Kreativ sein als Naturfotograf*in: Kreativität entfalten und den eigenen Stil entwickeln
Von Bart Siebelink
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Über dieses E-Book
- Lotet den kreativen Prozess in der Naturfotografie aus
- Führt den Leser zum eigenen Bildstil und zu individuelleren Fotos
- Vermittelt Schlüsselerkenntnisse zur Ideenfindung, Bildgestaltung und Bildreflexion
Kennen Sie das nagende Gefühl, dass Sie mehr aus Ihrer Fotografie herausholen und Ihre Fotos spannender, persönlicher oder magischer sein könnten? Dann ist dieses Buch bei Ihnen in guten Händen.
Wenn Sie entschlossen sind, Ihre eigene Kreativität als Naturfotograf*in weiterzuentwickeln und Ihren eigenen Stil zu finden, führt Ihr Weg nicht über spektakuläre Landschaften, exotische Spezies oder eine bessere Ausrüstung. Wer seinen Bildern mehr Tiefe verleihen und ausdrucksstärker fotografieren möchte, muss die oft mühevolle Reise nach innen antreten. Dieses Buch soll als Routenplaner für Ihren kreativen Prozess dienen. Es gibt Ihnen keine Techniken, Rezepte oder Standardmethoden an die Hand, sondern vermittelt vielmehr die wesentlichen Erkenntnisse, die Ihnen verhelfen, mit der Fotografie spielerischer und individueller umzugehen. Dazu gehören praktische Kenntnisse zur Entwicklung einer eigenen Bildsprache, zur Ideenfindung, Bildgestaltung und Reflexionsfähigkeit.
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Buchvorschau
Kreativ sein als Naturfotograf*in - Bart Siebelink
BEZUGSRAHMEN
Was ist das richtige Mindset?
Dieses Buch enthält keine Techniken, Rezepte oder Standardmethoden. Sie würden den Prozess nur vorhersehbar machen. Kreativität ist jedoch Einstellungssache. Dahinter verbergen sich bestimmte Schlüsselerkenntnisse, die Ihnen helfen, mit der Fotografie lockerer und eigenwilliger umzugehen. Das ist das Thema in diesem Einleitungskapitel.
Kennen Sie diese alte japanische Erzählung? Der Kaiser beauftragt einen Künstler, einen Hahn für ihn zu zeichnen. Der Künstler geht zurück in sein Atelier und lässt wochenlang nichts mehr von sich hören. Der Kaiser schickt einige Diener zu ihm. Als auch diese unverrichteter Dinge zurückkehren, beschließt er letztendlich nach einem Jahr, selbst hinzugehen. Er tritt ein und fragt in einem herrischen Ton: »Wo bleibt mein Hahn?« Der Künstler bückt sich, rollt ein großes Blatt Papier auf, taucht seinen Pinsel in die Tinte, und ratzfatz entsteht der schönste Hahn, den der Kaiser je gesehen hat. Der Kaiser ist hingerissen. Doch dann wird er wütend und fragt: »Warum ging das nicht schon früher?« Daraufhin bedeutet ihm der Künstler, weiter ins Haus zu gehen. Dort zeigt er dem Kaiser ein großes Atelier voller Skizzen von Hähnen. »All diese musste ich erst machen, damit ich den einen Hahn für den Kaiser zeichnen konnte.« Der Kaiser versteht – er ist ein weiser Mann.
Abläufe sind wichtiger als Ergebnisse: Spitzenfotos sind Beifang
»Übung macht den Meister«, lautet ein altes Sprichwort. Dies gilt nicht nur für künstlerisches Können wie das Zeichnen eines Hahns. Das gilt für alle Aktivitäten, die letztendlich zu außergewöhnlichen Ergebnissen führen.
Zurück zum japanischen Künstler: Alle früheren Skizzen, die er anfertigte, wurden von einem bestimmten Ablauf beherrscht. Sollten Sie glauben, dass dieser Ablauf nur darin besteht, immer wieder korrekte Linien flüssig zu Papier zu bringen, starren Sie blind auf die Ausführung und übersehen mindestens drei Viertel des kreativen Prozesses.
Der Künstler beginnt schon viel früher damit, Hähne zu beobachten. An vielen Morgen ist er dabei, wenn sie krähen, sich stolz strecken und bei jedem »Kikeriki« kleine Atemwolken ausstoßen. Er folgt den Kurven und dem Glanz jeder Schwanzfeder. Er vergleicht die Unterschiede ihrer markanten Kämme. Ihm fällt auf, wie die roten Hautlappen nach jeder heftigen Kopfbewegung noch nachvibrieren. Es entgeht ihm nicht, dass sich auf halber Höhe der Läufe elegante, nach hinten gebogene Sporen befinden.
