Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Glücksträgerin
Glücksträgerin
Glücksträgerin
eBook294 Seiten3 Stunden

Glücksträgerin

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Nur noch wenige Wochen trennen Rita von der Zukunft, von der sie seit Jahren träumt. Dann endlich kann sie sich zu dem Mann bekennen, dem ihr Herz gehört und sich ihrer großen Leidenschaft, dem Schreiben, hingeben. Sie vertraut darauf, dass sie es schaffen wird, eine erfolgreiche Journalistin zu werden, denn das Glück scheint in ihr zu stecken bei allem, was sie anfängt.

Tom lebt im Innerquell Lodega, einem Ort, an dem das Glück der Menschen über allem anderen steht. Sich zwischen Lodega und der uns bekannten Welt hin und her zu bewegen ist für ihn so natürlich wie zu atmen. Als Bote des Glücks wird er ausgesandt, um die Geschicke der Menschen in die richtigen Bahnen zu lenken.

Das Schicksal will es, dass die Leben der beiden jungen Menschen miteinander verwoben werden. Nicht nur ihr eigenes Glück, sondern das aller Menschen, die ihnen wichtig sind, hängt mit einem Mal von ihrem Handeln ab. Womit keiner der beiden rechnet ist, dass ihre eigenen Gefühle den Lauf der Dinge entscheidend beeinflussen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum14. Juli 2021
ISBN9783347072350
Glücksträgerin

Ähnlich wie Glücksträgerin

Ähnliche E-Books

Fantasy für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Glücksträgerin

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Glücksträgerin - Anne Winter

    Teil 1

    Schon vor Sonnenaufgang war Daniel aufgebrochen. In einem großen Rucksack hatte er alles verstaut, was er für das Experiment brauchte: Distanzmessgerät, Kreide, sein Notizheft mit den letzten Aufzeichnungen und Berechnungen, eine wasserdichte Plane und natürlich das Prisma. Er hatte es sorgfältig in die Plane eingewickelt und sich beim Einpacken ungemein darüber gefreut, wie schön es geworden war.

    Noch vor einem halben Jahr war es nichts weiter gewesen als ein unförmiger, faustgroßer Klumpen Glimmerschiefer mit einer kleinen glatten, dunkelbraun glänzenden Fläche, die sich vom restlichen Stein abhob.

    Aufgrund seines Faibles für Mineralien hatte Daniel den Stein von einer Schülerin geschenkt bekommen.

    Als er mit dem Ärmel seines Sweatshirts über die glatte Stelle gerieben hatte um sie zu polieren, hatte er seinen Augen kaum getraut. Der Stein war durch die Reibung scheinbar zum Leben erwacht. In dem ursprünglichen Dunkelbraun erschien durch die streichenden Bewegungen mit dem Stoff ein kreisrunder, goldgelber Fleck, der sich wie eine im Stein erblühende Blume vor seinen Augen ausbreitete und kurz darauf wieder verschwand.

    Fast ehrfürchtig hatte Daniel den Vorgang mehrmals wiederholt, immer mit demselben faszinierenden Effekt.

    Die Magie des Steines hatte ihn im darauffolgenden halben Jahr nicht mehr losgelassen.

    Obwohl er über fundiertes Wissen in Gesteinskunde verfügte, hatte er von einer derartigen Reaktion noch nie gehört. Fasziniert hatte er sich in der darauffolgenden Zeit in Fachliteratur über Gesteine vertieft. Außerdem hatte er sich daran gemacht, den glänzenden Einschluss freizulegen.

    Schließlich hatte er herausgefunden, dass es sich bei diesem Stein um einen lapis dravus handeln musste.

    Beim Recherchieren im Internet war er außerdem auf Mythen gestoßen, die sich um diese Gesteinsart, die im Volksmund auch Dravit genannt wurde, rankten.

    Eine Legende erzählte, dass Dravit eine versteinerte Bestie sei, die alles gierig verschlang, was im Licht der Sonne schwitzte.

    In einem anderen Artikel hieß es wiederum, der lapis dravus sei der Schlüssel zum Glück.

    Auch wenn Daniel derartigen Geschichten anfangs nicht viel abgewinnen konnte, gefiel ihm doch die Vorstellung ein so geheimnisvolles Mineral zu besitzen.

    In mühevoller Kleinarbeit war es ihm gelungen, den Dravit vollkommen von dem umgebenden Glimmerschiefer zu befreien. Er war dunkelbraun und an manchen Stellen leicht transparent, sodass man in den Stein hineinblicken konnte. In einem bestimmten Lichteinfallswinkel glitzerte es unter der Oberfläche goldgelb.

