erscheinungsbild umzusetzen. Aus ihren Worten und Gesten sprach dann auch jene Souveränität, die keinen Widerspruch duldete und bei den kleinen Rangen am Tisch mehr als nur Respekt auslöste. Auffällig an Tante Emma war, dass sich ihre üppige Figur auf eher kurze Beine stützte, was ihre Autorität für die Kleinen auch physisch stark unterstrich.

    Die Kinder hatten in freudiger Erwartung schon einen großen, flachen und zwiebelgemusterten Teller und zwölf dazugehörige Schälchen sowie eine ebensolche Zahl von Teelöffeln bereitgestellt, als die entscheidende Verrichtung, das Stürzen des Puddings, bevorstand. In diesem kritischen Moment ergriff nun Tante Emma die Initiative und das Puddinggefäß mit den Worten: „Lasst mich das machen, Kinder! Ich habe die größere Erfahrung. Im Augenblick dieser alles klärenden Sätze geschah das Unfassbare: Der Wackelpudding löste sich unter Emmas erfahrenen Händen langsam von den Seitenwänden der Schüssel und sank der Erdanziehung entgegen auf den etwas schräg gestellten Teller, von dem der für einen Moment sichtbare gugelhupfförmige Puddingkloß, durch die weiter wirkende Abtriebskraft beeinflusst, mit leisem, aber hörbarem Schmatzen hinabrutschte. Nach einem ungebremsten Sturz von etwas mehr als einem Meter schlug er dann auf dem gebohnerten Boden auf, um dort wie eine zerschlagene grüne Glasflasche in tausend Stücke zu zerspringen. Das dabei hörbare platschende Geräusch ging im Entsetzen der Kinder und in einem für Emma unangemessenen Fluch unter. In dieser Situation zwischen Lachen und Weinen geschah beides. Einigen Kindern, die selten in den Genuss von Wackelpudding kamen, standen Tränen in den Augen, die meisten schauten betroffen, aber zwei Kinder, darunter das Geburtstagskind, begannen kreischend zu lachen. Nur Tante Emma fand Misserfolgs erfahren sofort ihre Fassung wieder und beschuldigte umgehend das kleine Heuerleutekind Johann Anton, den Teller absichtlich schräg aufgestellt und daher das Missgeschick verursacht zu haben. Außerdem kam in der nun folgenden Beschuldigungstirade sich selbst entlastend noch zur Sprache, dass Johann Anton vor seiner angeblich bösen Tat noch mit einem Finger in seiner Nase gebohrt und somit den Pudding sowieso verunreinigt und ungenießbar gemacht habe. In diesem Zusammenhang nannte Emma ihn auch noch einen „Schnottenpatt, in dessen Kreisen es wahrscheinlich auch üblich sei, vom Fußboden zu essen.

    Dieses wollten die Kinder nun sehen und so nötigten sie den kleinen Johann Anton, mit seinem Löffelchen einige der zerplatzen Puddingstücke vom Fußboden zu essen. Dabei amüsierten sich die anderen und insbesondere die lachenden Kinder köstlich und forderten ihn auf, auch noch Schlagsahne auf den Pudding zu nehmen. Johann Anton aß aus Angst vor den anderen Kindern und aus Angst vor Tante Emma, die mit verächtlichem Blick, aber ohne einzugreifen, dem Ganzen zusah. Kurz danach, Tante Emma hatte sich schnell aus dem Staube gemacht, ohne im Zimmer und innerhalb der Geburtstagsfeier die Ordnung wieder herzustellen, gingen die ersten Kinder zurück zu den Häusern ihrer Eltern. Nur Johann Anton, von nun an „Schnottenpatt" genannt, lief schnell und heulend wie ein Schlosshund mit triefender Nase nach Hause, so dass es so schien, als ob er seinen Schimpfnamen zu Recht bekommen hatte.

