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DIE BLAUEN PFERDE: Krimi um entartete Kunst
DIE BLAUEN PFERDE: Krimi um entartete Kunst
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eBook547 Seiten6 Stunden

DIE BLAUEN PFERDE: Krimi um entartete Kunst

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Über dieses E-Book

Zwei Jahre nach Hitlers Machtergreifung kommt ein junger amerikanischer Historiker für ein Forschungsjahr in die Hauptstadt des deutschen Reiches, um dort neben seiner wissenschaftlichen Arbeit im Auftrag des Sicherheitsdienstes seines Landes die Verfemung der zeitgenössischen Bildenden Kunst zu beobachten. Gemeinsam mit einer jungen Praktikantin, die vergeblich für die Rettung der Moderne kämpft, findet er in der deutschen Nationalgalerie nicht nur Beweise für eine systematische Vernichtung der "entarteten" Kunst, sondern deckt auch eine großangelegte Verschwörung auf, mit der das Machtgefüge im dritten Reich verschoben werden soll. Die Suche nach den Urhebern bringt die Protagonisten in lebensbedrohliche Situationen, in deren Sog auch Freunde und Unterstützer hinein gezogen werden.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum18. Aug. 2015
ISBN9783732356744
DIE BLAUEN PFERDE: Krimi um entartete Kunst

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    Buchvorschau

    DIE BLAUEN PFERDE - Günther Pappert

    Erstes Buch: VERHÖHNUNG

    1

    Sein Rücken machte ihm wieder einmal zu schaffen. Quälend langsam erhob sich John Conrad aus der weichen Ledergarnitur, um seinen Besucher zu begrüßen. Erst gestern waren die Sitzgarnituren ausgetauscht worden, um dem pompösen Foyer des Hotel Adlon eine wohnliche Atmosphäre zu geben. Vielleicht ein Gewinn für das Adlon, aber eine Tortur für Gäste mit Rückenproblemen.

    Der junge Mann mit dem typischen Beamtenhaarschnitt und dem eleganten Anzug kam erwartungsvoll lächelnd auf Conrad zu und reichte ihm die Hand. Er hatte den erwartet festen Händedruck, entsprach aber sonst keineswegs dem typischen Vertreter des national-sozialistischen Beamtentums. Mit seinen dunklen Haaren und dem braunen Teint wirkte er eher wie ein südländischer Bonvivant. Ein Eindruck, der durch den hellen Anzug, die modische Krawatte und die eleganten Schuhe noch unterstrichen wurde.

    Der Mann schien bei den besten Herrenausstattern Berlins ein- und auszugehen.

    Willkommen in Berlin, Herr Professor, begrüßte ihn der junge Deutsche mit überraschend weicher Stimme. „Mein Name ist Rolf Auersperg. Ich bin Ihr Verbindungsmann hier in Berlin. Man könnte auch sagen, Ihr Kindermädchen. Die Reichskammer für bildende Kunst war der Meinung, ich solle Sie ein wenig an die Hand nehmen."

    Er lächelte und Conrad schien es, als begrüße ihn ein guter Freund. „Es freut mich, Ihre Unterstützung zu haben. Ich habe jedoch auf einen Experten für moderne Kunst gehofft."

    „Den haben Sie auch, entgegnete Auersperg selbstbewusst. „Ich habe Kunstgeschichte studiert …ein paar Jahre zumindest, bevor mich mein Vater in seine Buchhandlung verbannte. Er lächelte erneut und fügte hinzu: „Niemand in Berlin kennt die Kunstszene Berlins besser als ich."

    „Meine Botschaft hat mir Ihr Kommen bereits angekündigt", sagte Conrad, ohne auf die Rechtfertigung des Deutschen einzugehen.

    „Ja, die Kammer hat das Ansuchen Ihrer Botschaft, Sie bei Ihrer Tätigkeit im Reich zu unterstützen, sofort aufgegriffen und an das Propagandaministerium weitergeleitet. Deshalb bin ich hier."

    John zog fragend die Augenbrauen hoch. Auersperg schien seine Skepsis zu bemerken und sagte: „Zwischen den Ministerien gibt es Überschneidungen."

    Er machte eine kurze Pause – wahrscheinlich rechnete er damit, dass John Conrad mehr über die eigenartigen Querverbindungen in der Administration des Dritten Reiches in Erfahrung bringen wollte. Da keine Frage kam, fuhr er fort: Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Überfahrt?

    „Danke", entgegnete John. „Eine sehr bequeme Überfahrt. Der Atlantik war die meiste Zeit so ruhig wie der Wannsee. Die gute alte Queen Mary hat kaum einmal zu schaukeln begonnen. Kurz – eine sehr erholsame Überfahrt. Allerdings …very British. Unaufgeregt und weitgehend ohne Geschmack. Er verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Ich meine das Essen.

    „Ja, ja …die englische Küche", nickte Auersperg verständnisvoll und zog eine elegante Aktenmappe hervor.

    Er legte sie vorsichtig auf den gläsernen Beistelltisch und öffnete sie. Umständlich entnahm er ihr ein Notizbuch und schlug es auf.

    „Unsere Administration verlangt die Beantwortung einiger Fragen", begann er, während er eine elegante Pelikan Füllfeder aus dem Jackett zog.

    Am Nebentisch hatte sich unterdessen eine Gruppe japanischer Touristen lärmend niedergelassen. John drehte sich um. Es schien ihm, als wären dies die ersten ausländischen Gäste im Adlon. Amerikanische Landsleute, normalerweise die stärkste Gästegruppe, hatte er noch keine gesehen.

    Er senkte die Stimme. „Fragen Sie nur."

    „Der Zweck Ihres Aufenthaltes ist es – so steht es in Ihrem Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung – eine wissenschaftliche Arbeit über die deutsche Renaissance zu erstellen."

    „Ja, innerhalb zwei oder drei Forschungssemester. Ich bin Historiker, aber das werden Sie vermutlich schon wissen. Wir arbeiten an einem Standardwerk über die Renaissance. Meine Aufgabe dabei ist es, neue deutsche Forschungen einzuarbeiten. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den Arbeiten Albrecht Dürers. Vielleicht ist Ihnen bekannt, dass die deutschen Kollegen in der Renaissanceforschung weltweit mit zu den Besten gehören."