    Nach und nach hatte Daniel zu seiner eigenen Verwunderung begriffen, dass in den Legenden doch ein Körnchen Wahrheit lag.

    Nun war er auf dem besten Weg, selbst Geschichte zu schreiben, und seine Geschichte würde eine Erfolgsstory werden.

    Gegen fünf Uhr früh brach er von zu Hause aus auf und erreichte genau zum Morgengrauen den Eingang zur Schlucht. Sie schlug eine lange, fast gerade Kerbe in das Gelände. Durch das starke Gefälle an beiden Seiten wirkten die steilen Wände beinahe bedrohlich, besonders am Eingang der Schlucht. Ein Bach preschte von Süden kommend durch die Schlucht, die hier über eine Länge von ungefähr eineinhalb Kilometern so eng war, dass das Wasser sie fast ganz ausfüllte und der Pfad an vielen Stellen über schmale Holzstege führte, die an der steil aufragenden Felswand befestigt waren.

    Ihm präsentierte sich hier ein Stück Wildnis nach nur einer halben Stunde Fußmarsch aus dem Zentrum von Vassalis, der Stadt in der er lebte und arbeitete.

    Das Rauschen des Baches wurde in gleichem Maße lauter wie das Tal enger wurde. Das Wasser schäumte und spritzte über Kaskaden aus riesigen Felsblöcken talauswärts.

    Obwohl er die Schlucht schon oft durchwandert hatte, war Daniel froh, dass es nicht mehr ganz finster war. Achtsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Er sog die kalte feuchte Luft ein. Sie roch modrig von dem nassen Moos, das die Wände teilweise bedeckte. Er konzentrierte sich ganz auf sich und war in Gedanken bei seinem Experiment.

    Als die ersten Sonnenstrahlen den oberen Bereich der Wand in freundliches Licht tauchten, war Daniel schon fast am innersten Punkt der Schlucht angelangt.

    Er blieb stehen und sah eine Weile zu, wie die steilen Wände zunehmend vom Tageslicht erhellt wurden. Das vom Tau und der feuchten Luft nasse Moos funkelte in den ersten Sonnenstrahlen.

    Ihm blieb genügend Zeit, die richtige Position für das Prisma zu bestimmen. Er bestimmte den Abstand zur Wand, markierte die ausgemessene Stelle und machte sich daran, alle notwendigen Utensilien auszupacken.

    Plötzlich hörte er Schritte in seiner unmittelbaren Nähe. Er schrak auf und blickte geradewegs in die Augen eines sehr jungen Mannes. Dem stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Auch er hatte offenbar nicht damit gerechnet zu so früher Stunde hier jemanden anzutreffen.

    Im Vorbeigehen stopfte der unbekannte junge Mann einen nassen Regenschirm, den er zuvor abgeschüttelt hatte, in einen Schulrucksack.

    Abschätzend musterte Daniel den Fremden. Mehrere Fragen huschten durch seinen Kopf. Wofür brauchte er den Regenschirm, wo doch seit Tagen trockenes Wetter herrschte? Der Bach war hier nicht begehbar. Wo kam der Typ her? Was machte er um diese Zeit hier? Abgesehen von dem Schulrucksack hatte er nicht viel bei sich, nur eine blitzblaue sportliche Bauchtasche, aus der die Ohrenstöpsel eines Musikabspielgerätes heraushingen. Wie konnte es sein, dass sie einander nicht früher gehört hatten? Es gab nur den einen Weg in die Schlucht, den Daniel genommen hatte.

    Daniel spürte auch, wie sich Ärger in ihm ausbreitete.

    Er hatte bei seinem Experiment ungestört sein wollen. Es war zu früh, um irgendjemandem davon zu erzählen. Der Junge war – absichtlich oder nicht – in etwas hineingeplatzt, was Daniel vorerst ganz für sich allein haben wollte.

    Doch zu seiner Erleichterung schenkte der Fremde den aufgelegten Gerätschaften und Daniel keine Aufmerksamkeit, sondern er grüßte nur schnell und machte sich eilig davon talauswärts.

    Beruhigt setzte Daniel seine Arbeit fort.

