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Das Ostland-Protokoll
Das Ostland-Protokoll
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eBook352 Seiten4 Stunden

Das Ostland-Protokoll

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Über dieses E-Book

Sturmbannführer Reuter ist als Kriminalbeamter nur ungern in die SS eingetreten, aber ihm blieb im Grunde keine Wahl. Aus demselben Grund wurde er auch fern der Heimat in die Ostgebiete versetzt, wo er nun als Bezirksleiter Akten wälzt, statt Verbrecher zu jagen. Da kommt ihm ein uralter Fall unter, der möglicherweise doch noch nicht abgeschlossen ist, wie es aus Berlin mit Nachdruck behauptet wird. Bei seinen Recherchen stößt er auf ein unglaubliches Verbrechen, das möglicherweise die Grundlage für den Sieg Nazideutschlands im 2. Weltkrieg war und ohne das es im Jahre 1980 kein Drittes Reich mehr gäbe. Es gibt einige sehr einflussreiche Leute in der Partei, die nicht begeistert von dem Gedanken sind, dass der Fall wieder ans Licht gezerrt wird … In dieser alternativen Realität, in der die Sowjets geschlagen wurden und sich die übrigen Alliierten mit Deutschland arrangierten, ist das Dritte Reich Alltag, aber auch 40 Jahre später noch kein Zuckerschlecken, wie der engagierte Kriminalist feststellen muss, als er sich völlig unerwartet in der Rolle des Gejagten wiederfindet und seine Vorgesetzten von SS und GeStaPo zu altbewährten Mitteln greifen ... Ein abenteuerliches Krimispektakel der besonderen Art und äußerst durchdacht konstruiert.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum27. Nov. 2015
ISBN9783732376520
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    Buchvorschau

    Das Ostland-Protokoll - Lutz von Peter

    UN

    1993, Marseille, Vieux Port

    Die Lage war sicher das Beste an dem Café. Von morgens früh schien die Sonne über die weite Fläche des Vieux Port und die angrenzenden Straßen und den Platz, auch auf diese Terrasse aus weißem Kalkstein, tauchte die eisernen Bistrotische und -stühle in ein schmeichelndes honigzähes Licht. Wem das trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit zu warm war, der konnte sich an eines der Tischchen unter den Arkaden in den Halbschatten setzen, der dort dank der Reflexion des Lichtes auf dem hellen Boden herrschte.

    Der Kellner bemerkte, dass der Mann wieder in der ersten Tischreihe nahe der Straße saß, an seinem Stammplatz, wie immer, wenn das Licht des Tages von Gelb in Orange überwechselte. Nicht jeden Tag, oft während ein oder zwei Wochen nicht, aber immer um dieselbe Tageszeit. Der Kellner servierte ihm unaufgefordert einen Espresso und ein Glas Cognac. »Bonjour, Monsieur, vous allez bien?«, fragte er unverbindlich.

    »Très bien, merci.« Kaum ein Akzent, wo mochte er her sein?

    Der Mann riss seinen Blick widerwillig von den orange erglühenden Fassaden auf der Gegenseite des Hafens los, schaute zu dem Kellner auf und lächelte leicht. Dann eilte sein Blick den Reihen der Tische entlang, durch die Arkaden, über die Straße, dem Rand des Hafenbeckens folgend, um schließlich wieder auf den Fassaden der Häuser des Rive Neuve liegen zu bleiben.

    Der Kellner kannte diesen Rundumblick nur zu gut. Marseille war eben Marseille, in der Zone gab es mehr als genug Menschen, die Grund zur Vorsicht hatten. Hier war die Geste dennoch ungewöhnlich, dafür lag das Café zu sehr wie auf einem Präsentierteller.

    »Bringen Sie mir doch bitte Streichhölzer.« Der Mann hatte eine Packung Rothändle auf den Tisch gelegt und blickte wieder auf.

    »Sofort, der Herr.«

    Rothändle. Vielleicht Deutscher? Aber kein Akzent. Außerdem die dunklen Haare und Haut, eher wie einer von hier, auch die scharfen Züge, die dunklen, fast schwarzen Augen und der drahtig-mittelgroße Körperbau. Dagegen sprachen aber die Haltung, die Festigkeit der Gesten und die Autorität, die von ihm ausging. Irgendwie wirkte der Mann befehlsgewohnt. Es war nicht seine Gestalt, sondern wie er sprach, wie er einen ansah, wie er sich bewegte. Ja, befehlsgewohnt, das war es wohl. Er nannte den Unbekannten für sich Capitaine, den Hauptmann; nein, der war keiner aus dem Midi, wohl auch kein Franzose. Er wurde aus dem Mann einfach nicht schlau.