Er spürt fast die Behutsamkeit, mit der ein Hahn bei jedem Schritt seine Zehenspitzen zuerst auf den Boden setzt. Während des Zuschauens wirft der Künstler kontinuierlich Kohleskizzen aufs Papier. Manchmal strichelt er grob, manchmal nimmt er sich die Zeit, Details auszuarbeiten. Er zeichnet zehn Hahnenköpfe mit verschiedenen Kammformen.
Fünf verschiedene Schwanzpartien und viele Posen. Während er skizziert und beobachtet, trifft er intuitiv Entscheidungen. Er bemerkt, dass keine zwei Hähne den gleichen Kamm haben. Welche Kammform spricht ihn am meisten an und warum? Zu Anfang dachte er, dass er den traditionellen roten Stehkamm mit seinen gleichmäßig verteilten aufrechten Spitzen bevorzugen würde. Doch allmählich findet er es viel faszinierender, wenn er ein unvorhersehbares Element im Kamm entdeckt. Der vordere Teil darf schlapp über den Schnabel fallen, entscheidet er. Das strahlt seine Ranghöhe aus.
Nach und nach entwickelt er Vorlieben für die Farben der Federn, die Haltung der Läufe, die Länge der Schwanzfedern, den Gesichtsausdruck des Hahns. Er meint, er dürfe ihn ein bisschen übertreiben. Schließlich hat der Künstler seinen Auftraggeber nicht vergessen: den mächtigen Kaiser. Ihm ist bewusst, dass von ihm ein Hahn erwartet wird, mit dem sich der Herrscher identifizieren kann.
Der Künstler hat sich selbst bereits ein Bild von den persönlichen Eigenschaften des Kaisers gemacht, die er durch die Zeichnung vom Hahn zum Ausdruck bringen will. Natürlich sollte es zumindest ein stolzer, imposanter Hahn sein, aber keine vorhersehbare Karikatur.
Glücklicherweise war der Künstler beim ersten, kurzen Kontakt mit dem Kaiser so klug gewesen, sehr genau hinzuschauen. Er bemerkte, dass der Kaiser zuerst zwar einen strengen und distanzierten Eindruck machte, gleichzeitig aber ein milder, gewinnender Ausdruck in seinem Blick lag. Also beschloss der Künstler, dass sein Hahn zugänglich und weise wirken sollte.
Deshalb beobachtete und zeichnete er auch stolze Soldaten und besuchte Dorfälteste, vor deren Weisheit man Hochachtung hatte. Er wollte einfach das Äußere der Eigenschaften erfassen, die ihn so faszinierten. Wie er diese Eigenschaften auf seinen Hahn projizieren würde, wusste er zu jenem Zeitpunkt noch nicht. Aber er wusste, dass alles gut werden würde.
Nicht einen Moment lang dachte der Künstler: Jetzt stecke ich gerade in einem Prozess. Er folgte intuitiv seinem Gefühl und tat, was er für richtig hielt. Wenn wir die Geschichte jedoch noch einmal auf einer abstrakteren Ebene analysieren, gibt es eindeutig einen Ablauf mit unterschiedlichen Elementen.
Zunächst einmal gibt es eine Orientierungsphase mit einem Forschungsschwerpunkt, wobei man sich nicht um das Endergebnis sorgt. Parallel dazu läuft die Phase der Ideenentwicklung, in der eine Idee vom Endergebnis Gestalt annimmt. Schließlich gibt es ein permanent präsentes Gestaltungselement, bei dem die Aktivitäten auf die Ausführung, Gestaltung und Verfeinerung des Endergebnisses ausgerichtet sind.
In all diesen Phasen findet eine Dokumentation in Form von vielen Skizzen und Zeichnungen statt. Da sich der Künstler (zusätzlich zu seinem bereits vorhandenen Talent und Erfahrungsschatz) so intensiv damit beschäftigte, erreichte er ein solch hohes Kompetenzniveau, dass er den Hahn im entscheidenden Moment perfekt zeichnen konnte.
Damit sind wir beim Kerngedanken dieses Buchs angelangt: Es gibt so etwas wie einen kreativen Prozess. Und gerade die nüchterne Erkenntnis dieser Tatsache wird einen gewaltigen Unterschied machen, weil sie Ihnen erlaubt, alles, was Sie als Fotograf tun, in einen größeren Kontext einzuordnen. Das hilft Ihnen, Ihre kreative Entwicklung in den Griff zu bekommen.
Obwohl der kreative Prozess grundsätzlich für alle künstlerischen Disziplinen gilt, schreibe ich ihn in erster Linie für die schnell steigende Zahl von (Natur-)Fotografen, die nach mehr Tiefe suchen und ihren eigenen Stil entwickeln wollen. Warum gerade für Naturfotografen? Erstens, weil ich selbst die Natur fotografiere. Und zweitens, weil die Naturfotografie eine Kategorie für sich ist, weit entfernt von anderen visuellen Disziplinen. Denn die Naturfotografie ist nicht in einer visuellen Tradition verwurzelt wie beispielsweise die Malerei.