    Er zeichnete mit Kreide einen schraffierten Kreis auf den nassen Felswächter, einen großen Stein, der seinen Namen seiner ausgesetzten Position am Ende der Schlucht und seiner Form verdankte. Mit etwas Vorstellungskraft sah der Fels wie der Oberkörper eines dicken faltigen Mannes aus. Über sein Haupt ergoss sich in wiederkehrenden Intervallen Wasser, das durch ein Loch im Inneren des Felsens nach oben gespült wurde.

    In wenigen Minuten würde die Sonne hoch genug stehen, um das Prisma in Daniels Hand zu beleuchten.

    Immer wieder drehte er sich um und versicherte sich, dass er ungestört war. Der Junge war schon weit entfernt und schaute sich nicht um. Daniel konnte ihn zwischen den Felswänden kaum noch erkennen. Nur seine Bauchtasche war noch als leuchtender blauer Fleck auszumachen.

    Daniel streckte die Hand, auf der das Prisma lag, aus. Die Sonnenstrahlen trafen darauf. Konzentriert und gespannt drehte er das Prisma in die Position, die es seinen Berechnungen zufolge einnehmen musste.

    Für einen Sekundenbruchteil reflektierte das Prisma einen Lichtkegel auf den Felswächter.

    Daniel bebte vor Aufregung, gewann aber schnell wieder die Kontrolle über seine Bewegungen. Mit ruhigen Händen neigte er das Prisma erneut kaum merklich in seiner Hand.

    Plötzlich erschien ein großer rechteckiger Lichtfleck auf dem Felsblock. Vor Daniels Augen begann der beleuchtete Teil des Felsens zu flimmern.

    Daniel zwinkerte, versuchte das Bild, das sich ihm darbot, scharfzustellen. Doch der Effekt verstärkte sich weiter.

    Gebannt hielt er den Atem an. Während sich die Luft um ihn herum vor Spannung verdichtete, löste sich die Wand exakt an der beschienenen Stelle in Nichts auf. Von seiner Markierung war nichts mehr zu sehen. Kein Steinchen oder auch nur Staubkorn wies darauf hin, dass der Felswächter noch vor wenigen Augenblicken eine andere Form gehabt hatte.

    Daniel ballte seine freie Hand zur Faust und jubelte leise. Es funktionierte! Er hatte es geschafft!

    ° ° ° ° °

    Triumphierend rieb sich Philipp die Hände. Er hatte einfach einen guten Riecher.

    Die Position, die er mittlerweile innehatte, verlangte längst nicht mehr, dass er selbst Arbeiten wie diese verrichtete. Es gab genügend Handlanger, die nach seiner Pfeife tanzten. Dass er bei diesem Daniel so einen Volltreffer landen würde, überstieg seine kühnsten Vorstellungen.

    Philipp war Daniel an diesem Tag in aller Früh in sicherem Abstand und leise wie eine Raubkatze in die Schlucht gefolgt.

    Den Anfang hatte die Geschichte eigentlich in den Wochen zuvor genommen.

    Daniel Bauer war Philipp nämlich schon wiederholt im Wendelgebirge begegnet, wo er auf der Suche nach besonderen Steinen viel Zeit zu verbringen schien.

    Auch Philipp trieb sich oft dort herum, da sich die Erdpforte am Fuße dieses Gebirges befand.

    Die Erdpforte war das Tor zwischen dem Innerquell Asoka, in dem er lebte, und der Welt.

    Philipp hatte ein Gedächtnis wie ein Elefant, wenn es um Gesichter ging. Er wusste immer, ob, wann und wo er jemanden schon einmal gesehen hatte. Als er am Vortag aus der Erdpforte gekommen war, hatte es nur wenige Sekunden gedauert, und Daniel Bauer war in der 5. Kehre des Zickzacksteiges aufgetaucht.

    Um ein Haar hätte er Philipp aus der Pforte kommen sehen. Philipp hatte sich im ersten Moment überrumpelt gefühlt und Daniel argwöhnisch angeschaut. Seine Befürchtungen, ertappt worden zu sein erwiesen sich aber als unnötig. Sein Gegenüber war gedanklich ganz auf einen Stein in seiner Hand konzentriert gewesen.

    Als Philipps Blick darauf gefallen war, hatte Daniel den Stein so gut es ging mit seinen Händen bedeckt. Doch der eine Blick hatte gereicht und Philipps Neugier war geweckt gewesen.

    Er hätte gern mehr gesehen und erfahren. Daniel aber war zügig an ihm vorbeimarschiert und hatte ihm so unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er nicht an einer Unterhaltung interessiert war.