    Genüsslich und nebensächlich, wie es nur langjährige Raucher tun, sog Capitaine den scharfen Rauch der Zigarette in die Lungen, verharrte kurz und ließ dann eine weißliche Wolke ins orange Licht entschweben. Für ihn schien sich die ganze Welt auf das Rauchen, einen gelegentlichen Schluck Cognac oder Kaffee und das Spiel der Farben im Hafenbecken und auf den Fassaden reduziert zu haben. Sein Gesicht dem Wasser zugewandt, bequem im Stuhl zurückgelehnt und dennoch aufrecht, schien er vollständig gefangen zu sein. Nur seine Augen, die sich von Zeit zu Zeit ein neues Ziel suchten, die Zigarette, die er gelegentlich ausdrückte und ohne hinzusehen eine Neue ansteckte, ließen erkennen, dass es sich bei ihm um keine Schaufensterpuppe handelte.

    Die Dunkelheit senkte sich langsam herab, das Orange wich immer dunkleren Blautönen. Die ersten Straßenlaternen flammten auf und Capitaine schien wie aus einem langen, tiefen Schlaf zu erwachen; sah sich um, nahm das Getriebe der Menschen an den Nachbartischen und auf der Straße wenige Schritte vor ihm wahr. Die nachmittäglichen Pastis- und Kaffeetrinker nebst Familien waren einer abendlichen Klientel gewichen, die zu einem Aperitif vor dem Essen vorbeischauten. Alle Tische schienen nun besetzt zu sein und es erstaunte ihn, die Gespräche der Umsitzenden bisher nicht gehört zu haben.

    »Entschuldigen Sie bitte.«

    Er drehte sich nach der Stimme mit leicht maghrebinischem Anklang um. Ein Geschäftsmann in mittleren Jahren, leichter Bauch, hoher Haaransatz …

    »Ich sehe, Sie rauchen Rothändle

    Der Capitaine nickte.

    »Ich habe lange keine mehr geraucht. Dürfte ich …?«

    Wortlos nahm Capitaine seine Packung vom Tisch, klopfte einige Zigaretten hervor und hielt seinem Gegenüber die Packung auffordernd hin. Die Zigarettenmarke war in Frankreich und der Zone nicht frei verkäuflich, aber man konnte sie sich besorgen. Capitaine fragte sich, was der Fremde von ihm wollte.

    Der nahm sich eine heraus, steckte sie an und sog genießerisch den Rauch ein. »Hmmm, nicht übel, gar nicht übel.« Er betrachtete die brennende Zigarette prüfend und lachte. »Und uns machen sie weis, die Deutschen könnten keinen Tabak anbauen. Darf ich Ihnen eine von meinen …?« Er hielt Capitaine eine leicht zerknautschte Packung mit arabischer Aufschrift hin. »Bitteschön …«

    Der besah sich die Zigaretten, lächelte erneut kurz und lehnte dann dankend ab. Kurz darauf legte er einen Zweimarkschein auf den Tisch, erhob sich und ging den Quai entlang Richtung Canebière, wo er im abendlichen Gewühl verschwand.