    „Das freut mich zu hören, sagte er und zeigte wieder sein charmantes Lächeln. „Außerdem haben Sie angeführt, Sie möchten einige Museen und Ausstellungen besuchen, um Exponate für eine Ausstellung der Moderne in Amerika auszuwählen.

    „Das ist richtig, entgegnete Conrad. Er fügte hinzu, „da ich nur wenig von moderner Kunst verstehe, benötige ich bei der Auswahl professionelle Hilfe. Ich selbst kenne nur ein Paar Arbeiten von Feyninger, Kandinsky und Chagall. Und natürlich einige Picassos. Das ist aber schon alles.

    Auersperg hob die Augenbrauen. „Sie wissen wahrscheinlich, dass moderne Kunst hierzulande kontrovers diskutiert wird. Namhafte Künstler, allen voran der Führer, sehen darin einen gefährlichen Irrweg. Er begann zu lächeln. „Aber natürlich helfen wir Ihnen gerne bei der Auswahl und Zusammenstellung. Sie müssen jedoch damit rechnen, für bestimmte Arbeiten keine Ausfuhrgenehmigung zu erhalten!

    Conrad zwang sich zur Gelassenheit. Die Experten zuhause hatten ihm angeraten, jede Konfrontation mit der NS-Kunst-Ideologie zu vermeiden. Andererseits würde eine widerspruchslose Akzeptanz dieser Schikane erst recht Argwohn hervorrufen.

    „Bei uns ist es unüblich, dass der Staat den Menschen erklärt, was Kunst ist und was nicht, entgegnete er deshalb freundlich. „Es sind die Sachverständigen und natürlich die kunstinteressierten Menschen selbst, die über die Qualität einer Arbeit entscheiden.

    Auersperg ging nicht darauf ein, stattdessen blätterte er in einem kleinen Notizblock. „Zur Entlehnung benötigen Sie außerdem eine Genehmigung des Polizeiamtes. Das wird leider längere Zeit dauern."

    „Nicht weiter schlimm. Die Ausstellungen sind ohnehin erst für das Jahr 1937 vorgesehen, eines unserer Museen wird speziell für diese Ausstellung umgebaut. Das dauert gewiss noch zwei Jahre."

    Auersperg nickte, vermied es aber, noch weitere Details zu der Entlehnung anzusprechen. „Ich will offen zu Ihnen sein, sagte er stattdessen. „Es wurde kolportiert, dass Sie unserer Bewegung mit Wohlwollen gegenüber stehen. Ihre Einreise ist über unsere Botschaft in London von Sir Mosley angekündigt worden, was mit ein Grund dafür ist, dass wir uns so intensiv um Sie kümmern. Er zögerte einen Moment. „Ich sehe deshalb in Ihrem Vorhaben, moderne jüdische Kunst für eine Ausstellung zu entlehnen, eine gewisse …Interessenskollision."

    Nun lächelte John. „Die sehe ich nicht. Die Politik sollte man von der Kunst fernhalten. Wenn ich recht informiert bin, gibt es auch in ihrer Partei Politiker, die der Moderne etwas abgewinnen können… Außerdem – als Historiker ist es nicht meine Aufgabe, aktiv deutsche Kulturpolitik zu betreiben. Er machte eine Kunstpause und verzog den Mund zu einem breiten Grinsen. „Ich hoffe nur, dass Sie mir meinen Albrecht Dürer nicht auch noch madig machen …

    John Conrad erkannte einen Anflug von Sarkasmus im ebenmäßigen Gesicht seines jungen Gegenübers. „Ganz bestimmt nicht. Dürer zeichnete ja die Menschen so wie sie aussehen und nicht als Dreiecke."

    Danach entspannte sich Ihre Konversation und Auersperg lenkte das Gespräch auf die Attraktionen Berlins. Er gab ihm Hinweise zu den Verkehrsmitteln, empfahl ihm Restaurants, Cafés und Theater. Bewusst vermied es John, politische Themen anzusprechen.

    Nach ungefähr einer Stunde machte Auersperg Anstalten, sich zu erheben. Er blieb aber dann doch noch sitzen und fragte: „Ist Ihnen Gräfin Anette von Borsody bekannt? Sie handelt mit Kunst und hat gute Geschäftsverbindungen nach Amerika. Unter anderem mit dem Carnegie Institut of Art in Pittsburgh."

    Conrad war auf diese Frage vorbereitet, das Außenamt hatte angedeutet, dass er es mit der mysteriösen Österreicherin zu tun haben werde und ihm geraten, ihr gegenüber auf der Hut zu sein. „Ja. Sie soll ebenso umtriebig wie attraktiv sein."

    „Beides korrekt, bestätigte der junge Deutsche. „Sie kann Ihnen bei der Zusammenstellung Ihrer Exponate bestimmt helfen. Und sie hat die bemerkenswerte Gabe, die hierzulande ungeliebte moderne Kunst als Investition in die Zukunft zu bewerben. Ich werde Sie mit ihr bekannt machen.

    „Ausgezeichnet", sagte John Conrad und beschloss, auch Gräfin Borsody mit äußerster Vorsicht zu begegnen. Es war nicht auszuschließen, dass die Dame als Spitzel tätig war. Im State Department hatte man ihn vor ihr gewarnt.

    „Sollen wir Ihnen für Ihre Aufgaben in Berlin ein Kraftfahrzeug zur Verfügung stellen?, fragte Auersperg unvermittelt. „Auf Empfehlung des Außenamtes hat man Ihnen Diplomatenstatus zuerkannt, das schließt die Verwendung eines Automobils plus Chauffeur mit ein …Berlin ist groß.

    Conrad hob die Augenbrauen, schüttelte aber dann den Kopf. Wenn Sie ihn schon überwachen wollten, dann sollten sie es nicht allzu leicht haben. „Danke, ich bin ein Freund der Berliner Straßenbahnen."

