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Insolvenz der Moderne: Warum wir neue Wohlstandsmodelle brauchen - Band 1
Insolvenz der Moderne: Warum wir neue Wohlstandsmodelle brauchen - Band 1
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eBook485 Seiten6 Stunden

Insolvenz der Moderne: Warum wir neue Wohlstandsmodelle brauchen - Band 1

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Über dieses E-Book

Riesen sterben langsam und qualvoll. Mehr als zweihundert Jahre lang haben wir im Westen unseren materiellen Wohlstand auf Kosten der Natur und künftiger Generationen gemehrt. Wir spüren, dass es damit bald vorbei sein wird.
Wie aber soll ein zukunftsfähiges Wohlstandsmodell aussehen, das allen, und nicht nur wenigen, die Chance auf ein glückliches Leben ermöglicht? Der Autor analysiert die Krise der Moderne als umfassende Kulturkrise unseres Lebensstils und entwickelt Wege in eine nachhaltige Zukunft.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Mai 2015
ISBN9783732337668
Insolvenz der Moderne: Warum wir neue Wohlstandsmodelle brauchen - Band 1

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    Buchvorschau

    Insolvenz der Moderne - Werner Kindsmüller

    Vorwort

    Warum schreibt jemand zehn Jahre lang, neben seiner beruflichen Tätigkeit an einem Buch wie dem vorliegenden? Oftmals bin ich das gefragt worden. Die Antwort war immer die gleiche: Ich wollte verstehen, in welcher Welt wir leben. Ich wollte schreibend darüber nachdenken, was wir tun müssten, damit diese Welt eine lebenswerte bleibt.

    Während meines Studiums in den 70er Jahren und seitdem in meiner Freizeit habe ich viele Bücher über politische, ökonomische, historische und philosophische Fragen gelesen. Ich habe darin nach Antworten auf die Frage gesucht, in welche Richtung sich unsere Welt bewegt, wie die Krisenentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte zusammenhängen und welche Lösungen unsere moderne Zivilisation für die Menschheitskrisen, denen wir uns gegenüber sehen, bereit hält. Ich habe viele äußerst kluge und anregende Texte gelesen. Und dennoch habe ich ein Buch vermisst, in dem der Autor den Versuch unternimmt, den Zusammenhang zwischen den verschiedenen gegenwärtigen Entwicklungen herzustellen und sie historisch einzuordnen. Also habe ich mich daran gemacht, das Buch zu schreiben, das ich gerne lesen wollte.

    Am Beginn der Arbeit an diesem Buch stand die Frage, wie „das" alles zusammenhängt, was wir als Phänomene der Veränderungen in unserer Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts wahrnehmen. Ich wollte dem Verdacht nachgehen, dass unterhalb der sichtbaren Veränderungen unserer modernen Gesellschaften größere und längerfristig wirksame tektonische Verschiebungen im Gange sind. Ich bin überzeugt, dass wir unsere Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts nur verstehen können, wenn wir sie in einen größeren historischen Kontext stellen. Wenn wir etwas Abstand vom Tagesgeschehen nehmen, lässt sich ein gemeinsames Bewegungsmuster zwischen den krisenhaften ökonomischen Entwicklungen, den gestressten Naturverhältnissen, dem wachsenden Legitimationsdruck auf die Demokratie und unserem kulturellen Selbstverständnis als Mensch beobachten.

    Die thematischen Analysen zu diesen zentralen Komplexen führten mich zu der Hauptthese des Buches, dass wir Zeitzeugen des Endes einer historischen Epoche sind, die wir als Moderne bezeichnen. Bei nüchterner Betrachtung der großen Entwicklungsströme unserer Zeit wird klar, warum unsere Wirtschaftsund Lebensweise nicht zukunftsfähig ist.

    Das Buch wendet sich an all jene Menschen, die für die Entwicklungen in unserer Welt sensibel geblieben sind und sich Sorgen um die Zukunft unserer Gesellschaft, der Demokratie und der Erde machen. Ich will mit diesem Buch einen kleinen Beitrag zum Verstehen unserer verstörenden Gegenwart leisten, indem ich eine Interpretation anbiete, die sich in der Tradition linker Gesellschaftskritik sieht, ohne jedoch einer Schule verpflichtet zu sein.

    Zugleich möchte ich den Möglichkeitsraum ausloten, der uns für humane Alternativen zum selbstzerstörerischen System des grenzenlosen Kapitalismus und einer infantilen Konsumgesellschaft zur Verfügung steht. Wer in diesem Buch allerdings Patentrezepte sucht, wird enttäuscht werden. Vielmehr soll, insbesondere mit dem Schlusskapitel, ein Suchprozess begleitet werden, auf dem wir uns gemeinsam begeben müssen, wenn wir auf diesem Planeten ein humanes Überleben sichern wollen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Rekonstruktion des Begriffs vom „Guten Leben" als einem Leitbegriff für ein neues, zukunftsfähiges Wohlstandsmodell.

    Der Autor ist kein Wissenschaftler sondern ein informierter Laie, der versucht die Welt zu verstehen. Dieses Buch ist deshalb auch kein wissenschaftliches Buch. Kritiker werden wahrscheinlich viele Formulierungen finden, die einer strengen wissenschaftlichen Prüfung nicht standhalten. Der vorliegende Text versteht sich als ein politischer Text, der auf wissenschaftliche Befunde zurückgreift. Dazu war es notwendig viele Themen zu sichten, ohne sie in der Tiefe beleuchten zu können, wie dies bei Monographien möglich gewesen wäre. Ich bin mir dieser Schwäche bewusst und muss sie in Kauf nehmen. Nur auf diese Weise war es mir möglich, eine Gesamtschau der Probleme der Moderne und ihrer historisch- politischen Zusammenhänge vorzunehmen.