    ***

    Capitaine beobachtete scharf die Figur, die den Quai entlang auf das Café zusteuerte. Woher kannte er den Mann? Wo hatte er ihn bereits gesehen? Wurde er beschattet? Hatten sie ihn wieder zu suchen begonnen? Möglich war es schon. Hatten sie nie aufgehört ihn zu suchen und ihn erst jetzt, nach all den Jahren gefunden? Sie hatten gesagt, sie würden ihn in Ruhe lassen, aber wer wusste schon, ob sie Wort halten würden. Sie schreckten vor nichts zurück; was konnte ihnen also schon ein gegebenes Wort bedeuten, wenn die Vereinbarung ihnen lästig wurde? Dennoch … es war eigentlich nicht wahrscheinlich, nicht nach zehn Jahren. Aber man wusste nie … Unauffällig drehte Capitaine sich seitlich, bis er den Durchgang zwischen dem Haus des Cafés und dem Nachbarhaus sehen konnte. Wenn er aufstand, würden ihn die Blumenkübel mit den Bougainvilleen decken, bis er unter dem Gewölbe der Arkaden war, von dort einen Sprung und er wäre im schmalen Durchgang zwischen den Häusern. Von einer Erkundungstour vor langer Zeit wusste er, dass der Durchgang auf einen winzigen Platz führte, von dem vier oder fünf Sträßchen abgingen, die sich alle kurz darauf verzweigten und irgendwo im Gewirr des alten Hafenviertels verloren. Es war der perfekte Fluchtweg für alle Fälle. – Er hatte diesen Tisch vor langer Zeit ausgewählt wegen der schönen Sicht auf den Rive Neuve und wegen des Fluchtweges. Der Durchgang zwischen den Häusern war frei und auch der Weg an den Blumenkübeln entlang bis dorthin war nicht verstellt.

    Er drehte sich wieder dem Ankömmling zu.

    Er kannte den Kerl, aber irgendwie war es keine bedrohliche Erinnerung. Immer noch schrillte die Alarmglocke in seinem Kopf, die jedes Mal, wenn er eine Person erkannte, sie aber nicht sofort zuordnen konnte, ansprang. Aber das war seit Jahren so, eine Gewohnheit. Er würde sich sicher bis ans Ende seines Lebens vorsehen müssen; die Vorsicht war ihm einfach in Fleisch und Blut übergegangen. Aber irgendwie war sich Capitaine sicher, dass, wenn der Ankömmling wirklich gefährlich gewesen wäre, sein Instinkt ihn wesentlich deutlicher gewarnt hätte.

    Der Mann steuerte auf den nächsten Tisch zu, setzte sich und grüßte freundlich herüber. Notgedrungen nickte Capitaine mit dem Kopf. Erst als der andere eine zerknautschte Zigarettenpackung vor sich auf den Tisch legte, fiel bei Capitaine der Groschen: der Zigarettenfrager! Unmerklich entspannte er sich. So plump würden weder die SS noch der Geheimdienst vorgehen. Er entspannte sich etwas und gestattet sich ein Lächeln in Richtung des Mannes.

    Der fühlte sich dadurch ermutigt: »Das ist einer der schönsten Plätze in der Zone, um das Herbstlicht zu genießen.«

    Capitaine machte ein zustimmendes Geräusch.

    »Wir haben uns schon vor einer Woche mal gesehn, oder? Sie haben mir eine Zigarette angeboten.«

    Du hast mich danach gefragt, dachte Capitaine und nickte nur kurz.

    »Kennen Sie Marseille gut?«

    Capitaine fühlte sich nun verpflichtet zumindest eine Kleinigkeit zur Unterhaltung beizutragen: »Ich bin regelmäßig hier, aber kennen …«, er ließ den Satzfetzen in der Luft hängen, »… kennen tut man diese Stadt letztendlich wohl nie so ganz.«

    Das Schweigen sank wieder zwischen ihnen herab.

    »Sie sprechen ein exzellentes Französisch.« Es war, als wäre dem anderen die Stille unangenehm.

    »Danke, man schlägt sich so durch.«

    Man sah dem Mann an, dass er nur ungern auf eine genauere Antwort verzichtete; aber sogar redselige Naturen merken, wenn das Gegenüber keine Auskunft geben will. Das Schweigen zwischen ihnen trug den Sieg davon.

    DEUX

    Es war kühler geworden, regnerisch und gelegentlich trübe. Die große Masse der Touristen blieb aus, Sommerzeit war Urlaubszeit im Süden. Immer wieder gab es Tage, an denen es gerade warm genug gewesen wäre, auf der Terrasse zu sitzen, sodass der Kellner mit dem Gedanken spielte, die Tische und Stühle wieder hinauszutragen. Aber es war eben nur gerade so eben warm genug, nicht so, dass man sich voller Vorfreude auf die Terrasse setzte und dort nicht mehr wegkam. Es wäre eher so gewesen, als habe man sich vorgenommen seinen Kaffee draußen zu trinken und müsse das nun auch erledigen.