    Auersperg nickte. „Erlauben Sie mir bitte noch eine letzte, sehr persönliche Frage: Was tun Sie gegen Ihre Rückenschmerzen?"

    John lächelte gequält und sagte: „Zu wenig."

    Der junge Beamte erhob sich nun doch, gab Conrad, der wegen einer heftigen Schmerzattacke das Aufstehen nur andeutete, die Hand und verließ mit schnellen Schritten das Hotel.

    Der 20. Juni 1935 war ein warmer, fast wolkenfreier Frühsommertag. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht, gleich in die Nationalgalerie zu gehen, entschied sich John dafür, zuerst das Haus seiner Großeltern aufzusuchen. Dieses Ritual pflegte er, seitdem er als Kind das erste Mal die Stadt seiner Vorfahren besucht hatte. Das Gebäude war leicht zu Fuß erreichbar, es befand sich in der Charlottenstraße, nur wenige Gehminuten vom Adlon entfernt und das schöne Wetter lud geradezu zu einem Spaziergang ein.

    Er holte sich noch eine wärmere Jacke aus seinem Zimmer und trat Minuten später hinaus, mitten in das Herz der Metropole Berlin, die vor zwei Jahren – ebenso unerwartet wie ungewollt – zur Hauptstadt einer Diktatur geworden war. Vor dem Adlon flatterten die unvermeidlichen roten Fahnen mit dem Hakenkreuzemblem, die die Nazis – so wie in jeder freien Ecke Berlins – auch vor dem Hotel am Brandenburger Tor aufgezogen hatten.

    Die aufdringliche Beflaggung ausgenommen, hatte sich der große Platz jedoch kaum verändert, seit er das letzte Mal in der Stadt seiner Vorfahren zu Besuch gewesen war. Sah man einmal davon ab, dass die Lindenbäume auf der Berliner Prachtstraße Unter den Linden zwecks Regenerierung jungen Setzlingen weichen mussten. Die Berliner trösteten sich damit – so hatte er es in einer Illustrierten gelesen – dass diese in den kommenden Jahren wohl wieder auf alte Größe nachwachsen würden. Ganz so wie das Dritte Deutsche Reich.

    Er genoss es, endlich wieder einmal ohne Zeitdruck zu sein, blieb vor großen Schaufenstern stehen, sah den jungen Mädchen nach und freute sich über die spielenden Kinder und ihre aufgeregten Gouvernanten.

    Gedankenverloren versuchte er, sich in das Berlin der Vorkriegszeit zurückzuversetzen. Die Kindheitsbilder von der Prachtstraße in Erinnerung zu rufen, als die Pferdefuhrwerke noch mit den wenigen Automobilen wetteiferten und Berlin sich als Nabel der Welt fühlte. Es gelang nicht so recht.

    Berlins Flaniermeile hatte sich seit dieser Zeit – abgesehen von der vorübergehenden Schrumpfkur seiner prachtvollen Bäume – kaum verändert. Kein Regime, kein Krieg und kein Scharmützel um irgendwelche Ideologien hatten es bisher vermocht, die Prachtstraße ihres beschaulich-eleganten Erscheinungsbildes zu berauben.

    Mit Wehmut dachte er daran, wie sie als Jungen neben den Pferdekutschen hergelaufen waren, nur um einen Blick der kleinen Mademoiselles in den Kutschen zu erhaschen, die sich ihre Nasen an den Scheiben platt drückten und ihnen zuwinkten. Pferdefuhrwerke waren zwar kaum noch zu sehen, trotzdem vermeinte er gerade jetzt, den strengen, aber keineswegs unangenehmen Geruch ihrer Hinterlassenschaften wahrzunehmen.

    Während sich das Erscheinungsbild der großen Stadt kaum verändert hatte, erschienen John ihre Bewohner verschlossener und unnahbarer als zur Zeit der Weimarer Republik. Die Nazis hatten es nach ihrem Machtantritt zwar nicht vermocht, die Berliner ihrer Lebenslust zu berauben, aber es schien ihm, als wäre das Lachen der Menschen seltener geworden. Armut und Elend gab es immer noch, sie musste sich jetzt jedoch in den Vororten und Nebenstraßen verstecken.

    Wehmütig überquerte er hinter einem mächtigen Mercedes SSK, der die Standarte mit dem Hakenkreuz trug, die Allee und erreichte bald darauf die Französische Straße, an deren Beginn sich das Haus seiner Vorfahren befand, ein prächtiges Gebäude mit großen, hohen Fenstern und einer stilvollen klassizistischen Stuckatur. Früher war es ein reines Verwaltungsgebäude, nun beherbergt es ein mondänes Modegeschäft.

    Er blieb stehen und sah die elegante Fassade hinauf. Oberhalb der ersten beiden Stockwerke, die für das Modegeschäft reserviert waren, verlor sich jedoch ihr Glanz. Hier waren bereits Risse erkennbar und Teile der Stuckatur bröckelten ab. Auch die große Inschrift KONRAD & KONRAD, knapp unter dem Dach, war kaum noch zu erkennen.

    Schon knapp vor dem Krieg hatten seine Großeltern das Gebäude verkauft und waren nach Amerika ausgewandert. Ein ungewöhnlicher und mutiger Schritt in einer Zeit, in der die nationale Begeisterung für Krieg und Kaiserreich hohe Wellen schlug. Mit der ihm eigenen Weitsicht schien sein Großvater vorausgesehen zu haben, dass man mit Sturmgewehr und Pickelhaube weder die Italiener ins Mittelmeer, noch die Franzosen in den Atlantik würde treiben können.

    John widerstand der Versuchung, das Stiegenhaus zu betreten. Er wollte es vermeiden, fremden Menschen den Grund für seine Anwesenheit zu erklären. Stattdessen warf er einen Blick auf die bunten Illustrierten, die ein ärmlich gekleideter älterer Mann am Gehsteig vor dem Haus aufgestellt hatte. Er ging näher.

    Ein Titelbild des Luftschiffes Graf Zeppelin mit der Skyline von Manhattan erweckte sein Interesse und seine Gedanken wanderten zurück zu dem irritierenden Gespräch im Dekanat seiner Universität in Boston.