    ***

    Während der Arbeit an diesem Buch sind mir immer wieder Zweifel gekommen, ob der Versuch zu verstehen, „was die Welt im Innersten zusammenhält, eben nicht doch eine moderne Anmaßung ist, an der bereits Goethes Faust zugrunde gegangen ist. Vielleicht ist es ja so, wie Günter Anders es ausgedrückt hat, dass zwischen uns und der Welt ein „prometheisches Gefälle besteht, das verhindert zu verstehen, was mit uns geschieht. Dann wäre das höchste, was wir erreichen können, dass unsere Versuche scheitern. Aber „richtig" Scheitern kann sehr lehrreich sein. Und ohnehin sind die richtigen Fragen oftmals wichtiger als die Antworten.

    Irgendwann während der Arbeit an dem vorliegenden Buch ist wir eine Rede des früheren tschechischen Präsident Vaclav Havel in die Hände gelangt, die er am 4. Juli 1994 aus Anlass der Verleihung der Freiheitsmedaille zum Unabhängigkeitstag der Vereinigten Staaten, an historischer Stätte in Philadelphia gehalten hat. Diese Rede hat mir Mut gemacht, die Arbeit an dem Buch fortzusetzen. Vaclav Havel, den ich als Dramatiker wie als mutigen Politiker sehr schätze, hat mit dem Abstand des ehemaligen Präsidenten vom Tagesgeschehen, längst vor mir die These vertreten, dass wir uns in einer schmerzhaften historischen Übergangsperiode befinden, Ausgang offen.

    Vor einem erlesenen und wohl irritiertem Auditorium in der Independence Hall in Philadelphia hat Vaclav Havel folgende Worte gesprochen:

    „I think there are good reasons for suggesting that the modern age has ended. Today, many things indicate that we are going through a transitional period, when it seems that something is on the way out and something else is painfully beeing born. It is as if something were crumbling, decaying, and exhausting itself, while something else, still indistinct, were arising from the rubble."¹

    Havel hat die Situation der Welt Ende des 20. Jahrhunderts mit dem Ende der hellenistischen Periode und dem Übergang von der mittelalterlichen Welt durch die Renaissance in unsere heutige Ära der Moderne auf eine Stufe gesetzt. Meine Studien haben mich davon überzeugt, dass es genau so ist, wie es Vaclav Havel an diesem Tag, den die prägende Macht der Moderne zur Erinnerung an ihre Einzigartigkeit zelebriert, beschrieben hat: Die Moderne hat ihre Energien verbraucht und wir erleben, wie etwas Großes allmählich zugrunde geht, während noch nicht klar ist, was danach kommen wird.

    Ich versuche mit diesem Buch etwas besser zu verstehen, was untergeht und welche Welt wir verlassen müssen, wenn nicht auch wir als Menschheit untergehen wollen. Genauso wichtig ist mir aber auszuloten, welche begründeten Hoffnungen wir uns trotz aller Sorgen über die Zukunft machen dürfen und wo wir ansetzen können, um eine humane Zukunft zu gestalten.

    Dieses Buch ist in selbstaufklärerischer Absicht entstanden, aber immer mit dem klaren Ziel, Erkenntnisse für die politische Praxis und das Handeln der Menschen im Kampf für eine bessere Welt zu gewinnen. Nichts liegt mir im Übrigen ferner, als Kulturpessimismus zu verbreiten, aber für naiven Fortschrittsoptimismus ist noch weniger Anlass. Wichtig ist der analytische, von ideologischen Erklärungsmustern unverstellte Blick auf unsere heutige Lage.

    Wenn ich auf die vergangenen zehn Jahre, die ich an diesem Buch gearbeitet habe zurückblicke, dann fällt vor allem auf, dass immer neue Krisen dazugekommen sind und bereits bestehende überlagert haben. 2004, als ich anfing die ersten Seiten dieses Buches zu schreiben, drehte sich, zumindest in Deutschland die politische Diskussion vor allem um die Krisenhaftigkeit des Sozialstaats, auf die der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder mit einer steuerlichen Entlastung des Kapitals und einer Ökonomisierung des Sozialstaats antwortete. In den Jahren seit der UN-Klimakonferenz in Montreal (2005) rückten die Krise des Weltklimas und unser Umgang mit begrenzten Ressourcen in den Vordergrund der politischen Aufmerksamkeit. Ab 2007 löste die durch die Liberalisierung der Finanzmärkte ausgelöste Bankenkrise eine weltweite Wirtschaftskrise aus, der eine anhaltende Staatsschuldenkrise in vielen Ländern folgte. In den vergangenen Jahren mehrten sich schließlich die Zeichen, dass die demokratischen Systeme unter erheblichen Legitimationsdruck geraten sind und zudem die digitale Ökonomie privaten und staatlichen Überwachungssystemen die Möglichkeit bietet, die Demokratie und unsere Freiheit zu zerstören.

    In den vergangenen zehn Jahren gerieten alle wesentlichen Grundlagen der westlichen Moderne in eine tiefe Krise, die sich mittlerweile zu einer umfassenden Systemkrise summieren. Vaclav Havel sprach in seiner Rede 1994 von der paradoxen Situation, dass wir technisch auf dem höchsten Niveau stehen, das menschliche Zivilisationen je erreicht haben und wir zugleich aber unsere Welt nicht mehr verstehen. Sie erscheint uns als chaotisch, unverbunden und verwirrend.