    Die meisten Kunden die herkamen, kamen wegen der Terrasse. Der Plüsch-und-Plunder-Salon, das eigentliche Café, zog wesentlich weniger Menschen an und so war die Wintersaison eher ruhig. Wer mit eherner Regelmäßigkeit kam, war der Capitaine, und in letzter Zeit auch vermehrt sein neuer Freund, der Maghrebiner. Im Laufe des Spätsommers und Herbstes hatten sie immer wieder zufällig nebeneinandergesessen, hatten begonnen sich zu grüßen und von Tisch zu Tisch gelegentlich eine Unterhaltung zu führen. Capitaine hatte sogar irgendwann eine Zigarette vom Maghrebiner ausprobiert. Es war allerdings bei diesem einen Mal geblieben. Es hatte sich Mitte November für zwei oder drei Wochen eine Art Trennung ergeben, als der Maghrebiner wegen der Witterung ein Tischchen im Café wählte, der Capitaine dagegen lieber unter den Arkaden saß. Aber seither saßen sie beide drinnen, natürlich an verschiedenen Tischen. Aber der Kellner hatte bemerkt, dass die beiden aufeinander warteten, dass sie nervös wurden, wenn der andere einmal ein paar Tage zu lange nicht im Café erschien.

    Ihre Unterhaltungen hatten unverfänglich angefangen. Die Zigaretten, das war der erste Aufhänger gewesen. Das Wetter, natürlich. Die Gerüchte in der Freihandelszone Marseille und was sich drüben in Frankreich ereignete. Sie entdeckten mit Vergnügen ein gemeinsames Interesse für Gegenwartsgeschichte und sprachen ausführlich über die Unruhen im Nahen Osten, die politisch wechselhafte Situation in der République du Grand Maghreb.

    Bei dieser Gelegenheit war der Maghrebiner aufgeblüht und hatte lebhaft von seiner Jugend in einem Dorf im Atlas erzählt. Von den legendären Räuberbanden in den unwegsamen Bergen hatte er gesprochen, mit leuchtenden Augen von den Sagengestalten und der an Helden reichen Geschichte seines Landes.

    Mit großer Erbitterung hatte er von den Mächtigen seines Landes gesprochen, die schon immer Französisch gesprochen hatten. Von diesen Verrätern an ihrem eigenen Volk, die die Interessen ihres Volkes an Frankreich verraten hatten, als Frankreich eine Weltmacht war. Von diesen Verrätern, die den letzten Träumern und Kriegstreibern Asyl und Unterschlupf gewährten, die noch von Frankreich als der Grande Nation träumten; die ihr Land zugrunde richteten in einem einzigartig dummen Gegenentwurf zur großdeutschen Wohlstandssphäre, dieser idiotischen République du Grand Maghreb, und die nach über vierzig Jahren weder ihr neues Reich befrieden noch es beruhigen noch wenigstens für bescheidenen Wohlstand sorgen konnten.

    »Gehen Sie da nicht ein wenig weit?«, warf Capitaine an dieser Stelle ein. »Es war doch keine Absicht der Regierung von Grand Maghreb, diese ganzen verrückten Freischärler, France-libre-Verbände und wie sie alle hießen, nach Grand Maghreb …«

    »Keine Absicht?«, fuhr der Maghrebiner auf, »keine Absicht? Was war daran keine Absicht?«

    »Nun ja …« Capitaine hatte sichtlich eine solche Reaktion nicht erwartet. »Die Gründung von Grand Maghreb …«

    »Die Gründung von Grand Maghreb war ein Verbrechen!«, schrie der Maghrebiner und knalle seine Faust auf den Tisch.

    Er sprang auf. Die Fäuste auf den Tisch gestemmt, das Kinn aggressiv vorgereckt, stand er vorgebeugt da, funkelte Capitaine herausfordernd an und atmete schwer. Der Kellner, der sich bei ihren Unterhaltungen stets im Hintergrund gehalten hatte, war besorgt nähergetreten.

    Der Maghrebiner ließ sich schwer auf seinen Sitz fallen.

    Betont ruhig forderte Capitaine ihn auf: »Erzählen Sie es mir.«

    Der andere fuhr sich über die Stirn und schloss kurz die Augen. »Entschuldigen Sie. Es werden so viele Unwahrheiten erzählt, dass mir jedes Mal der Kragen platzt.«

    »Erzählen Sie es mir«, wiederholte Capitaine ruhig.