    Philipp hatte beschlossen, dieser zufälligen Begegnung weitere folgen zu lassen, bei denen er sich vorerst verdeckt halten würde.

    Und so war es gekommen, dass er Daniels Wohnung über Nacht beschattet hatte und ihm gefolgt war, als er in der Morgendämmerung das Haus verlassen hatte.

    Das, was Daniel Bauer nun gerade vor Philipps Augen vollbracht hatte, eröffnete neue Dimensionen.

    Doch nun galt es keine weitere Zeit zu verlieren. Philipp wollte wissen, was der Junge vorhatte, der talauswärts unterwegs war. Auch sein Gesicht war in Philipps Gedächtnis nur zu gut verankert.

    ° ° ° ° °

    Tagesrundschau, 20. Mai

    Ehepaar aus Vassalis vermisst

    Petram. Am Samstag gegen sechs Uhr früh brachen Helene (28) und Oliver (26) Fercher aus Vassalis zu einer Wanderung auf die Bettelwurfhütte im Vassalistal auf. Sie führten ihren Hund, einen Labrador, mit sich.

    Nachdem sie ihr Auto am Parkplatz des Taleinganges geparkt hatten, überquerten sie gemeinsam mit zwei jungen Wanderern aus der Schweiz die Fußgängerbrücke, die unmittelbar an den Parkplatz anschließt. Die Schweizer hatten das gleiche Ziel, stiegen aber über das Lafatscher Joch auf. Das Ehepaar aus Vassalis hatte sich für die Route über den Zickzacksteig entschieden.

    Die Wanderer vereinbarten ein Treffen auf der Bettelwurfhütte am späten Vormittag. Dieses Treffen kam jedoch nicht zu Stande, da das Ehepaar aus Vassalis nicht in der Hütte erschien. Nachdem die Schweizer Wanderer bis ein Uhr gewartet hatten, machten sie sich über den Zickzacksteig auf den Rückweg. Im Bereich der fünften Kehre trafen sie auf den Hund des Ehepaares aus Vassalis, der abwechselnd heftig bellte, winselte und an einem mehrere Meter hohen Felsen kratzte.

    Besorgt suchten sie das Gelände rundherum nach den Wanderern ab, jedoch erfolglos.

    Nachdem sie das Auto am Parkplatz vorfanden, alarmierten sie schließlich die Polizei.

    Eine groß angelegte Suchaktion von Polizei und Bergrettung ist derzeit im Gange, von den Vermissten fehlt jedoch jede Spur.

    ° ° ° ° °

    Tom näherte sich der Klassentür leise und blieb unmittelbar davor stehen.

    Sein Auftrag war für ihn gleichermaßen ungewöhnlich wie unklar. Er lautete: Gewinne Rita Gärtner als Komplizin.

    Doch als Komplizin wofür? Normalerweise war es seine Aufgabe, Menschen zu Lebensglück zu verhelfen.

    Er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen, warum er als Glücksritter eines Innerquells eine Weltbürgerin als Komplizin anwerben sollte.

    Doch das pure Glück, die Oberste seines Innerquells, vertraute auf seine Zuverlässigkeit, und hatte ihn für weitere Informationen auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet.

    Während er sein Äußeres kurz prüfte und seine Bauchtasche im Rucksack verstaute spulte er die Geschichte, die er sich zurechtgelegt hatte, nochmals im Schnell-durchlauf gedanklich ab:

    Er kam ursprünglich aus Lodega, einem kleinen Ort in der Nähe Roms. Seine Mutter war Österreicherin, sein Vater war gebürtiger Amerikaner. Er war mehrsprachig aufgewachsen und hatte zuletzt in Wien das Oberstufenrealgymnasium besucht. Seine Mutter war vor drei Jahren gestorben, damals hatte er in Betracht gezogen, die Schule abzubrechen und sich in dem einen und anderen Job versucht. Schließlich hatte er sich doch entschieden weiterzumachen und ein Schuljahr wiederholt. Sein Vater war geschäftlich meistens im Ausland unterwegs. Seine Großmutter wohnte hier in Vassalis. Aus familiären Gründen sei er jetzt, da er volljährig war, hierher gezogen.

    Tom hob die Hand und klopfte. Die Stimmen, die er durch die Tür leise vernommen hatte, verstummten, und wenige Augenblicke darauf öffnete ein junger, sportlicher Lehrer die Tür.