    Die Welt Mitte des 21. Jahrhunderts wird nur noch wenig mit der Welt meines Geburtsjahres 1954 zu tun haben. Leider deutet alles darauf hin, dass die Bedingungen für humanes Leben auf der Erde in den nächsten Jahrzehnten schlechter und nicht besser werden. Es hat den Anschein, als würden wir angesichts der ratlos machenden Erfahrungen darauf bedacht sein, dass alles so bleibt, wie es ist, ohne uns einzugestehen, dass dies auf gar keinen Fall möglich sein wird. Es ist die Angst vor dem Absturz, die die modernen Gesellschaften heute beherrscht. Es scheint so, als würden die Menschen in den westlichen Gesellschaften in einer Schockstarre verharren und sich durch Konsum betäuben. Wir klammern uns an die Errungenschaften der Wohlstands- und Wachstumsgesellschaft, obwohl wir spüren, dass es „so" nicht weitergehen kann. Grundlegende Lösungen aus dem System heraus, sind jedoch auch nicht erkennbar und selten so wenig gesucht worden. Dies gilt sowohl für Antworten auf die Krise des Kapitalismus, wie auch für den Umgang mit der Endlichkeit der Naturressourcen und der Sicherung der Demokratie. Politik hat das Feld der grundlegenden Fragen der Zukunft längst geräumt und erschöpft sich in geschäftiger Regierungstechnik.

    Bei der Arbeit an diesen Themen ist mir klar geworden, dass keines dieser Probleme ohne tiefgreifende politische Veränderungen lösbar sein wird. Zugleich aber gilt auch, dass wir unsere Lebensweise fundamental ändern müssen. Die Überwindung des Kapitalismus, der Aufbau einer nachhaltigen und gerechten solaren Weltwirtschaft und der Ausbau der Demokratie müssen begleitet werden durch einen grundlegenden Wandel unserer Lebens- und Konsummuster. Es sind also nicht die „Anderen", die Politiker, die Wirtschaft – oder wer auch immer-, die sich ändern müssen, sondern jeder von uns muss sein Leben ändern.

    Riesen sterben langsam und qualvoll. Und während sie sterben wachsen in ihrem Schatten bereits die neuen heran. Aber das Verpuppungsstadium ist noch nicht überwunden. Wir befinden uns global in einer historischen Übergangsphase, in der die Elemente des Alten immer weniger Kraft besitzen und die Kräfte des Neuen noch unbeholfen agieren. Die Moderne treibt ohne Kompass in eine unbestimmte Zukunft. Die Fortschrittsverheißungen haben sich indes als Alptraum erwiesen.

    Im Zentrum dieses Buches stehen die großen Veränderungen von Ökonomie, Gesellschaft, Politik und individueller Lebenswelt, die sich heute vor unseren Augen abspielen. Statt aus dem Blickwinkel der vordergründigen Ereigniswelt der Tagespolitik, werde ich versuchen die tektonischen Verschiebungen in den Tiefenstrukturen aufzuzeigen, deren Zeuge wir sein können, wenn wir nur genau genug hinschauen wollen.

    Die Analyse des Zustands der Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist in gewisser Weise nur die Grundlage für die abschließenden Überlegungen. Es geht mir in diesem Buch in erster Linie darum, einen Suchprozess mitzugestalten, wie wir als Menschheit unter humanen Bedingungen überleben und nach Möglichkeit gut leben können. Die mit dem Schlusskapitel vorgelegten Gedanken sind zwangsläufig unfertig und thesenartig. Sie sind mir gleichwohl wichtig, da es nicht um fertige Konzepte sondern um das Suchen gehen kann. Dazu sollen die Gedanken zu einem neuen Wohlstandsmodell anregen.

    ***

    Dieses Buch verdankt seine Erkenntnisse vielen Menschen, die längst vor dem Autor über die Fragen nachgedacht haben, die hier abgehandelt werden. Ohne den intellektuellen Austausch mit lebenden und längst gestorbenen Denkern aus ganz unterschiedlichen Fachrichtungen, wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Ich habe ihre Beiträge zu meinen Gedanken, wo immer mir ein Rückschluss auf sie möglich war, durch Zitate oder Literaturhinweise kenntlich gemacht.

    ***

    Ein besonderer Dank gilt meiner Familie, meiner Frau Ulrike Bruckner-Kindsmüller, die mich auch bei den Korrekturarbeiten unterstützt hat und meinem Sohn Jakob für viele Wochenende und Urlaubstage, die ich mich an meinen Schreibtisch zurückgezogen habe.

    Werner Kindsmüller

    Kaarst, Mai 2015

    ¹ http://www.worldtrans.org/whole/havelspeech.xhtml

    Einleitung

    „Ich versteh‘ die Welt nicht mehr!", ruft der Schuster Anton am Ende von Friedrich Hebbels bürgerlichem Trauerspiel Maria Magdalena aus.² Es ist wohl auch unmöglich unsere Welt hinreichend zu verstehen, solange wir nicht über den zeitlichen Abstand zu den Ereignissen verfügen. Erst mit der Distanz des Historikers klären sich die Tatsachen. Es wird sichtbar, welche Ereignisse für den Entwicklungsgang der Geschichte relevant waren und welche nicht. Dennoch können wir nicht leben, ohne uns einen Begriff von dem zu machen, was in unserer Welt geschieht und uns berührt.