    Zuhause angekommen traf er auf seine Mutter, die an diesem Tage, hager wie sie ohnehin schon war, nach schwerer Arbeit noch verhärmter aussah als noch am Morgen, als Johann Anton zur Geburtstagsfeier aufgebrochen war. Von ständiger Geldnot gedrückt, hatte sie den ganzen langen Tag während brütender Hitze bei der Ernte auf den Feldern der Hofherrschaft Albern geschuftet, ohne einen Gedanken an ihren kleinen Sohn zu verlieren, weil sie von der Sorge um die Gunst des Hofherrn und um den weiteren Verbleib in dem alten und kleinen Heuerhaus seit Tagen mehr als überwältigt war. Nun kam ihr Sohn weinend auf sie zu, nicht um bei ihr Umarmung zu finden, sondern nur um an ihrer Schürze etwas Schutz und Trost zu suchen. Selber in Sorge und an der Grenze ihrer Kraft wies sie ihn aber ab und fragte etwas barsch nach dem Grund seiner Tränen.

    Nun brach der ganze Schmerz ob seiner Kränkung durch die Spielgefährten und durch Tante Emma, die Schwester des Hofherrn, aus ihm heraus, sodass er nur schluchzend über die Ungerechtigkeit und Erniedrigung berichten konnte, die ihm an diesem Tag widerfahren war. Als nun die Rede auf das Verhalten von Tante Emma und deren missglückten Puddingsturz kam, verfinsterte sich das Gesicht der Mutter aus Angst um das Verhältnis zur Hofherrschaft, das durch diesen Vorfall vielleicht Schaden nehmen könnte. So klang ihre Stimme eiskalt, als sie sagte: „Du lügst! Das kann nicht so gewesen sein, Tante Emma passiert das nicht. Und hör auf so etwas zu erzählen, denn Lügen haben kurze Beine!" Dazu holte sie kräftig aus und schlug auf seine rechte Wange, sodass es noch lange in seinem Ohr nachhallte. Das hatte gesessen. Johann Anton erstarrte und hörte sofort auf zu weinen. Er lief in den kleinen Garten neben dem Haus und warf sich in die hinterste Ecke, leer wie er war. Die Mutter aber wurde leichenblass und die Härte des Gesichts löste sich in einem Ausdruck tiefer Traurigkeit.

    Als am späten Abend der Vater von der Arbeit aus dem alten Sägewerk der Albern am Ort nach Hause kam, versuchte Johann Anton seinen Schmerz zu ihm zu tragen, um, wenn schon kein Recht, so doch Trost zu erlangen. Doch auch sein Vater wies ihn ermüdet ab, resigniert von einem Tag im Takt einer Maschine, die täglich schneller zu laufen schien und einstmals erworbenes berufliches Können bedeutungslos werden ließ. Lass mich in Ruhe! Aus seiner gequälten Reaktion sprach all die Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit eines Menschen, noch von Krieg und Gefangenschaft gezeichnet, dem Arbeit früher Stolz, aber nun nicht enden wollende Verzweiflung geworden war. Keiner konnte an diesem Abend ahnen, dass seine Verzweiflung schon sehr bald enden und sich sein Wunsch nach Ruhe schon wenige Monate später bei dem Bruch eines Sägeblatts dauerhaft erfüllen würde. Seltsamerweise hielt sich die Trauer der Mutter über den Verlust ihres Ehemanns sehr in Grenzen und auch Johann Anton fand nach anfänglichem Schock mindestens nach äußerem Anschein schnell seine Fassung wieder.

    Von nun an strafte nur noch die Mutter und kurz darauf auch eine kleine Anzahl von Lehrpersonen, die sich in der Grundschule am Platze um die Volksbildung verdient machen sollte, den noch kleinen Johann Anton zu Recht, aber überwiegend zu Unrecht, allerdings nie mit schlechtem Gewissen. Neben der Mutter sahen sich diese Leute ihres Amtes waltend nicht nur zur Vermittlung von Wissen und Können, sondern insbesondere zur Erziehung im herrschenden Sinne aufgerufen. Außerdem waren sie auch zur Selektion ermächtigt, zur Trennung der Spreu vom Weizen, von Zukunftslosigkeit und Zukunft.