    »Ich habe ihnen erzählt, dass ich in einem Dorf im Atlas aufgewachsen bin«, sagte der Maghrebiner schließlich.

    Capitaine nickte.

    »Vielleicht sollte man es eine kleine Stadt nennen. Wir waren für die Verwaltung und die Steuereinnahmen des Städtchens und einer Handvoll Dörfer verantwortlich. Meine Familie stellte seit Generationen den Bürgermeister. Es war kein offizielles Bürgermeisteramt, eher eine Art erbliche Führerstellung, es war einfach meine Familie, die bestimmte was geschah. Zu uns kamen die Leute, wenn sie Rat brauchten, eine Entscheidung bei einem Streit zwischen Nachbarn, oder wenn sie Geld benötigten. Wir waren dem Statthalter in der nächstgrößeren Stadt verantwortlich dafür, dass Steuern und andere Abgaben eingetrieben wurden und dass es in unserem Bezirk ruhig blieb.

    Damit waren wir für unsere Stadt und die umliegenden Dörfer die Herren. Natürlich sprachen wir Französisch zu Hause, wir waren schließlich eine gute Familie. Aber wir sprachen auch Berbère und natürlich Arabisch.« Er verstummte. »Ich glaube nicht, dass unsere Leute, wenn sie es gekonnt hätten, jemand anderes zu ihrem Führer gemacht hätten. Wir waren die Herrschaft«, stellte er fest und fügte dann etwas trotzig hinzu: »So war das eben.« Er verstummte erneut. »Verstehen Sie mich nicht falsch: Wir sprachen Französisch, meine Brüder und ich gingen auf das französische Gymnasium in Tanger. Wir kannten die französische Kultur von frühster Kindheit an, schätzten sie auch, im Gegensatz zu unseren Leuten in der Stadt und den Dörfern. Aber es war nicht unsere Kultur. Wir waren Marokkaner, wir hatten unsere eigene Kultur. Wir kannten viele Pieds noirs«, er sah den verständnislosen Blick von Capitaine, »in Nordafrika geborene Franzosen. Wir verkehrten freundschaftlich mit ihnen, aber sie waren Franzosen, wir Marokkaner. Wir schätzten ihre Kultur, aber sie waren keine Landsleute. Sie waren Ausländer, die teilweise seit mehreren Generationen mit uns zusammenlebten.«

    Er schwieg eine Weile bis Capitaine fragte: »Und Grand Maghreb?«

    Der Maghrebiner hob den Kopf, seine Augen blitzten und in seiner Stimme klang kaum verhaltener Zorn: »Grand Maghreb? Glauben Sie, irgendein Marokkaner, Tunesier oder Ägypter käme auf so eine Idee?«

    Capitaine zuckte unschlüssig die Schultern: »Nicht? Wer dann?« Der Maghrebiner schnaubte unwillig: »Nach der französischen Kapitulation 1940 sind viele Franzosen nach Marokko, Algerien und Tunesien ausgewandert. Die meisten kamen nicht zu uns, weil sie bei uns leben wollten. Sie wollten nicht in ihrem von Deutschen besiegten Land bleiben und es gab bereits vorher viele Pieds noirs, die sich bei uns häuslich niederließen. Der Aufruf von diesem Spinner de Gaule hatte sie hoffen lassen …«

    »Charles de Gaule? Dieser französische Aufwiegler? Die Radioansprache vom Juni 1940 aus London?«, fragte Capitaine nach.

    Der Maghrebiner nickte. »Ja, der Aufruf aus den Kolonien, weiterzukämpfen. Diese Spinner glaubten, sie könnten den Kampf gegen Deutschland weiterführen. Die Franzosen, die 1940 zu uns kamen, hatten sich unser Land als Ausgangsbasis ausgesucht. Dass de Gaule im gleichen Jahr von Landsleuten ermordet wurde, nahm dieser Einwandererwelle den Wind aus den Segeln. Aber nach der französischen Wiedervereinigung …«