    Wenn wir heute versuchen zu begreifen, welche Veränderungen unmerklich und doch wirksam vor sich gehen, dann stoßen wir als erstes auf den epidemisch verwendeten Begriff der Krise. Sie ist allgegenwärtig, wahlweise als Finanz-, Staaten-, Wirtschafts-, Kultur- oder ökologische Krise. Obwohl wir spüren, dass tiefgreifende Veränderungen im Gang sind, fällt es uns schwer, diese Krisen tiefer zu begreifen. Ein Grund dafür liegt darin, dass für die meisten Menschen Krisen sinnlich nicht erfahrbar sind. Unser Vorstellungsvermögen reicht kaum aus, grausige Unfälle, terroristische Anschläge wie die am 11. September 2001 in New York, Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Technikkatastrophen wie in Fukushima zu erfassen. Konfrontiert uns das Fernsehen mit Bildern von Unfällen und Katastrophen erfasst uns kurzzeitig zwar ein Entsetzen, womöglich angesichts dessen, was „der Mensch" anrichten kann, sogar eine „prometheische Scham" (Günther Anders) – aber dann wenden wir uns wieder den alltäglichen Zerstreuungen und Verpflichtungen zu. Dieses Verhalten ist weiter nicht zu beanstanden, fehlt uns doch ein Sensorium, das zu betrauern, was wir aufgrund seiner Größe nicht begreifen können.

    Bieten uns bei den „normalen Katastrophen" (Charles Perrow) die Medien noch Bilder gegen unsere Vorstellungsarmut, so fehlt uns bei abstrakten Krisen, wie der Finanz- und Schuldenkrise jegliches Vorstellungsvermögen. Was es bedeutet, dass Staaten in Europa bei den Banken mit 120% ihres jährlichen Sozialprodukts verschuldet sind oder dass Staaten Banken mit Milliardenhilfen retten, kann man sich nicht mehr wirklich vorstellen. Die Prognosen von Klimaforschern, dass der Anstieg des CO2 – Anteils in der Atmosphäre dazu führen wird, dass die Temperaturen um 2 Grad steigen werden, erscheinen vielen Menschen wie Berichte aus einer noch fernen Zukunft. Die Krisen des 21. Jahrhunderts sind nicht fassbar. Es fehlt uns auch eine angemessene Sprache, um zum Ausdruck zu bringen, was hinter den Katastrophen steht, die, auch wenn sie sich nicht in Bildern formen, für die Menschen in Gestalt von geringeren Sozialleistungen oder Löhnen, von Arbeitslosigkeit oder fehlenden Berufschancen gleichwohl real werden.

    Ein weiterer Grund für die Diskrepanz zwischen dem, was der Krisenbegriff mitteilen will und unserer Erfahrung besteht darin, dass die heutigen Krisen in der Regel, anders als in kriegerischen Zeiten des 20. Jahrhunderts, nicht abrupt in das Leben der allermeisten Menschen eindringen. Die Krisen des 21. Jahrhunderts kommen auf leisen Sohlen. Sie bieten der Öffentlichkeit nur selten grelle Bilder. Aber sie überziehen unsere Gesellschaften wie ein Ölfilm das Meer.

    Worum es in diesem Buch gehen soll, ist, die Erfahrungswelt der Menschen mit den abstrakt bleibenden ökonomischen, politischen und kulturellen Entwicklungen unserer Zeit zu verbinden. Damit soll ein Versuch unternommen werden, die Strukturen und Prozesse besser zu verstehen, die sich hinter den Begriffen der Krise und den täglichen menschlichen Erfahrungen verbergen.

    Die inflationäre Verwendung des Begriffs der Krise mag bereits ihrerseits auf ein Krisenphänomen hinweisen, das so jedenfalls neu ist. Krisen hat es auch früher gegeben. Allerdings überwog in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts der Fortschrittsoptimismus. Es scheint so, als ob die im Vorfeld der Französischen Revolution formulierte Warnung von Jean-Jacques Rousseau aus dem Jahre 1762 heute an Aktualität gewonnen hat. Rousseau ruft im dritten Buch seines ‚Emile‘ aus:

    „Ihr verlasst euch auf die bestehende Gesellschaftsordnung und bedenkt nicht, dass sie unvermeidlichen Veränderungen unterworfen ist, und dass ihr diejenigen, die eure Kinder erleben werden, weder voraussehen noch verhindern könnt. Der Große wird klein, der Reiche arm, der Monarch Untertan. Sind denn Schicksalsschläge so selten, dass ihr damit rechnen könnt, davon verschont zu bleiben? Wir nähern uns einer Krise und dem Jahrhundert der Revolutionen."³

    Mit der Französischen Revolution setzte ein Zeitalter der Revolutionen ein, in dessen Folge die alten feudalen staatlichen Verhältnisse aufgebrochen wurden. Rousseau wollte dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung nicht folgen und fasste, wie Reinhard Koselleck herausgearbeitet hat,⁴ als erster das Wechselverhältnis von moderner Gesellschaft und Staat unter dem Begriff der Krise. Denn, anders als die im Fortschrittsglauben befangenen Aufklärer, erkannte er, dass mit dem Umsturz der absolutistischen Ordnung eine Phase der Krise beginnen würde, die nicht schlagartig zu einer neuen sozialen und politischen Ordnung und zu paradiesischen Verhältnissen führen werde sondern es zu neuen gesellschaftlichen Unsicherheiten und Ungewissheiten.