    Zwei Wochen war es erst her, seitdem der Dekan unvermittelt und ohne Vorankündigung mit den drei Männern des State Departments in seinem Büro am historischen Institut aufgetaucht war und ihn zu diesem verstörenden Gespräch gebeten hatte. Woher wussten diese Leute, welche Kontakte sein Vater zu nationalen Kreisen in England hatte? Und wie hatten sie es angestellt, ein Empfehlungsschreiben eines britischen Nazis zu erhalten, den er nicht einmal vom Hörensagen kannte? Gewiss, sein Vater stand dem nationalen Gedankengut nahe. Das aber war im anglophilen Geldadel bereits vor dem großen Krieg keineswegs selten. Er selbst hatte sich jedoch von Vaters konservativer Einstellung nie infizieren lassen und war stets ein Mensch der politischen Mitte geblieben. Wie es sich für einen Historiker ziemte, hatte er zu allen politischen Strömungen und Ideologien Distanz gewahrt.

    Deshalb kam für ihn die seltsame Empfehlung der Nazi-Sympathisanten aus England äußerst überraschend und er wollte sie anfangs auch zurückweisen. Aber dann hatte ihn Frank Dellinger vom Außenamt mit dem Argument überzeugt, diese Empfehlung würde ihm im Deutschen Reich alle Türen öffnen und das Risiko, bei seinen Aktivitäten in die Mahlsteine der Naziadministration zu gelangen, auf ein Minimum reduzieren.

    Außerdem könne er quasi im Vorbeigehen gefährdeten Menschen aus Kunst- und Hochschulkreisen eine neue Heimat in den USA anbieten. Die Schreibtischspione vom Außenamt hatten ihm erklärt, dass nicht nur Menschen jüdischer Abstammung von Repression und Abschiebung betroffen seien, sondern auch Sozialisten, Kommunisten und viele bürgerliche Gruppen, die das Dritte Reich politisch ablehnen. Letztendlich hatten sie ihm eine Liste an offenen Posten an den US Universitäten mit dem Hinweis zugesteckt, dass es eine patriotische Unterstützung seiner Heimat sei, gute Wissenschaftler für eine Arbeit in den Staaten zu gewinnen.

    Und damit nicht genug, hatte sich auch noch der Dekan des kunsthistorischen Institutes bei ihm gemeldet, und ihn gebeten, die wachsende Drangsalierung der modernen Kunst und ihrer Protagonisten in Hitlers Reich auszuloten. Man plane in New York ein Museum der Moderne und John möge sich doch bei den zuständigen Stellen dafür einsetzen, dass man Werke der Avantgarde aus den deutschen Museen entlehnen oder ankaufen könne.

    Auf jeden Fall würde – darüber war sich John Conrad inzwischen im Klaren – sein außergewöhnliches Forschungsjahr im Dritten Reich eine echte Herausforderung werden. Und die hatte streng genommen schon lange vor seiner Abfahrt begonnen. Nicht wenige Kollegen und alle jüdischen Verbände sahen in seinem langen Berlinaufenthalt eine Aufwertung des NS-Staates. Dabei war das Auslandsjahr schon lange vor dem Machtantritt der Nazis zwischen den beiden historischen Instituten vereinbart worden.

    Als wären das nicht schon Probleme genug, fragte er sich, warum er dem Drängen des Amtes nachgegeben hatte, früher als notwendig nach Berlin zu reisen. Wollte er damit nur der Leere entgehen, die sich nach der kräftezehrenden Trennung von Ehefrau Caren wie eine Nebelbank über seinen Gemütszustand legte? Oder war es einfach nur eine Trotzreaktion auf ihre ständige Stichelei, er sei wohl der langweiligste Mensch zwischen pazifischem und atlantischem Ozean?

    „Langweilige Menschen arbeiten nicht für den Geheimdienst", sagte sich John kurz darauf und kaufte an dem kleinen Kiosk die Berliner Tageszeitung.

    2

    Selbst die rastlose Aktivität in den Straßen Berlins konnte diesen warmen Frühsommertag nicht seines Zaubers berauben. Die Lindenblätter waren zur vollen Größe gereift und mit einer warmen Brise kündigte sich der nahende Sommer an.

    In der Friedrichstraße hatte schon der Abendverkehr eingesetzt. Die vollbesetzten gelben Straßenbahnen ratterten mit den zahlreichen Doppeldeckerbussen um die Wette. Es war kurz vor fünf und die meisten Menschen waren auf dem Weg nach Hause.

    Dem vornehm gekleideten älteren Herrn, der inmitten des gut gefüllten Gastgartens des Cafés Victoria die Sonnenstrahlen genoss, wurde wieder einmal bewusst, mit welcher Intensität er diese seine Stadt liebte. Alexander de Moray nahm noch einen Schluck von dem miserablen Brühkaffe, den sie im Victoria jetzt stolz als Cappuccino anboten und freute sich auf das Wiedersehen mit seiner Tochter. Monatelang waren sie getrennt gewesen, weil er in Danzig familiäre Dinge zu regeln hatte und dann noch einen längeren Abstecher nach Stockholm unternommen hatte, um eine Kollegin zu besuchen.

    In zwei Wochen würde er Berlin in Richtung Zürich verlassen, um dort eine Gastprofessur an der ETH anzutreten. Natürlich wollte er damit in erster Linie dem Wahnsinn der neuen Rassenhygiene entgehen, musste sich aber eingestehen, dass dies nicht der einzige Grund für seine Entscheidung war. Immer noch war er auf der Suche nach einer neuen Identität. Der Tod seiner Frau vor mehr als drei Jahren hatte ihn aus der behüteten Zweisamkeit einer langjährigen Ehe entrissen und er tat sich schwer, seinem Leben wieder einen Sinn zu geben. So war er ständig auf der Suche nach Abwechslung, nahm hier ein Auslandssemester an und dort eine Fortbildung wahr.

    Trotz allem – dies würde sein letzter Auslandsaufenthalt sein. Das hatte er sich fest vorgenommen. Die ständige Flucht vor dem Alleinsein musste endlich aufhören. Außerdem machte er sich Sorgen um seine Tochter. Er fühlte sich einfach besser, wenn er in ihrer Nähe war.