    Für Johann Anton begann eine schwere Zeit. Nicht nur, dass er von allem Neuen, das ihm von nun an in seinen kleinen Kopf gepresst wurde und ihm im Wortsinn unfassbar schien, in einen Zustand der Verstörung versetzt wurde, es kam noch ein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber den Lehrpersonen hinzu, die, Zufall oder nicht, allesamt von etwas gedrungener Figur mit kurzen Beinen vor ihm und seinen Mitschülerinnen und Mitschülern erschienen. Dabei war es gleich, ob sie in Hosen oder in Röcken auftraten, allen war eine bestimmende, Gehorsam fordernde Diktion eigen, die oft sehr einfach, aber auch irgendwie überzeugend auf die Kinder hernieder ging. Während Johann Anton im tiefen Inneren immer noch die mütterliche Verknüpfung von Kurzbeinigkeit und Lüge bewegte, nahmen die anderen Kleinen der Klasse die Segnungen der Wissenden gläubig und widerspruchslos entgegen. Es erstaunte daher auch nicht weiter, dass auch sehr komplexe Gegenstände der Natur, der Geschichte und der Religion verblüffend einfach vorgetragen wurden oder eine so verblümte Erzählung fanden, dass sich oft sowohl ihr Gehalt als auch deren pädagogische Wirkung darin verloren. Obgleich die meisten in der Klasse diese Art der Wissensvermittlung notgedrungen klaglos über sich ergehen ließen, wuchsen im kleinen Johann Anton erste Zweifel am Wahrheitsgehalt des Gehörten heran. Diese Zweifel verstärkten sich zunächst schleichend, später galoppierend, als er wahrnahm, dass es zum Vorgetragenen außerhalb der Schule auch andere Auffassungen gab. Außerdem begann ihm schon früh zu dämmern, dass die wahre Welt durch Weglassungen oder Erweiterung des Dargebrachten in ein gewünschtes Licht gesetzt werden konnte. Auch fiel ihm beiläufig auf, dass eine gut erzählte, überzeugend vorgetragene Lüge allemal glaubwürdiger wirkte als eine komplizierte, ehrliche Wahrheit.

    So verrann seine Grundschulzeit ohne tiefer gehenden Erkenntnisgewinn innerhalb der allenthalben waltenden Grundkonditionierung für das Leben. Als es nach Jahren nun anstand, darüber zu entscheiden, ob jemand und wenn ja wer für eine weiterführende Schule vorgeschlagen werden sollte, reichte schon ein Blick auf Johann Antons Zeugnis aus, um ein derartiges Vorhaben für ihn, der immer noch von seinen Mitschülern offen und heimlich auch von den Lehrkräften mit seinem Spitznamen gerufen wurde, undenkbar erscheinen zu lassen. So blieb er auf dem Boden der Tatsache, dass er offenbar eher für Bodenständiges als zu Höherem berufen war. Die jedoch ausgewählt wurden gehörten allesamt zu den Kindern, denen von Hause aus Geburtstagsfeiern mit Götterspeisen möglich waren. Da Noten nun aber wohl gemeinhin ebenso viel über die Qualität der benotenden Lehrkräfte aussagten wie über den Lernstand der benoteten Schüler, nahm Johann Anton das Geschehen weniger persönlich und als Urteil höherer Mächte hin, obgleich seine subjektiven Wahrnehmungen ihm sagten, dass die Ausgewählten vom eigenen Stand der Dummheit und des Nichtkönnens eher nach unten abwichen. So wurden aus den Ausgewählten in seinen Augen Auserwählte, die von Geburt durch irgendwen, doch besonders von den Lehrpersonen mit einer besseren Prognose für ihre zukünftige Entwicklung privilegiert worden waren. Die sich oft wiederholenden Worte der klein gewachsenen, doch oftmals schlagkräftigen und auch Orgel spielenden Religionspädagogin von den Vielen, die berufen, aber den Wenigen, die auserwählt seien, bekam für Johann Anton von nun an eine praktische Bedeutung.