    Wahrscheinlich sind wir heute wieder an einem historischen Kipp-Punkt. Die Tatsache, dass es den Regierungen nicht mehr gelingt, das Gespenst der Krisen zu verscheuchen und dass sie trotz ihrer permanenten Gipfeltreffen auch gemeinsam nicht in der Lage sind, die Probleme auch nur annähernd in den Griff zu bekommen, mag als Indiz dafür gelten, dass sich unsere Gesellschaften auf eine Epochenschwelle zubewegen. Zeitenwenden und Epochenschwellen kündigen sich nicht durch abrupte Brüche an sondern sind dem „gletscherartig langsamen Wandel in der Klima- und Agrargeschichte"⁵ vergleichbar, wie der Münchner Historiker Jürgen Osterhammel schreibt. Sie kündigen sich durch „Häufigkeitsverdichtungen von Veränderungen" an. Zugleich scheint sich das Tempo der Ereignisse vor dem Übergang von Systemen zu verlangsamen, um dann Fahrt aufzunehmen. Diese Abfolge lässt sich am Ende der DDR, der Regime in Ägypten, Tunesien und Marokko feststellen. Es liegt zuerst eine bleierne Schwere über der Gesellschaft, bis dann eine Eruption erfolgt, die kurz vorher noch nicht vorstellbar gewesen ist.

    Wir sollten uns, Rousseau eingedenk, vor der Fehleinschätzung von Voltaire hüten, der das Ende der absolutistischen Ordnung, das er nicht mehr erleben sollte, als den Anbruch der „beaux temps" erwartete. Diese Warnung hat ihren Grund nicht nur darin, dass dem allgemeinen Verständnis nach die Menschen mit Krisen eher Ängste vor Auflösung, Anarchie und Chaos verbinden als die Hoffnung auf ein besseres Leben. Krisen haben in der Neuzeit auch selten eine politisch motivierende Wirkung gehabt. Zudem ist fraglich, ob wir die aktuelle Krisensituation richtig verstehen, wenn wir sie aus der historischen Dichotomie zwischen Ordnung und Unordnung zu begreifen versuchen. Vielleicht besteht ja das Wesen der Krise, mit der wir es heute zu tun haben gerade darin, dass die bestehende Ordnung ihrerseits Elemente der Unordnung hervorbringt, die funktionale Bedeutung für die Weiterexistenz eben dieser Ordnung besitzen. So paradox es klingen mag: Die komplexe Herrschaftsordnung der kapitalistischen Welt sichert ihre Existenz dadurch, in dem sie Elemente der Anarchie, des Chaos und der Regellosigkeit, die sie selbst mit Regelmäßigkeit hervorbringt, für ihre Herrschaftszwecke nutzt. Der Begriff der Ordnung wie der Begriff der Krise bedürfen deshalb einer Erörterung. Ist es nur Zufall, dass an die Stelle der Weltordnung der Begriff der global governance getreten ist, der eben nicht das gleiche bezeichnet?

    Den bisherigen Gedanken folgend, sieht der Autor die aktuellen Krisenphänomene als Indizien für eine Krise historischen Ausmaßes, die nicht nur einen Teil der Wirklichkeit ergriffen hat sondern im Begriffe ist, das Ganze unserer modernen Lebensverhältnisse zu revolutionieren. Um diesen umfassenden Charakter der Krise angemessen zu bezeichnen, soll von der Krise der Moderne die Rede sein. Was damit gemeint ist, wird im 1. Teil des Buches erläutert werden.

    Wohin die Reise geht, ist indes offen. Wir kennen die Zukunft nicht. Insofern besteht weder Anlass zu Fatalismus noch zu revolutionären Träumen. Allerdings müssen wir versuchen zu verstehen, was in dieser Welt vorgeht, um aus dem Objekt der Verhältnisse zu einem handelnden politischen Subjekt werden zu können. Dazu will das Buch einen bescheidenen Beitrag leisten. Die zentrale These des Buches lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Seit dem 16. Jahrhundert hat sich, ausgehend von Europa das Zeitalter der Moderne herausgebildet. Ihre einzigartige historische Leistung besteht darin, dass sich ein neues Verständnis vom Menschen durchgesetzt hat: Der Mensch hat sich als ein mit Vernunft begabtes mündiges Wesen erklärt und sich an die Stelle Gottes als nun selbst verantwortlichen Schöpfer seines Lebens gesetzt. Damit hat der Mensch eine Energie freigesetzt, mit der eine historisch einzigartige Entwicklung ihren Anfang nahm: das Zeitalter des Fortschritts und der Zivilisation. Nicht weniger bedeutend dürfte gewesen sein, das Streben nach persönlichem Glück aus der Verbindung mit moralischen Pflichten, wie diese sowohl in der platonischen wie auch in der religiösen Vorstellungswelt bestand, zu lösen. Aus dem sittlich verstanden Glücksstreben, der Eudaimonia wurde die Maximierung des individuellen Nutzens.

    Die Moderne konnte auch deshalb ihre Faszination und motivierende Kraft entfalten, weil ihr Glücksversprechen mit einem universellen Geltungsanspruch einher ging: „Alle Menschen werden Brüder" oder wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Französischen Revolution von 1793 heißt: „Ziel der Gesellschaft ist das Glück aller."