    Mit ihren zweiundzwanzig Jahren war Eliza zwar erstaunlich gereift, selbstsicher und willensstark. Diese Charaktermerkmale bargen jedoch eine nicht zu unterschätzende Gefahr, da die Nazis selbstbewussten Menschen mit wachsenden Misstrauen begegneten. Wer seinen Standpunkt zu vehement vertrat, konnte leicht in eine Konfrontation mit den neuen Machthabern geraten. Und seine Tochter vertrat ihre Meinung stets mit großer Leidenschaft.

    Aus den Lautsprechern im Kaffeehaus ertönte ein Potpourri der Comedian Harmonists Am Sonntag möcht mein Liebster mit mir segeln gehen …

    Moray freute sich über das akustische Gute-Laune-Relikt aus einer untergehenden Epoche. Er wippte mit dem Fuß im Takt der Musik und fragte sich, was wohl die zahlreichen uniformierten Braunhemden hier im Victoria darüber dachten. Wahrscheinlich wussten sie nicht einmal, dass man die beliebteste Sängergruppe Deutschlands aufgelöst hatte, nur weil ein oder zwei Mitglieder jüdischer Abstammung waren. Es schien ihm sogar, als hörte er sie die bekannten Melodien mitsummen und er fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis die Nazis auch den Kaffeehäusern und Tanzpalästen ihren volksdeutschen Musikgeschmack verordneten.

    Morays schwermütige Gedanken wurden durch die Ankunft seiner Tochter unterbrochen. Sein zerfurchtes Gesicht hellte sich auf und zeigte das erste Mal an diesem Tag ein ehrliches Lächeln. Mit ihrem weißen Kleid, dem eleganten schwarzen Gürtel und der kleinen weißen Mütze, die sie stets schräg auf dem Kopf trug, sah Eliza einfach bezaubernd aus. Er wusste, dass sie sich gern nach der neuesten Mode kleidete und es belastete ihn, dass er sie in ihrem Bestreben, sich ganz wie eine der selbstbewussten jungen Frauen Berlins zu fühlen, so wenig unterstützen konnte. Auch ein Professor musste in diesen harten Zeiten mit seinem Salär sorgsam haushalten.

    Er stand auf, ergriff ihre Hände und fragte: „Wie geht es meiner Lieblingstochter?"

    Sie umarmte ihn kurz, küsste ihn auf die Wange und erwiderte lächelnd: „Chèr Papa, du hast doch nur eine Tochter …"

    In jüngster Zeit verwendete Eliza wieder vermehrt französische Aphorismen, was ihr Vater als eine Art passiven Widerstand gegen den braunen Zeitgeist verstand. Stets hatte er die zweisprachige Erziehung seiner Tochter unterstützt, jetzt fürchtete er jedoch, selbst diese kleine Marotte könne den Argwohn der Machthaber erregen.

    „Aber eine ganz besondere, meinte er mit dem ganzen Stolz eines liebenden Vaters. „Komm, setzt dich etwas näher zu mir. Wir müssen wichtige Dinge besprechen!

    Sie hakte sich bei ihm unter und rückte ihren Sessel näher. „Bist du in Danzig erfolgreich gewesen, Papa?"

    „Nicht in allen Bereichen, entgegnete der Professor. Er verspürte keine Lust, seiner Tochter den wenig erfolgreichen Abstecher nach Stockholm zu beichten und fügte deshalb schnell hinzu: „Das ist aber jetzt nebensächlich, mein Kind. Lass uns über dich sprechen. Macht denn deine Arbeit Fortschritte?

    „Ja und nein. Meine aktuelle Doktorarbeit ruht momentan. Ich möchte zuerst die Arbeit über die Künstlergruppe Der Blaue Reiter fertig stellen. Du erinnerst dich gewiss daran, dass man meinen damaligen Doktorvater entlassen hat, nur weil er vor Jahren einmal etwas Positives über den Sozialismus gesagt hat. Ich bin es ihm und mir einfach schuldig, die Arbeit so schnell wie möglich zu Ende zu bringen."

    Alexander de Moray ergriff die Hand seiner Tochter: „Warum tust du das? Du hast doch nichts davon, außerdem wirst du im gesamten Reich niemanden finden, der genug Mut aufbringt, diese Dissertation zu approbieren."

    „Das weiß ich, Papa. Aber ich muss sie trotzdem vollenden. Ich mache diese Arbeit aus Wertschätzung für die Künstler des Blauen Reiters, für niemanden sonst. Sie schüttelt wild entschlossen den Kopf und fügte mit Nachdruck hinzu: „Versteh mich doch! Ich kann mir nicht von irgendwelchen Dilettanten sagen lassen, Marc und Macke seien Stümper gewesen und hätten nur Schwachsinn produziert.

    „Ich versteh dich ja mein Kind. Trotzdem, man kann nicht ständig gegen den Strom schwimmen, besonders nicht in diesen gefährlichen Zeiten."

    Er sah sie voller Mitgefühl an. „Verzeih, wenn ich das sage, ganz so jung bist du auch nicht mehr. Du musst an deine Zukunft denken."

    Sie ging nicht darauf ein, denn einer der auffallend elegant gekleideten Kellner blieb an ihrem Tisch stehen und fragte sie nach ihren Wünschen. Sie bestellte eine Cola. Der Kellner strahlte und bedankte sich auf Italienisch.

    Eliza erwiderte sein Lächeln, wandte sich aber sofort wieder ihrem Vater zu. „Du hast ja Recht. Trotzdem fürchte ich, dass ich bald keine Gelegenheit mehr haben werde, die Kunstwerke des Blauen Reiters zu bewundern."

    Aus den Lautsprechern erklang Liane Heids jüngster Erfolg: Adieu mein kleiner Gardeoffizier.

    Der alte Mann seufzte. „Ja. Sie haben der Moderne den Krieg erklärt, sie passt partout nicht in ihr Weltbild."