    Überrascht stellte Tom fest, dass vor ihm derselbe Mann stand, der ihn heute in aller Früh in der Schlucht aus der Wasserpforte kommen gesehen hatte.

    Der verblüffte Blick seines Gegenübers verriet ihm, dass auch er ihn sofort wiedererkannt hatte.

    „Hallo! Du bist Tom Russel, nicht wahr?" Tom nickte, und der Lehrer streckte ihm die Hand zum Gruß entgegen und stellte sich als Daniel Bauer vor.

    Wie Tom es sich erhofft hatte, waren die Schüler schon auf seine Ankunft vorbereitet worden. Ein Platz ganz hinten in der Mitte war bereits für ihn hergerichtet.

    Erleichtert, dass alles wie geplant lief, setzte er sich und stellte sich vor. Dabei waren alle Augen auf ihn geheftet.

    Er ließ seinen Blick durch die Gruppe der nur wenige Jahre jüngeren Schülerinnen und Schüler schweifen auf der Suche nach Rita Gärtner.

    Ihre Blicke trafen sich. Für einen Moment gab es nichts außer ihrer Gegenwart.

    Nachdem er seine kurze Geschichte erzählt hatte, ergriff Daniel wieder das Wort. Mit einem freundlichen Nicken in Toms Richtung knüpfte er wieder an das Thema an, über das sie vor Toms Eintreffen gesprochen hatten.

    Tom hatte sich im Vorfeld über Rita informiert.

    Da sie für die Schülerzeitung schrieb, hatte er Berichte von ihr gelesen. Er wusste von dem kleinen Porträtfoto, das am Anfang dieser Artikel abgedruckt war, wie sie aussah.

    In sozialen Netzwerken im Internet war sie nicht zu finden gewesen, aber glücklicherweise hatten ihn seine Nachforschungen auf der Schulhomepage weitergebracht.

    Sämtliche Schülerzeitungen der letzten fünf Jahre waren dort im Archiv abrufbar. Rita schrieb seit der dritten Klasse für die Zeitung. In jeder der dreimal im Jahr erscheinenden Ausgaben fanden sich Artikel von ihr über geologische Forschungsprojekte, an denen Schüler ihrer Schule arbeiteten.

    Wie Tom aus den Artikeln erfahren hatte, arbeiteten alljährlich Schüler der 3. Klassen im Rahmen ihres Ausbildungsschwerpunktes „Ökologie des Alpenraumes" an Projekten, die sich mit dem Aufbau und der Beschaffenheit der Umwelt im Alpenraum befassten.

    Angeleitet und betreut wurden die Schüler dabei von ihrem Lehrer Daniel Bauer.

    Rita Gärtner dokumentierte die Ergebnisse und präsentierte sie in der Schülerzeitung allen Lesern.

    Tom war aufgefallen, wie wertschätzend sie die Arbeit der Schüler beschrieb. Sie hatte eine humor- und liebevolle Art, Misserfolge, Sackgassen und Pannen bei der Forschungsarbeit zu beschreiben. Ihre Artikel waren informativ und zugleich unterhaltsam, und Tom hatte sich schon beim Lesen darauf gefreut, sie kennenzulernen.

    Rita saß von ihm aus gesehen vorne links, direkt beim Lehrerpult. Sie hatte ihren Blick nach vorne in die Mitte gerichtet, wo Daniel Bauer stand.

    Tom betrachtete ihr Profil. Ein Prickeln breitete sich in ihm aus.

    Sie war schön. Ihr dunkelbraunes Haar war locker im Nacken zusammengebunden und fiel wellig weit über den Rücken hinab. Ihre graublauen Augen wirkten durch die vollen Brauen dunkel, zumal ihre Haut klar und sehr hell war. Die vollen, roten Lippen zogen seinen Blick magisch an.

    Als hätte sie es gespürt, drehte sie ihren Kopf und schaute ihn an.

    ° ° ° ° °

    Ein heißer Blitz durchfuhr Rita ausgehend von ihrem Herzen, das mit einem Mal wie wild hämmerte. Sie spürte, wie sie rot wurde und drehte sich schnell wieder nach vorn.

    Ihre Hände begannen zu schwitzen und sie registrierte jede kleinste Regung ihres Körpers bewusst.

    Sie versuchte still zu sitzen, sich ganz normal auf den Unterricht zu konzentrieren. Plötzlich fühlte sie sich sehr unwohl auf ihrem Platz, irgendwie im Mittelpunkt einer Szene, die sie aus dem Nichts überrascht hatte.