    Das Projekt der Moderne, das dem Anspruch nach zur Subjektwerdung und zum Glück der Menschen führen sollte, erfuhr allerdings ein Schicksal, das Saint- Just mit Blick auf die Ideale der Französischen Revolution mit den Worten beschrieb: „Die Macht der Umstände führt uns vielleicht zu Ergebnissen, an die wir nie gedacht hätten."⁶ Was in unserem Falle als „Macht der Umstände" gelten kann, bleibt zu klären.

    Aus dem Prometheus der Moderne ist ein Zerstörer geworden, weil er seinen Fortschrittsdrang auf die Überwindung der Abhängigkeit des Ökonomischen von äußeren gesellschaftlichen, kulturellen und natürlichen Bedingungen errichtet hatte. Ausgehend von diesem Verständnis und mit Hilfe der revolutionierten Technik vollzog sich die physische Verwandlung unseres Planeten in ein Rohstofflager mit einer so rasanten Geschwindigkeit und Rücksichtslosigkeit, dass wir heute mit dem Lebensmodell der Moderne am Ende sind. Der Grundgedanke der Moderne, die Abhängigkeit des Menschen von äußeren Bedingungen zu überwinden, also autonom zu werden, findet seinen extremen Ausdruck in der lächerlichen Figur des homo oeconomicus, also des seinen Nutzen maximierenden Individuums. Die ökonomische Logik, die sich auf die Gebote der Rationalität beruft, hat das Erbe der Aufklärung angetreten.

    Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befinden wir uns an einem kritischen Punkt der menschlichen Entwicklung. Die Mittel, mit denen wir den unvergleichlichen Erfolg der Moderne in den zurückliegenden Jahrhunderten erwirtschaftet haben, schwinden. Zugleich erweisen sich die bisherigen Strategien unseres Fortschritts als die eigentlichen Ursachen für die drohende Selbstzerstörung der modernen Gesellschaften und unseres Lebens auf der Erde. Mit der systematischen Plünderung der Zukunft durch den Raubbau an der Natur, haben wir künftigen Generationen eine unverantwortliche Belastung aufgebürdet.

    Vor diesem Hintergrund fällt die Bilanz der Moderne trotz des erheblichen materiellen und zivilisatorischen Fortschritts von Jahrzehnt zu Jahrzehnt negativer aus. Ein „Weiter so" ist mit dem Anspruch auf die universellen Ziele der Moderne nicht zu erreichen. Schon gar nicht in einer Welt mit demnächst neun Milliarden Menschen. Müssen wir also die Ziele revidieren, die sich die Moderne gestellt hat oder reicht es, aus den Fehlern zu lernen und neue Wege einzuschlagen? Hat die Moderne das Potenzial zur Selbstkorrektur oder ist der Selbstlauf der Dinge unaufhaltsam? Einen wesentlichen Faktor in der Entwicklung der vergangenen zweihundert Jahre und einen Katalysator der Moderne bildet die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise gegen handwerkliche und agrarische Methoden. Die ökonomische Rationalität des Kapitalismus hat die Moderne überformt und den emphatischen Anspruch der Aufklärung, dass der Mensch sich aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien möge, pervertiert. Denn an die Stelle der alten Abhängigkeiten von Kirche und Königen ist eine neue, anonymere und umfassendere Abhängigkeit getreten, die Diktatur der ökonomischen Rationalität oder mit anderen Worten, die Diktatur des Kapitals. Zu keinem Zeitpunkt war die Macht des Ökonomischen so umfassend wie heute. Sie beschränkt sich schon längst nicht mehr auf das Marktgeschehen und die Abhängigkeiten, die wir als Lohnabhängige erfahren, sondern sie prägt alle unsere Lebensverhältnisse und unser Denken. Die Macht des Ökonomischen ist totalitär geworden.

    Dazu gehört auch das Gefühl, das viele Menschen beherrscht, dass die Vorstellbarkeit und die Realisierbarkeit einer Alternative mit ihrer Notwendigkeit abnehmen. Allerdings hält uns die Geschichte auch diesbezüglich durchaus unterschiedliche Erkenntnisse bereit: Der Aufstieg von Imperien vollzieht sich in langen Zeiträumen, ihr Niedergang, nicht selten am Punkt ihrer höchsten Machtentfaltung, geht häufig sehr schnell. Manchmal bemerken die Herrschenden den Umschlag nicht einmal, wie der britische Historiker Edward Gibbon(1737 – 1794) in seinem monumentalen Werk „Verfall und Untergang des römischen Imperiums", sicherlich auch mit einem Seitenblick auf das Schicksal des britischen Empires festgestellt hat. Ähnliches galt für den französischen Absolutismus am Vorabend der französischen Revolution: Wer konnte sich 1788 vorstellen, dass wenige Monate später, die Souveränität des von Gott gesandten König auf eine aus Bauern, Bürgern, Angehörigen des Klerus und der Adeligen gebildeten Nationalversammlung übergehen würde und der König gezwungen wäre, seinen Treueeid auf die Nation und auf die Gesetze abzulegen!

    Gesellschaften ist der Gedanke des eigenen Untergangs fremd. Selbst dann, wenn die Symptome unverkennbar sind, werden sie verharmlost oder falsch gedeutet. Das Wissen über unsere Geschichte zeigt aber, dass der Niedergang von Gesellschaften und von Kulturen der Normalfall ist. Besorgniserregend ist, dass die vom Niedergang bedrohten Gesellschaften ihre Bedrohung erst dann in ihr Bewusstsein aufgenommen haben, als es schon zu spät war. Man kann sich offenkundig nicht vorstellen, dass Strategien, die bislang immer zum Erfolg geführt haben, nun plötzlich den Niedergang der gewohnten Lebensweise herbeiführen sollten. Auch dann, wenn sich die ökonomische und soziale Lage für eine Mehrheit bereits spürbar verschlechtert hatte, hielt sie an ihrem bisherigen „Erfolgsmodell fest, weil sie hoffte, es gäbe eine Rückkehr zur „guten alten Zeit.