    »1956?«, warf Capitaine ein. Der andere nickte: »Nachdem sich die beiden französischen Staaten augenscheinlich gut entwickelten, in der deutschen Wohlstandssphäre fett wurden und sich wiedervereinigten, schwappte eine neue, wesentlich größere Welle zu uns herüber. Und diese Leute kamen nicht, um zeitweilig eine Operationsbasis zu haben. Sie kamen, um zu bleiben.« Er schwieg gedankenverloren. »Sie waren überall und das ging nicht ohne Reibereien. Es kam hier und da auf dem Lande und in kleinen Städten zu Ausschreitungen. Wer wem was getan hatte war meistens nicht so genau zu rekonstruieren. Auf jeden Fall griffen beide Seiten schnell zu den Waffen. Die in der Hoffnung auf eine Rückeroberung Frankreichs Gekommenen hoben ihre heimlichen Waffendepots aus, diejenigen, die sich eine neue Heimat erhofften, verteidigten, was sie als ihr Recht zu bleiben ansahen. Die Unruhen wurden schlimmer und schlimmer. Und dann stellten sich die freifranzösischen Milizen, die zwar seit ihrer Flucht nach Nordafrika inaktiv, aber nicht aufgelöst waren, der marokkanischen Regierung als Ordnertruppen zur Verfügung. Die Regierung ging arglos auf das Angebot ein und hatte auf einmal kampfgestählte, wenn auch anfangs etwas eingerostete, gut bewaffnete Eingreiftruppen zur Verfügung. Es war der unausgesprochene Teil der Vereinbarung, den die Regierung vielleicht nicht erkannte und der Marokko in den Abgrund zog.«

    Capitaine schaute fragend.

    »Die Ordnertruppen schürten die Verbitterung derjenigen, gegen die sie eingesetzt wurden. Und es sprach sich sehr schnell herum, dass Franzosen und Pieds noirs von den Truppen nichts zu befürchten hatten. Die Ausschreitungen wurden schlimmer und schlimmer, die Freifranzosen griffen immer härter durch. Das trieb einen Keil zwischen die marokkanische Bevölkerung und die französischsprachige Oberschicht.«

    »So wie ihre Familie?«

    »Wie meine Familie … Wobei, meine Familie zerbrach daran, dass wir uns nicht alle von den Franzosen vereinnahmen ließen.« Ein Blick auf sein Gesicht ließ klar erkennen, auf welcher Seite er stand, als er weitersprach: »Die Regierung stützte sich immer stärker auf die Einwanderer, teils aus Not, teils weil man sich den dummen Felachen aus den Dörfern überlegen fühlte. Parlez français, c‘est plus chic, sagte man damals.

    Irgendwann waren die gut ausgebildeten und gut bewaffneten Franzosen eine wesentliche Stütze des Staates geworden und es war zu dieser Zeit, dass die Idee für Grand Maghreb aufkam: ganz Nordafrika vereinen und dann von dort aus einen Gegenentwurf gegen das verhasste Deutschland starten. Das war der offizielle Teil, das, was man überall lesen konnte. Aber die bewaffneten Milizen und ihre Kontakte in Verwaltung und Armee sahen ihre Ausrichtung gegen Deutschland auch weiterhin als militärisches Ziel an.«

    »Und die anderen Länder?«

    »In Marokko, Algerien und Tunesien hatte sich die Situation ungefähr zeitgleich entwickelt. Man verstand sich unter Franzosen, man hatte dieselben Ziele. Und so wurde Grand Maghreb gegründet. Libyen und Ägypten schlossen sich später an. Aber ich kenne keinen Maghrebiner, keinen echten Maghrebiner, der diesem Gebilde etwas abgewinnen kann.«

    Capitaine nickte nachdenklich: »Und die gelegentlich in Europa einfallenden Freifranzosen …«

    »… sind nichts anderes als Teile der Armee, der Polizei und Freiwillige, die in Grand Maghreb geworben werden. Die Regierung drückt beide Augen fest zu und hält die Kämpfer nur dazu an, wenigstens keine offiziellen Uniformen zu tragen.«

    Capitaine lauschte interessiert den Ausführungen des Maghrebiners. Er schien recht gut informiert über einige Aspekte insbesondere militärischer Art, trug aber zu dieser Diskussion und anderen über Nordafrika relativ wenig bei.

    Sobald es um den Krieg 1939/1940 in Europa ging, wurde er lebendiger; nicht gerade gesprächig, aber man merkte ihm an, dass er dazu eine dezidierte Meinung hatte, dass seine Argumente von einer gewissen Deutschfreundlichkeit geprägt waren. Insbesondere die Kampagne im Westen schien ihn zu interessieren.