    Kurz flammte schlechtes Gewissen gegenüber Daniel in ihr auf, für das sie sich in Gedanken selbst schalt.

    Zu allem Überfluss richtete Daniel mit fragendem Blick das Wort an sie: „Alles in Ordnung, Rita?" Rita zuckte zusammen. Die Situation war ihr peinlich, und sie wollte im Moment nur eines: fliehen.

    „Ehrlich gesagt ist mir ziemlich schwindlig. Kann ich kurz nach draußen gehen?", fragte sie deshalb kurzerhand.

    „Natürlich, stimmte Daniel mit besorgtem Ausdruck zu, „aber jemand soll dich begleiten!

    Als sich nun Tom erhob, und fragte, ob er mitgehen könne, weil er ohnehin noch den Schulwart wegen der Zuteilung eines Spinds antreffen wolle, klappte Rita die Kinnlade herunter. Restlos alle Augen wanderten verwundert zu Tom.

    Auch Daniel war sichtlich irritiert, stimmte aber zu. Rita setzte sich mechanisch in Bewegung.

    Als sie im Gang war, drehte sie sich zu Tom um, der gerade die Klassentür hinter sich schloss.

    Etwas verlegen bedankte sie sich und versicherte ihm, dass es ihr nicht ganz so schlecht gehe und sie einfach nur ein bisschen frische Luft schnappen wolle. Ihr entging dabei nicht sein Blick, in dem keine Spur von Besorgnis zu sehen war. Ganz im Gegenteil, ein verschmitztes Lächeln umspielte seine Lippen.

    „Dann begleite ich dich nach draußen", beschloss Tom und war schon ein paar Schritte vorausgegangen, um ihr die Glastür zum Stiegenhaus aufzuhalten.

    Rita knüpfte an Toms Erzählung im Klassenzimmer an und fing ein belangloses Gespräch über Wien an.

    Sie gingen beim Haupttor hinaus und setzten sich ohne ihr Gespräch zu unterbrechen wie selbstverständlich auf die Mauer bei den Fahrradständern, die den Zugang zur Schule wie eine Allee säumten und eine willkommene Sitzgelegenheit boten.

    Irgendwie hatte sich die Unterhaltung gedreht, und Rita war dabei, Tom von sich zu erzählen.

    Unweigerlich kam sie auch darauf zu sprechen, dass sie ihre Mutter und ihre ältere Halbschwester bei einem Flugzeugunglück verloren hatte.

    Tom hörte ihr einfach zu, stellte keine Fragen, schenkte ihr kein Mitleid. Er schaute sie einfach an und nickte hie und da. Sie war dankbar, dass er ihr sein Entsetzen ersparte und sie nicht dazu zwang, Worte für eine so große Leere zu finden.

    Die Zeit hatte ihr geholfen, ihr Herz wieder mit Freude zu füllen, und so erzählte sie auch von ihrer Schreibtätigkeit, ihrer Schwäche für Souvenirs und ihrer innig geliebten und zugleich einzigen sportlichen Aktivität, dem Laufen. Sie genoss seine Aufmerksamkeit und fühlte sich auch wohl, als sie beide schließlich schwiegen.

    Toms Beine baumelten einen halben Meter über dem Boden. Er hatte sein Gesicht der Sonne zugewandt und die Augen geschlossen.

    Rita nutzte diese Gelegenheit, um ihn genau zu betrachten. Seine Größe ließ ihn sehr schlank erscheinen. Die sehnigen Arme, die er gerade locker auf der Mauer abstützte, waren braun und fein behaart. Ritas Blick glitt zu seinem Gesicht.

    „Er gefällt mir besser als Daniel", dachte sie und wunderte sich im gleichen Moment darüber, dass sie diesen Vergleich anstellte.

    Beim Anblick seines leicht geschlossenen Augenlids spürte sie ein sanftes Kribbeln im Inneren ihrer Brust aufsteigen. Sie stellte sich vor, ihm sanft mit ihrem Mund über die Wange zu streichen und ihn zu küssen. Sie spürte das Verlangen, ihre Hände in seinen halblangen, goldbraunen Haaren zu vergraben.

    In diesem Moment öffnete er die Augen, blinzelte und strahlte sie dann an, als ob die Sonne ihre Leuchtkraft direkt in seine grünblauen Augen gelegt hätte.

    „Wie geht es dir jetzt eigentlich? Ist dir immer noch schwindlig?"

    Rita schüttelte schnell den

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1