    Dazu kommt, dass wir Menschen sehr gut darin sind, unangenehme Wahrheiten zu verdrängen. Was Georg Lukács im Rückblick über die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts als „Wirklichkeitsverleugnung bezeichnet hat, kann man ohne Abstriche auch von unserer heutigen Situation sagen. Ein Großteil von uns, insbesondere jene, die Verantwortung für die Zukunft der Welt tragen, leben behaglich im „Grand Hotel Abgrund, an einem schönen, mit allen Raffinement ausgestattetem Komfort. „Und der tägliche Anblick des Abgrunds, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen, kann die Freude an diesem raffinierten Komfort nur erhöhen."

    Die Geschichte gescheiterter Kulturen wirft ein pessimistisch stimmendes Bild auf unsere Fähigkeiten, die „Wirklichkeitsverleugnung" zu überwinden und die ihr zugrunde liegenden Irrwege zu verlassen. Nichts spricht dafür, dass die menschliche Fähigkeit zur Selbstkorrektur in den vergangenen Jahrtausenden Fortschritte gemacht hat. „Ist es ein Wesenszug von Zivilisation, nicht anpassungsfähig zu sein?" fragt Ronald Wright in seiner „Kurzen Geschichte des Fortschritts".⁹ Fehlt uns das Bewusstsein für die unweigerlichen Grenzen, auf die jede Kultur stößt, wenn sie expandiert? Die Zivilisation auf den Osterinseln und der Mayas waren lokale Kulturen, deren Niedergang ohne besondere Folgen für den Rest der damaligen Menschheit war. Auch der Untergang des Römischen Imperiums hatte nur Konsequenzen für den Kern des Imperiums. Mit der modernen Zivilisation verhält es sich jedoch anders, sie ist heute die dominante Kultur der Welt. Ihre Krise lässt sich aufgrund der Globalisierung nicht mehr regional begrenzen.

    Wie also wird es weitergehen? Wir können es nicht wissen. Nur so viel ist sicher: Schon seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ist erkennbar, dass unsere, auf permanentes Wachstum und Konsum basierende Lebensweise in den kapitalistisch verfassten Gesellschaften nur noch um den Preis des immer riskanteren Vorgriffs auf die Zukunft aufrecht erhalten werden kann. Eine doppelte Verschuldungsspirale hat eingesetzt: Die rücksichtslose Inanspruchnahme und Zerstörung der knappen Naturressourcen hat die Chancen künftiger Generationen zerstört. Die finanzielle Verschuldung der Staaten hat sie in Abhängigkeit von Gläubigern gebracht. Während sich die Verschuldung an der Natur in Form von immer bedrohlicheren Naturkatastrophen bemerkbar macht, hat die Verschuldung der Staaten bei den mächtigen Finanzmärkten dazu geführt, dass ein immer größerer Teil des Sozialprodukts zur Bedienung der Ansprüche der Rentiers aufgewandt werden muss.

    Zugleich befinden sich die formal demokratisch verfassten Gesellschaften des Westens in einem antagonistischen Konflikt zwischen den Prinzipien der Marktgerechtigkeit und der sozialen Gerechtigkeit, den Erwartungen der Finanzmärkte und denen der eigenen Bürger.¹⁰ Welchen Interessen sind Regierungen heute mehr verpflichtet, denen des Staatsvolks oder denen der Finanzmärkte? Beides lässt sich nicht in Einklang bringen. Keine Regierung traut sich anscheinend, das „Vertrauen der Märkte" zu verspielen. Sie kann den Gläubigern ihre Loyalität nur unter Beweis stellen, wenn sie zugleich ihre Leistungen für die Bevölkerung einschränkt. Demokratisch organisierte Gesellschaften stehen deshalb vor einem existentiellen Legitimationsproblem. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Gewichte eindeutig zugunsten demokratisch nicht legitimierter interstaatlicher Institutionen und zu Lasten parlamentarischer Macht verschoben.

    Bislang ist es den demokratisch verfassten Gesellschaften des Westens noch gelungen, die Bürger durch Sedierung mit den Mitteln des Konsums und der Kulturindustrie ruhig zu halten. Erstmals werden in den südeuropäischen Demokratien, in denen Technokraten, Vertraute der Finanzelite die Regelung der Ansprüche der Finanzmärkte übernommen haben, Konflikte sichtbar, die möglicherweise mit Brot und Spielen alleine nicht mehr in den Griff zu bekommen sind. Vorbilder in Russland und China, die es geschafft haben, günstige Verwertungsbedingungen für das Kapital durch eine Politik der physischen Härte gegen das eigene Volk durchzusetzen, drohen auch in Europa. Sind wir etwa bereits auf dem Weg in den postdemokratischen Kapitalismus, in die Diktatur der kapitalistischen Marktgesellschaft?