    „Am kunsthistorischen Institut wollen sie uns jetzt weismachen, dass schon die alten Griechen germanische Kunst fabriziert hätten. Was für ein Schwachsinn! Und es wird immer schwieriger, vernünftige Veranstaltungen zu belegen."

    Der Professor sah in ihre funkelnden Augen und dachte wehmütig an Elaine. Er hatte seine Frau in Südfrankreich kennengelernt und war gleich bei der ersten Begegnung in ihren bernsteinfarbenen Augen versunken. Danach hatte es viele Gelegenheiten gegeben, dieses Funkeln aus Zorn oder Begeisterung aufblitzen zu sehen. Vor allem während des Krieges, wenn sie sich wieder einmal über kriegslüsterne Adelige und arrogante Generäle geärgert hatte.

    „Kannst du denn dein Praktikum in der Nationalgalerie noch fortsetzen?", fragte er.

    „Ja, Hanfstaengl hat mich jetzt ins Depot versetzt, weil Führungen in den Ausstellungssälen wegen der ständigen Störungen der Nazis nur noch wenig gefragt sind. Wir alle verdienen kaum noch Geld. Es kommen zwar noch Besucher, aber es gibt keine Sonderausstellungen mehr. Vor zwei Wochen hat uns die Gestapo angehalten, Arbeiten von Kokoschka, Nolde oder Kirchner zu entfernen …Hanfstaengl kämpft und trickst zwar, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis es uns ähnlich ergeht wie den verfemten Autoren. Ich fürchte sie werden auch unsere weltberühmte Sammlung zerstören."

    Moray sah seine Tochter besorgt an. „Versprich mir, dich nicht zu unüberlegten Handlungen hinreißen zu lassen. Sei bitte vorsichtig, mein Kind!"

    „Das bin ich doch. Außerdem, wen kümmert es denn, wenn ich aufmucke. Ich – eine kleine Studentin. Es ist zum Weinen, Papa. Dabei gibt es selbst unter den Nazis Leute, die nicht nur dem Impressionismus sondern auch dem Expressionismus wohlgesonnen sind. Hans Bosse zum Beispiel und auch Leute wie … "

    „ …Warum können denn die nichts tun?"

    „Sie tun ja was! Sie verteidigen die Moderne in Zeitschriften, in Ausstellungen und Vorträgen. Aber ihre Gegner werden immer stärker. Und die haben den Großteil der Presse auf ihrer Seite. Nicht nur die Nazi-Presse sondern auch Teile der bürgerlichen Medien."

    Moray nickte. „Der Boulevard war ja schon immer erbitterter Gegner der Avantgarde. Schon zur Kaiserzeit. Ich habe einige dieser Pamphlete gegen die Moderne gelesen. Die Dilettanten sehen jetzt ihre große Chance, doch noch nach oben zu kommen. Der Aufmarsch der Nullen hat ja bereits begonnen. Ähnliches gibt es ja nicht nur in der Kunst zu beobachten, sondern auch in der Wissenschaft."

    Sie versuchte ein Lächeln: „Nur nicht in der Psychologie."

    „Ja, abgesehen von der volksdeutschen Psychologie. Dort suchen sie jetzt erfolglos nach Anhaltspunkten für ihre abstrusen Theorien. In keiner anderen Disziplin jedoch haben es die Unbegabten nun so leicht wie in der Kunst …Ist denn Hitlers Einstellung immer noch so radikal?"

    Sie nickte. „Daran wird sich auch nichts ändern. Momentan hält er sich im Hintergrund und lässt seine Scharfmacher agieren. Hanfstaengl meint, Hitler hoffe, der Gartenlaubenkitsch der Naturalisten könne die Moderne auch ohne politischen Zwang verdrängen. Angeblich glaube er sogar, Leute wie Nolde oder Klee würden plötzlich umschwenken und nur noch naturalistische Wiesenblumen zeichnen. Aber weil sich wahre Künstler nicht verbiegen lassen, verhöhnen nun die Nazis die Moderne Kunst wo sie nur können. Unterstützt von diesem Agitator Rosenberg, der die Moderne am liebsten heute als morgen verbrennen würde, und seinen Handlangern Willrich, Hansen und wie sie alle heißen."

    Er sah sie besorgt an. „Reg dich bitte nicht so auf, mein Schatz!"

    „Ich will mich aber aufregen, Papa, beharrte sie trotzig. „Und du wirst es nicht glauben …unsere letzte Hoffnung ist Goebbels.

    „Goebbels?", fragte der alte Mann erstaunt.

    „Ja, Goebbels. Aber ich denke nicht, dass er die Avantgarde verteidigt, weil er sie schätzt. Er kennt einfach den hohen Stellenwert der deutschen Moderne in aller Welt und befürchtet deshalb einen Imageverlust für das Reich. Als ob das noch eine Rolle spiele."

    „Vielleicht tust du ihm unrecht und er schätzt den Expressionismus wirklich."

    „Niemals! Goebbels hat keine eigenen Wertvorstellungen. Er wechselt ständig seine Meinung und betet doch nur nach, was sein Herr und Meister predigt."

    Sie machte eine Pause und sagte dann ruhig: „Wir sollten nicht weiter politisieren. Es ist so ein wunderschöner Tag."

    „Du hast Recht, mein Kind, stimmte der Professor erfreut zu. Er fragte nach kurzer Pause: „Warum trägst du noch den Pagenhaarschnitt wie deine Mutter? Er fuhr ihr sanft über das Haar. „Er gefällt mir, aber er ist doch ein Relikt aus den Zwanzigern."

    „Kein Relikt, Papa …eine Hommage", lächelte sie. „Außerdem nennt man die Frisur BOB und sie ist immer noch en vogue."

    „Versuch bitte nicht, mit aller Gewalt aufzufallen, mein Kind. Die Nazis uniformieren ja die Menschen aus gutem Grund. Dazu gehören auch Kleidung und Haarschnitt. Sie grenzen damit diejenigen aus, die sich nicht manipulieren lassen. Sei um Himmels willen vorsichtig!"