    So verweilte Johann Anton weiterhin in der Schulform für das gemeine Volk, dessen wesentliche Aufgabe darin bestand, die schlummernden Produktivkräfte durch ihre Arbeit möglichst umfänglich zu entfalten. Die Entfaltung der Wahrheit durch das Lehrpersonal hielt sich jedoch vielfach in engen Grenzen. Das Prinzip der didaktischen Reduktion fand ihre Verwirklichung überwiegend in Verkürzungen oder Vereinfachungen der durchaus nicht widerspruchsfreien Realität im Sinne einer erwünschten Wirkung. Dieses ahnte Johann Anton aber noch nicht. So lernte er treu und redlich das, was er lernen sollte, und gelangte nach Trennung von den Auserwählten ohne eine Veränderung seinerseits urplötzlich auch zu besseren Zensuren für seine Bemühungen. Letzteres erstaunte ihn und erfreute ihn doch, und insbesondere seine schon seit längerem erkrankte Mutter lies so etwas wie Zufriedenheit erkennen. Obwohl er auch noch nach Jahren das Geschehen in der Welt kaum verstand, alles Fremde für gefährlich hielt und Veränderungen jeglicher Art mittlerweile misstrauisch, wenn nicht gar ablehnend gegenüberstand, hatte er trotz gelegentlicher Demütigungen gelernt, sich in seinem beschränkten Umfeld ohne große Reibungen zu bewegen. Er glaubte nun zu wissen, was ein Schnottenpatt war. Darüber hinaus waren ihm die Grundlagen des Schreibens und Rechnens ebenso vertraut geworden wie die für ihn vorgesehene Rolle seines Lebens. Bei einem Besuch gegen Ende der Schulzeit fragte der ortsansässige Pfarrer ihn etwas inquisitorisch und laut vor der gesamten Klasse: „Johann Anton sag, was ist der Sinn deines Lebens? Dieser hatte darauf kleinlaut gewinselt: „Ich muss immer nur arbeiten. Der Pfarrer hatte zwar etwas Religiöseres erwartete, nahm dieses Bekenntnis aber durchaus positiv auf und segnete die „pädagogische Strecke" wie nach einer erfolgreichen Jagd. So blieb das Ergebnis der schulischen Arbeit im Rahmen der erwünschten Planerfüllung, und auch Johann Anton trat nun voller Erwartungen in das angeblich wirkliche Leben, nicht ohne allerdings am letzten Schultag noch einmal auf jene zurückzublicken, die ihr Werk nun an ihm vollendet hatten und zumeist auf recht kurzen Beinen standen. Besonders stach ihm noch einmal eine ältere männliche Figur ins Auge, die ihn oft mit Heldengeschichten aus den angeblich aufgezwungenen Kriegen verblüfft hatte, nicht ohne stets darauf hinzuweisen, dass man ihm selber aber aufgrund körperlicher Unzulänglichkeiten leider nicht die Möglichkeit geboten habe, zum heldenhaften Krieger zu werden. Johann Anton vermutete wegen dessen zu kurzer Beine.

    Leider verschlimmerte sich zu dieser Zeit die Krankheit seiner Mutter so sehr, dass nicht nur Johann Anton in tiefe Sorge geriet, sondern auch die wenigen verbliebenen Verwandten. Diese vor allen Dingen deshalb, weil sie befürchteten, mit ihm einen weiteren, nicht unbedingt willkommenen Esser aufnehmen zu müssen. Daher rückten sie nun an den Wochenenden an, um sich ein Bild vom Leiden der Mutter und natürlich auch von einem eventuell zukünftigen Mitbewohner machen zu können. Eigenartigerweise trafen die Besucher dabei immer zur Zeit des Abendbrotes ein, sodass der nun halbwüchsige Johann Anton zunehmend den Eindruck gewann, die Verwandtschaft nutze ihre Besuche, um sich auf ihre Kosten durchzufuttern. Obwohl die Mutter, so gut sie noch konnte, alles auf den Tisch bringen wollte, was die schmale Speisekammer hergab, ließ ihr Sohn schon bald Butter und Wurst verschwinden, wenn er der Besucher auch nur von weitem ansichtig wurde.