    Es hat den Anschein, dass die Probleme in unserem „vergesellschafteten Kapitalismus schneller wachsen als die Mittel zu ihrer Lösung. Parteien und Regierungen, die ihre Aufgabe darin sehen, dafür zu sorgen, dass der „Laden läuft, sehen alt und hilflos aus, weil sie an die tatsächlichen Ursachen für die Probleme nicht heranwollen, ja sie nicht einmal mehr begreifen. Was bleibt Ihnen übrig? Symbolpolitik, die scheinbare Lösungen für den nächsten Tag bringen, bevor das nächste Problem ansteht. Und wenn das nicht mehr hilft? Ablenkungsmanöver, Schuldige Benennen, Aktivierung von Vorurteilen und populistische „Lösungen". Und wenn auch dies nicht mehr hilft, weil die Menschen spüren, dass der ganze Hofstaat nackt auf der Bühne steht? Dann bleiben nur noch die Mittel des Repression und der Einschränkung der bürgerlich-demokratischen Freiheiten.

    ***

    Im ersten Kapitel des Buches wird der Begriff der Moderne näher bestimmt. Ihre Strategien (Produktivismus, Naturaneignung und Selbstobjektivierung) werden herausgearbeitet. Anhand der philosophischen Literatur der Frühmoderne werden die Glücksgüter der Moderne, denen diese Strategien dienen sollten, dargestellt.

    In den Kapiteln II bis V wird anhand einer Analyse der aktuellen Entwicklung des Kapitalismus, der Entwicklung der Demokratie, der Pathologien des modernen Menschen und der Naturbeherrschung begründet, warum ich davon überzeugt bin, dass die Moderne keine (gute) Zukunft haben wird. Die Befunde münden im dem Fazit (Kapitel VI), dass ein „Weiter so nicht möglich ist, ohne die Lebensgrundlagen der Menschheit zu gefährden. Die „Gegenstrategien der Moderne, soweit sie in der Logik der Moderne verhaftet bleiben, werden als ungeeignet angesehen, die Probleme zu beseitigen, die der Prozess der Modernisierung hervorgebracht hat.

    In Kapitel VII soll dass die Moderne selbst Möglichkeitsräume geschaffen hat, in denen der Keim ihrer Überwindung gedeiht. Alternativen zu unserer heutigen Wirtschafts- und Lebensweise sind möglich. Sie bedingen allerdings einen radikalen Bruch mit den Grundlagen unserer modernen Lebensweise, insbesondere dem kapitalistischen Wirtschaftssystem und dem ihm zugrunde liegenden Produktivismus und Naturverständnis. Dafür muss die Politik wieder ihre ureigenste Aufgabe übernehmen; sie muss die Ordnungen schaffen, in denen die Menschen nach ihrer eigener Facon glücklich werden können. Zum Schluss (Kapitel VIII) werden Elemente eines neuen Wohlstandsmodells diskutiert, die die Möglichkeiten für eine humane und gerechte Zukunft schaffen sollen. Dabei werde ich mich an der Idee des guten Lebens für die gute Welt orientieren.

    Der viel zu früh verstorbene britische Historiker Tony Judt hat in seinem letzten Buch die Frage aufgeworfen, warum Menschen sich eine andere Gesellschaft nicht mehr vorstellen können.¹¹ Seiner Auffassung nach liegt der Grund darin, dass wir nicht mehr verstehen, wie wir über diese Fragen sprechen können. Wir reden über politische Fragen vorwiegend in der Sprache der ökonomischen Rationalität. Wir reduzieren den Menschen auf einen konsumierenden homo oeconomicus. Aber zu allererst sind wir doch Wesen, die vor allem eines wollen: Glück, Sicherheit und die Chance, das Leben in Freiheit selbst zu gestalten.

    Wir stehen nicht in erster Linie vor ökonomischen Schwierigkeiten sondern vor kulturellen und politischen Problemen, die mit unserem Lebensstil zu tun haben. Dieses Buch soll einen Beitrag dazu leisten, das Bewusstsein für die Dimension der Schwierigkeiten und ihrer Ursachen zu erlangen, denen sich unsere Welt gegenübersieht. Mit der Orientierung am altehrwürdigen Prinzip des guten Lebens und am Glück der Vielen soll an dem emphatischen Postulat der humanen Gründungsideen der Moderne und der Aufklärung festgehalten werden.

    Von diesen Prinzipien ausgehend, sollen im Schlusskapitel Gedanken für eine alternative Welt skizziert werden. Sie erheben keinesfalls den Anspruch eines Modells, sondern wollen eine Diskussionsrichtung vorzeichnen.

    Ein gutes Leben für eine gute Welt verlangt von uns den Abschied vom prometheischen Selbstbild, vom entgrenzten Produktivismus, der die Triebfeder des Kapitalismus ist, von der rücksichtslosen Vernutzung der Natur und von einer Kultur der Selbstentgrenzung und Selbstobjektivierung, die uns nicht glücklich gemacht hat. Ob wir, als durch und durch konditionierte Konsumenten dazu fähig sind, ein erweitertes Bewusstsein unserer Möglichkeiten als Mensch zu entwickeln, wird sich erweisen. Unsere Möglichkeiten als Menschen sind noch nicht erschöpft, wenn wir uns nicht damit zufrieden geben, als der armselige homo oeconomicus das Ende der menschlichen Evolution bezeichnen zu wollen.

    ² Hebbel, F.: Maria Magdalena, 3. Akt, 11. Szene

    ³ Rousseau, J. J. (12. Aufl. 1995). S. 192

    ⁴ Kosselleck, R. (1973). S. 132 ff.

    ⁵ Osterhammel, J. (2009). S. 115

    ⁶ Zit. nach: Furet, F., & Richet, D. (1968). S.

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