    So horchte er sichtlich auf, als der Maghrebiner eines Tages Dünkirchen erwähnte. Was denn an Dünkirchen so besonders wäre. Der Maghrebiner schüttelte den Kopf: »Nichts ist daran besonders. Das hat den Franzosen und Engländern den Nagel in die Truhe gehauen. Aber ich frage mich immer wieder …« Er verstumme.

    Nach einer kurzen Weile sagte Capitaine nach einem Schluck Kaffee: »Was fragen Sie sich immer wieder?«

    Der Maghrebiner zögerte etwas, lächelte leicht verlegen: »Stellen Sie sich einmal vor, die Deutschen wären nicht sofort auf Dünkirchen marschiert.«

    Capitaine schaute verständnislos: »Wie, nicht sofort auf Dünkirchen marschiert?«

    »Stellen Sie sich vor, sie hätten den Angriff gestoppt. Einfach so.«

    Capitaine zuckte verständnislos die Schultern: »Sie sind doch aber ohne Halt sofort auf Dünkirchen vorgestoßen und haben die Engländer alle eingesackt!«

    »Jaja«, antwortete der Maghrebiner schnell, »aber stellen Sie sich vor, sie hätten eben den Kessel nicht sofort zugemacht. Sie hätten, sagen wir mal, eine Woche oder zwei gewartet, bevor sie ganz bis an die Kanalküste vorgestoßen wären.«

    Capitaine machte eine wegwerfende Bewegung: »Warum hätten sie das tun sollen? Warum einen fast erledigten Gegner entschlüpfen lassen, wenn man alle Trümpfe in der Hand hat?«

    Der Maghrebiner antwortete: »Nur um zu argumentieren, aus Spaß an der Überlegung.«

    »So verrückt hätte damals niemand sein können. Niemand hätte damals den Angriff auf Dünkirchen gestoppt. Nicht einmal der Führer hätte das befohlen und er hatte weiß Gott gelegentliche Aussetzer.«Beide Männer grinsten verstehend, denn auch wenn der Neuordner Europas Unglaubliches erreicht hatte, es wäre dem größten Feldherrn aller Zeiten, wie er sich zu Zeiten nennen ließ, sicher zuzutrauen gewesen, seinen Generälen einen sicheren Sieg aus der Hand zu schlagen, nur weil er es meinte besser zu wissen. Die Propaganda hatte hart daran gearbeitet, den Führer als unfehlbar hinzustellen, aber über die Jahre war sich jeder, der es wissen wollte, bewusst geworden, dass es neben Geniestreichen im Schaffen des Führers auch katastrophale Fehleinschätzungen und geradezu okkult anmutenden Irrsinn gegeben hatte.

    »Also gut, meinetwegen«, sagte Capitaine konziliant, »nehmen wir an, die britische Expeditionary Force und die Franzosen wären in Dünkirchen nicht in Gefangenschaft gewandert. Dann – was?«

    Der Maghrebiner überlegte: »Mit ihrer Armee wieder zu Hause, hätten sich die Briten vielleicht noch einmal aufgerafft, hätten vielleicht den Krieg weitergeführt, hätten vielleicht eine Invasion in Frankreich oder Holland gewagt.«

    »Unmöglich!« Capitaine schnaubte. »Nach Narvik? Nach dem Debakel in Frankreich und einem schmählichen Rückzug auf ihre Insel? Nie! Selbst wenn die Engländer in Dünkirchen davongekommen wären, sie hätten sich nicht mehr aufgerappelt.«

    Der Maghrebiner wiegte das Haupt: »Sie hätten eine Invasion in Holland wagen, sich mit den Freifranzosen in Nordafrika verbünden können.«

    Capitaine lachte ironisch: »Ja sicher, und was denn noch alles? Als Nächstes werden Sie behaupten, die Amerikaner wären den armen Engländern auf ihrer Insel und den bedrohten Völkern in Europa zu Hilfe gekommen, die Russen hätten ihren Pakt mit den Deutschen gebrochen und mit allen anderen gemeinsame Sache gemacht, um die bösen Deutschen niederzuringen. Sie müssen zugeben, das klingt irre.«

    Der Maghrebiner grinste etwas geniert »Ja, ich weiß schon, Hirngespinste.«

    Sie tranken beide weiter ihren Kaffee.