    Bei einem der Besuche entschieden dann die Mutter und die Verwandten über das weitere Schicksal von Johann Anton, ohne ihn daran in irgendeiner Weise zu beteiligen. Schlimmer, man schickte ihn fort, um für einen sehr fülligen Onkel im Dorf eine dicke und leider sehr teure Zigarre zu beschaffen. So bekam er zunächst von der zu dieser Zeit abgehaltenen Zukunftsfindung keine Kenntnis. Diese bekam er erst einige Tage später, als am Nachmittag ein etwas älterer Mann auftauchte, um ihn und seinige wenigen Habseligkeiten mitzunehmen. Wie seine Mutter und dieser Mann Johann Anton ohne lange Umschweife mitteilten, werde er nun in dessen Lehre eintreten, um einen ehrbaren Beruf zu ergreifen. Johann Anton aber hatte nicht das Gefühl, dass er etwas ergriff, sondern dass er ohne sein Zutun und ohne eine Möglichkeit des Widerspruchs ergriffen wurde. So verschlug es ihm zunächst die Sprache, als sein künftiger Meister und Lehrherr namens Hermann Dreckmann ihm eine rosige Zukunft in seinem Hause eröffnete, in dem Johann Anton von nun an auch leben sollte, jedoch nicht ohne darauf hinzuweisen, dass er von nun an dessen Weisungen in jeder Hinsicht zu befolgen habe. Johann Anton schien diese Zukunft daher weniger rosig, obgleich Hermann Dreckmann, eine etwas hochgeschossene Erscheinung, zunächst zwar hart, aber auch ehrlich wirkte. So war der Abschied vom vertrauten Zuhause und von der Mutter zwar sehr schmerzlich, weckte aber auch die Neugier auf die ersten Schritte ins wahre Leben. So ging Johann Anton zwar mit Tränen in den Augen, aber ohne sich auf eine Kindheit umzusehen, die oftmals auch nicht paradiesisch gewesen war und trotzdem sein weiteres Leben bestimmte. Er hatte schon vieles gelernt, als seine Lehre begann. Nun würde er vieles dazulernen, ganz im Sinne seiner Mutter, die ihm beim Abschied mit durch Tränen erstickter Stimme noch zuraunte: „Lern was Johann und komm zurück als Ehrenmann!" Er versprach es. So bei seiner Ehre gepackt, beabsichtigte Johann Anton von nun an aufrichtig, diesem Wunsch seiner Mutter zu folgen, denn es sollten die letzten Worte sein, die sie liebend und mahnend an ihren Sohn gerichtet hatte.

    >

    Johann Anton betrat nun eine neue Welt. Im Hause seines Lehrherrn, der von nun an kräftig seine Verwandlung in ein ihm wohlgefälliges Wesen vorantrieb, traf er auf dessen Gemahlin mit dem für ihn vornehm klingenden Namen Henriette, von ihrem Ehemann kurz Henni gerufen, sowie auf die sechzehnjährige Tochter der beiden namens Hermine, wohl nach dem Vater benannt. Beide waren offenbar aufgrund mehr als ausreichender Ernährung etwas aus den Fugen geraten und erstere bewegte sich daher auch mehr oder minder gemessen auf ihren eher kürzeren Extremitäten. Ihre Begeisterung hielt sich angesichts ihres neuen Mitbewohners in engen Grenzen. Henni entfuhr bei der recht kühlen Begrüßung: „Also das ist Johann – schmächtig!" Im Vergleich zu ihr und Hermine war das zutreffend beschrieben. Hermine würdigte ihn nur eines einzigen, abschätzigen Blickes, drehte sich dann wortlos um und verschwand.

    Hermann Dreckmann versuchte die etwas seltsame Situation mit einigen beruhigenden Bemerkungen im Sinne von „wir werden uns schon an ihn gewöhnen und „er wird mir eine große Hilfe sein zu entspannen. Damit waren aber eigentlich auch schon alle wesentlichen Dinge gesagt, und allen Betroffenen die Bedingungen der nun folgenden, für immerhin drei Jahre geplanten Beziehungen erklärt.

    Rein materiell ging es Johann Anton zunächst deutlich besser als zuhause. Er bekam ein eigenes Zimmer mit einem weichen Bett, einem eigenen Schrank und sogar einen kleinen Schreibtisch zugewiesen, was ihn in einer Art Besitzergreifung dazu bewog, auf das darauf liegende Papier sofort seinen Namen zu schreiben. Auch was die Beköstigung anging schienen sich die anfänglichen Beobachtungen an den Frauen des Hauses als zutreffend zu erweisen. Es gab reichlich bemessene, bürgerliche Hausmannskost mit bisher unbekanntem Fleischanteil und eine gehaltvolle Suppe, deren Fettaugen nicht nur nach innen schauten. Als Johann Anton erstmals mit der Familie des Lehrherrn zu Tische saß, überkam ihn daher ein Staunen angesichts der Fülle essbarer Möglichkeiten, so dass er sich nur mit Mühe satt sehen oder gar satt essen konnte. Wohl im Verdacht, diese Tafel könne vielleicht eine einmalige Gelegenheit der Genüsse bleiben, stopfte sich Johann Anton gierig die Backen voll, um danach in heftigen Schluckauf zu verfallen, welches Hermine lauthals mit dem Grunzen eines Mastschweines verglich. Die strafenden Blicke ihrer Eltern galten darauf allerdings nicht Hermine, sondern dem neuen Lehrling, der am Ende nun auch von all den Köstlichkeiten probiert hatte, die eigentlich nur das Erscheinungsbild der Tafel vervollständigen sollten. Dieser Zusammenhang wurde Johann Anton allerdings erst einige Tage später klar, als sich die Qualität, Abwechslung und Menge der vorgelegten Speisen für ihn deutliche verringerten.