    „Du politisierst ja schon wieder, Papa", sagte sie streng. „Ich will mich nicht uniformieren. Niemand kann mich dazu zwingen, mir wie ein Bauernmädchen einen Zopf zu flechten. Der Großteil der Berliner Jugend sträubt sich doch gegen die Gleichmacherei. Sieh dich nur hier im Victoria um, es gibt genug Menschen, die sich ganz individuell kleiden."

    Der alte Mann seufzte und sah erneut Elaine vor sich, die es stets verstanden hatte, ihre Sicht der Dinge messerscharf zu begründen.

    „Wie geht es denn deinem Rennfahrer?"

    „Gut… glaube ich wenigstens. Ich habe ihn monatelang nicht mehr gesehen. Seit er sich zum Volksheld berufen fühlt, stand ihm der Sinn nach Abwechslung. Der Bund deutscher Mädel hat nun seine Betreuung übernommen", meinte sie mit spöttischem Unterton, in dem auch eine Spur von Bedauern mitschwang.

    „Es ist also endgültig aus mit euch?"

    „Das war es doch schon lange."

    „Ist auch besser so. Ihr beide hattet nicht dasselbe intellektuelle Niveau. Außerdem waren eure Interessen zu verschieden, das kann nicht …"

    „ …Vater bitte! Eliza zog die Augenbrauen ärgerlich nach oben. „Ich habe keine Lust, darüber zu diskutieren.

    „Entschuldige, sagte er verlegen. „Väter bleiben halt immer Väter …Hör zu, ich möchte, dass du am Ende des Semesters zu mir in die Schweiz kommst. Du könntest ja am kunsthistorischen Institut in Bern fertig studieren. Mein alter Freund Suhrer hat dort den Lehrstuhl für bildende Kunst. Er hat einen hervorragenden Ruf.

    Eliza entgegnete ernst: „Ich kann es dir nicht versprechen …Aber ich werde darüber nachdenken."

    De Moray wollte zu einer ausführlichen Argumentation ansetzen, unterließ es jedoch, weil sich Elizas sorgenvolle Miene unvermittelt aufhellte. Maria Strolz und Julia Borgin standen vor ihrem Tisch, ihre engste Freundinnen.

    „Da seid ihr ja", freute sich Eliza. Sie strahlte über das ganze Gesicht.

    Der Professor erhob sich und begrüßte die beiden jungen Frauen, von denen ihm Julia Borgin besonders ans Herz gewachsen war. Als Elaine noch lebte, war das hübsche Mädchen im großen Haus in Grunewald oft zu Gast gewesen. Ihren Vater, einen geachteten jüdischen Bankier, hatte er gut gekannt. Er war in der Wirtschaftskrise zur Aufgabe seines Bankhauses gezwungen worden und hatte kurz darauf – nachdem er sein ganzes Vermögen verloren hatte – Selbstmord begangen. Seine Frau flüchtete wenig später in das Vergessen. Sie erkrankte an Alzheimer.

    Eliza hatte sich ihre Jacke übergezogen und gab ihrem Vater einen Kuss. „Ich bin spätestens um vier zuhause, Papa."

    „Seid vorsichtig! Es ist viel Gesindel in der Stadt."

    Sie nahmen den Rat des Professors nicht mehr wahr. Eng umschlungen, lachend und tratschend verließen die jungen Frauen das Victoria und der alte Mann wünschte sich für einen Moment, die Zeit noch einmal zurück drehen zu können. Er seufzte, sah hinüber zu den braungekleideten SA-Männern, die wie hypnotisiert den drei Mädchen mit ihren Blicken folgten und verwarf sogleich den Wunsch, noch einmal jung zu sein. Die Zukunft sah für diese lebensfrohen jungen Frauen alles andere als rosig aus.

    Das Schicksal möge trotzdem gnädig mit ihnen sein, beschwor de Moray die Mächte des Himmels, bevor er sich entschloss, einen weiteren Brühkaffee zu bestellen.

    3

    Die dralle, blonde Sekretärin mit der straffen weißen Bluse und der sorgfältig gebundenen Krawatte sah Rolf Auersperg herausfordernd an, schob ihre Brüste nach vorn und sagte lächelnd: „Der Herr Gruppenführer erwartet Sie."

    Der junge Mann erwiderte ihr Lächeln und spielte kurz mit dem Gedanken, sie zum neuesten Clark-Gable-Film einzuladen, nickte aber dann nur, drückte die schwere Messingklinke und trat ein.

    Immer wenn er dem hohen Gestapo Beamten gegenüber stand, kam Auersperg der stets knurrende Schäferhund seiner Nachbarin in den Sinn. Sein asketisches, hochaufgeschossenes Gegenüber hatte eine Sonderstellung im wachsenden Kontrollapparat der NSDAP. Er war als Koordinator sowohl Goebbels Reichsministerium für Propaganda und Volksaufklärung als auch Himmlers SS-Hauptquartier zugeteilt. In Personalunion – und das wussten nur wenige Eingeweihte – koordinierte er die Zusammenarbeit zwischen den beiden mächtigen Institutionen in den Angelegenheiten der Erneuerung der deutschen Kunst.

    Und da gab es viel zu tun. Schließlich musste man einem ganzen Volk erklären, wie nun Kunst zu sein habe und wie nicht. Jedenfalls entsprach eine derartige Machtfülle der überragenden Bedeutung, die der Führer der kulturellen Gleichschaltung einräumte. Die dazu notwendige enge Kooperation der einzelnen Dienste hatte zur Folge, dass Rolf Auersperg denselben Sachverhalt stets bei mehreren Gremien vortragen musste. Aber kein Nachteil ohne einen Vorteil. Letzterer bestand darin, dass er besser als andere über die Machenschaften und Intrigen rund um die bildende Kunst informiert war und auch darüber, wer emigrieren und deshalb dringend Kunstschätze verkaufen musste.