    Einige Wochen später kamen sie auf den deutschen Osten zu sprechen. Der Maghrebiner erwähnte die immer und immer wieder gehörten Argumente. Nur der Friedensschluss im Sommer 1940 mit England und Frankreich habe es den Deutschen erlaubt, 1941 so schnell nach Osten vorzudringen, dass den Russen bis zum Ural keine organisierte Verteidigung mehr möglich gewesen war. Auch hier lachte der Maghrebiner und wollte sich darüber unterhalten, was gewesen wäre wenn. Wenn die Bolschewiken dem deutschen Ansturm standgehalten hätten, wenn sie Moskau gehalten oder wiedererobert hätten. Oder wenn sie wenigstens hinter dem Ural in Sibirien ihr kommunistisches Reich neu hätten errichten können. Wenn sie sich nicht in immer neuen temporären Zusammenschlüssen unter immer neuen Khanen gegenseitig bekämpft hätten. Wenn sie am Ural zum Stehen gekommen wären.

    Capitaine sagte lange nichts. Der Maghrebiner schaute ihn abwartend an, herausfordernd; er erwartete eine Erwiderung, dass das doch Unsinn sei, um danach seine Theorien ausbreiten zu können. Doch Capitaine sah auf: »Darüber sollten wir nicht sprechen.«

    Der andere schaute verwundert. »Allez, Capitaine« – auf diese Anrede hatten sie sich geeinigt – »es ist ein Gedankenspiel, nichts weiter, kommen Sie.«

    Capitaine schüttelte den Kopf. »Nein, ist es nicht. Ich will nicht. Ich … Nein, lassen Sie es.«

    »Kommen Sie schon, seien Sie nicht so«, der Maghrebiner hatte sich in Eifer geredet, hatte herübergelangt und seine Hand auf den Unterarm von Capitaine gelegt, »was ist denn schon dabei …«

    Capitaine fuhr auf, schrie: »Je m‘en fous de vos théories à cinq balles! Ich pfeife auf ihre billigen Theorien!« Schwer atmend stand er da und funkelte den Maghrebiner wütend an.

    Der war zurückgezuckt, völlig überrascht von diesem Ausbruch. »D‘accord, d‘accord«, murmelte er beruhigend, »ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«

    Immer noch aufgebracht, aber etwas ruhiger, setzte sich Capitaine wieder, sah dann zu dem verdatterten Maghrebiner hinüber und sagte eisig: »So, Sie wollen also über den deutschen Osten sprechen. Geschichten erzählen, die nie stattgefunden haben.«

    Der Maghrebiner machte beschwichtigende Gesten, nein, nein so habe er das nicht gemeint.

    Aber Capitaine sah ihn unverwandt an: »Wenn Sie unbedingt eine Geschichte haben wollen, die nicht stattgefunden hat, dann kann ich Ihnen eine erzählen. Nur ersparen Sie mir Ihr Spintisieren.« Und während der Maghrebiner etwas verlegen auf seinem Stuhl herumrutschte begann Capitaine zu erzählen:

    »Es war in Hartmannstadt an der Medritz im Sommer 1982 …«

    Eins

    1982, Hartmannstadt an der Medritz

    Reuter rekelte sich genüsslich und tastete sich, ohne die Augen richtig zu öffnen, in die Küche vor. Klick – Wasserkocher. Während er noch seinen Traum träumte, schaltete sich der Kocher leise schnappend ab. Zwei Löffel Kaffeepulver. Wasser darauf. Kühlschrank auf. Milch rein. Der Kühlschrank riecht schon wieder, muss ihn demnächst mal ausräumen.

    Schlaftrunken schlurfte er durch das riesige Wohnzimmer, öffnete die mannshohen Fensterläden und trat auf die Terrasse, in die ersten Strahlen des Morgenlichts. Er genoss die Wärme auf seinem ganzen Körper und beschloss, dass dies ein guter Tag werden würde. Dann öffnete er langsam die Augen, um die endlose Weite der reifen Kornfelder in sich hineinzutrinken, diesen erhebenden Anblick des unendlichen Ostens, dreißig Meter entfernt auf dem Feld, einen Traktor mit Anhänger, einen Aussiedler, der ihn mit weit

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