    In seinem Zimmererhandwerk stand Hermann Dreckmann als Meister nicht nur seinen Mann, sondern als ordentlicher, solider und redlicher Geschäftspartner auch in gutem Ruf. Seine in Teilen geradezu vorbildliche Lebensführung, die sichtbar aus Fleiß und Sparsamkeit zu bestehen schien, hatte ihm den Respekt und die Anerkennung seiner Zunftgenossen, Kunden und nicht zuletzt seiner Glaubensbrüder eingetragen. Letztere waren ihm als Mitglieder seiner Kirchengemeinde besonders wichtig, denn ihr fühlte er sich wie ein Ast dem Baum zugehörig, um das Werk des Schöpfers auf Erden zu dessen Ehre zu vollenden. Dabei war er fest davon überzeugt, dass ihn sein Dienst als pflichtbewusster Posten in dieser Welt auch für eine spätere, jenseitige Verwendung prädestinieren würde. Es verunsicherte ihn nur gelegentlich etwas, dass der Herr über alle Dinge ihn auf Erden bisher noch nicht mit einem irdischen Zeichen seiner Gnade im Sinne größeren wirtschaftlichen Erfolgs bedacht hatte, wie das bei einigen anderen Gemeindegliedern offensichtlich schon geschehen war. Trotz dieses noch nicht restlos geklärten Status seines Erwähltseins ging er seinem Berufe und seinen Geschäften fromm und unermüdlich in der Hoffnung nach, dieser erkennbare Beweis würde sich bei ihm durch immerwährend fehlerfreie Leistungen in absehbarer Zeit auch noch einstellen.

    Derart aufgestellt ließ er diesen Anspruch seiner Familie, seinen Gesellen und natürlich auch seinem Lehrjungen, wie er Johann Anton immer nannte, in Form strenger Vorgaben und Kontrollen angedeihen, die bei den Betroffenen nicht immer Lebenslust und Arbeitsfreude hervorriefen. Da Johann Anton bisher allerdings außerhalb der Lebensnotwendigkeit wenig Sinn aus Arbeit erfahren hatte, ward ihm nun durch seinen Meister etwas eröffnet, das ihn, wenn auch schwer erschaffen, stolz auf die Form und das Ergebnis seiner Arbeit werden ließ. Trotz erheblicher Mühen für seinen jungen Körper und Geist sog er wissbegierig alle Kenntnisse, Fertigkeiten, Geheimnisse und Gebräuche seines Gewerks auf, um sich zu dem ehrbaren Handwerker zu entwickeln, von dem seine Mutter bei ihrem Abschied als eine Art Auftrag gesprochen hatte.

    Auch für Johann Anton waren Lehrjahre keine Herrenjahre, sondern Gehorsam, Pflichterfüllung, Hinnahme des Nichtänderbaren und demütiges Ertragen einer rauen Arbeitswirklichkeit, von der er schon bald erfuhr, dass in ihr jener Schweiß des Angesichts entstand, in dem er sein Brot essen musste. Manchmal, nicht selten, war es ein hartes Brot. Doch je tiefer er in die Welt der Sparren, Fetten und Gauben eindrang, desto mehr schien er sich auch an die nicht so angenehmen Begleiterscheinungen seiner Arbeit zu gewöhnen. Er begann sie sogar bald für so wesentlich zu halten, dass er sie in den wenigen Gesprächen mit Gleichaltrigen nicht ohne einen gewissen Stolz zu preisen begann. So wurde er eins mit seinem Tun, welches der Meister ihm mit dem Glanz des Glaubens überhöhte, denn nicht zuletzt war auch der Weltenretter gar selbst als Zimmermann tätig gewesen. So wandte sich Johann Anton unter dem Einfluss von Hermann

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