    Als ehemaliger Kunststudent schätzte Auersperg zwar die Moderne, unterstützte jedoch aus handfesten Gründen die offizielle Kunstpolitik im Reich. Sehr bald hatte er die Chancen erkannt, die sich für ihn persönlich aus den außergewöhnlichen Vorgängen ergaben und profitierte, so wie viele anderen Beamten auch, an diesem schmutzigen Spiel. Zahlreiche Juden und Regimegegner hatten bereits das Reich verlassen und dabei wertvolle Dinge zurückgelassen. Hier ein pastöses Ölgemälde, dort eine antiquarische Radierung. Deshalb lagerte in Auerspergs Dachkammer inzwischen eine ansehnliche Sammlung avantgardistischen Kunstschaffens, die sich mit manch kleiner Kunsthandlung messen konnte. Außerdem befanden sich dort auch einige Werke ausländischer Künstler, die schon einen Namen hatten, aber hierzulande trotzdem in Ungnade gefallen waren. Ein MODIGLIANI, zwei PICASSOS und mehrere DALIS (von deren Echtheit er allerdings nicht überzeugt war) sollten einmal in einem Haus in Brandenburg die Wände schmücken und ihm helfen, seiner großen Liebe, der Fliegerei, möglichst lange die Treue halten zu können. In diesen unruhigen Zeiten musste schließlich jeder zusehen, wo er blieb.

    Das große Büro war ganz im Stil der neuen Machthaber ausgestattet. Wuchtiges, klar strukturiertes Mobiliar, der Boden aus poliertem Kalkstein und ein Gobelin an der Wand. Auf der gegenüberliegenden Wand das Konterfei des Führers.

    Im Zentrum des Raumes stand der mächtige Schreibtisch, der jedem auf der anderen Seite des Tisches eindrucksvoll darauf verwies, wer hier die Macht repräsentierte. Über allem thronte das geschmückte Emblem der Bewegung, das schwarze Hakenkreuz auf rotem Grund. Unmittelbar daneben hing das Porträt des Führers.

    Persönliche Utensilien, Blumen oder gar Gemälde fehlten, nichts sollte von der allgegenwärtigen Präsenz der Partei ablenken.

    „Setzten Sie sich, Auersperg, befahl Gruppenführer Lützow, würdigte ihn dabei jedoch keines Blickes. Auersperg setzte sich. Minutenlang blätterte der SS-Beamte dann in irgendwelchen Akten, ehe er sich schließlich doch seinem Untergebenen zuwandte. „Ich habe hier Ihren Bericht vorliegen. Es klang wie eine Schuldzuweisung.

    Hatte er ihn minutenlang nicht beachtet, sah er Auersperg nun durchdringend an. „Hier lese ich, John Robert Conrad, amerikanischer Bürger deutscher Abstammung, beantragt unsere Zustimmung zur Entlehnung jüdisch-bolschewistischer Kunstwerke. Wie sie wissen, benötigt er für diesen Vorgang eine schriftliche Genehmigung der Gestapo."

    Auersperg nickte zustimmend, was er immer dann tat, wenn sein Vorgesetzter zu einem längeren Monolog ansetzte. „Jawohl, Gruppenführer! Ich habe mit ihm vereinbart, dass ich ihm diese besorge. Außerdem muss die Reichskammer die Entlehnung genehmigen."

    „Er schreibt, die Entlehnung soll ein Jahr dauern und im Frühjahr 1937 starten, sagte Lützow. „Warum so spät?

    „Das hängt mit der Eröffnung eines neuen Museums zusammen. Die Amis haben noch kein Haus der Lebenden."

    „Ob die Genehmigung zur Entlehnung in Bälde durchgeht, bezweifle ich. Die Kunstpolitik befindet sich momentan auf Schlingerkurs. Und in Fragen der Entlehnung der Verfallskunst gibt es noch keine gesetzliche Grundlage. Er sah Auersperg in die Augen. „Warum berät ihn bei der Auswahl der Bilder nicht Gräfin Borsody?

    „Weil die Gräfin dort nicht besonders gern gesehen wird, hat die Reichskammer mich damit beauftragt. Trotzdem werde ich sie beratend hinzuziehen."

    Lützow verzog den Mund, was wohl als Lächeln gedacht war. „Tun Sie das. Ist ja erstaunlich, dass unsere Gräfin mal nicht die erste Geige spielt. Angeblich versteht sie doch so viel von diesen Schmierereien. Er gab sich plötzlich jovial. „Was halten Sie denn von Conrad? Sind von ihm nachrichtendienstliche Aktivitäten zu erwarten?

    Auersperg sah seinen Chef fragend an. „Sie meinen, ob der Mann ein Spion sein könnte?"

    Lützow blickte kurz vom Dossier auf: „Hab ich mich etwa unverständlich ausgedrückt?"

    „Nein, nein… Für mich gibt es keinen Zweifel an seinen ehrlichen Absichten. Der Mann spricht offen und ist nicht nur wegen seiner deutschen Ahnen deutschfreundlich eingestellt.

    Es gibt da ein Empfehlungsschreiben aus England, das….."

    „.. Ist mir bekannt, fiel ihm Lützow ins Wort. „Ihre Einschätzung in Ehren, im Nachrichtendienst zählen aber nur Fakten. Wir brauchen deshalb so viele Informationen über den Mann wie möglich. Seine Kontakte, sein Lebensstil, seine sexuellen Vorlieben. Einfach alles. Der Staatssicherheitsdienst hat ihn als Sympathisanten unserer Bewegung eingestuft und ihm Diplomatenstatus zuerkannt. Lützow sah ihn durchdringend an. „Sie wissen, was das bedeutet. Sollte er wichtigen Leuten aus unserer Bewegung begegnen – und davon gehen wir aus – erhält er Zugang zu Informationen, die als geheim eingestuft werden. Wenn er sich hier in Berlin also doch in irgendeiner Form nachrichtendienstlich betätigt, müssen wir das so bald wie möglich und unter allen Umständen erfahren… Haben wir uns verstanden?"

    „Bei allem Respekt, Gruppenführer, widersprach Auersperg entrüstet. „Für diese Aufgaben bin ich nicht ausgebildet, das sollte besser die Gestapo übernehmen.

    „Nein. Vorläufig nicht." Mit Missfallen registrierte der Gruppenführer die säuerliche Miene seines Untergebenen. „Sollte Conrad tatsächlich ein ausgebildeter Agent sein, würde er eine Beschattung bald merken. Das wollen wir vermeiden. Sie

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