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Savantninjas: Teil 1 - Kämpfer des Lichts
Savantninjas: Teil 1 - Kämpfer des Lichts
Savantninjas: Teil 1 - Kämpfer des Lichts
eBook550 Seiten7 Stunden

Savantninjas: Teil 1 - Kämpfer des Lichts

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Über dieses E-Book

Der Amerikaner Francis McOrmand beschäftigt sich in den späten 60er-Jahren in Geheimlaboren der US-Streitkräfte mit der Förderung ungewöhnlicher Talente. Im Jahr 2014, als seine Zeit beim US-Militär bereits lange zurückliegt, greift er auf dieses hochbrisante Wissen zurück und setzt es skrupellos für seine Zwecke ein.
Abgeschottet von der Außenwelt, hinter den Mauern eines alten Schlosses in Norddeutschland, ruft er eine Organisation ins Leben, die die gesamte Ordnung infrage stellt und die Weltherrschaft an sich reißen will. McOrmand be-mächtigt sich dazu der Fähigkeiten junger Menschen mit herausragendem Können, sogenannten Inselbegabungen. Er entwickelt sie mithilfe einer sagenumwobenen Technik und genetischen Experimenten zu unschlagbaren Talenten. Und so sind die Weichen gestellt - für den Angriff der Savantninjas. Doch ihr Wirken ruft eine uralte Macht auf den Plan, mit der niemand gerechnet hat.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum16. Dez. 2014
ISBN9783732317561
Savantninjas: Teil 1 - Kämpfer des Lichts

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    Buchvorschau

    Savantninjas - Dirk Westphal

    Der Tag, an dem Jeanette Schaendler endgültig klar wurde, dass mit ihrem Sohn Daniel etwas nicht stimmte, dass er anders war als Gleichaltrige, begann unspektakulär. Die Sonne schien über der Siedlung im Berliner Süden, wo die Schaendlers ein schlichtes Einfamilienhaus bewohnten. Daniel saß am Frühstückstisch und stocherte in seinen Cornflakes herum. Er ließ den Löffel lustlos am Rand der Schale herumklappern. Jeanette Schaendler überlegte kurz, ob sie Daniel ermahnen sollte, beließ es dann jedoch bei einem mahnenden Blick. Oft reagierte er ja darauf, ganz anders als ihr Mann Martin.

    Jeanette Schaendler googelte auf ihrem Smartphone das Opernangebot des Abends. Sie wollte seit langem Barrie Koskys Inszenierung der Zauberflöte in der Komischen Oper in Berlin sehen. Der Australier galt als ein Könner seines Fachs. Zudem würde ein solcher Abend ihr die Gelegenheit bieten, die festgefahrene Beziehung zu ihrem Mann aufzufrischen. Ein verführerisches Kleid, ein Essen danach …

    Aber so leicht war es dann doch nicht. Mit Schaudern dachte sie an einen Kurzurlaub in Paris, als sie die Oper besuchen wollten. Ihr Martin hatte sie einfach kurz davor auf der Straße stehen lassen. Sie hatten das Hotel an der Rue de Rivoli extra früh verlassen, um einen Spaziergang durch das historische Zentrum zu machen. Ganz gemütlich zur Oper; sie hatte ihre Pumps deshalb extra in ein kleines Täschchen gepackt. Die Stadt war wie immer übervoll mit japanischen und amerikanischen Touristen.

    Als sie am Grand Palais kurz einen Blick auf die Plakate geplanter Kunstausstellungen werfen wollte, war Martin einfach weiter gelaufen und sie hinterher, im Abendkleid. Am Place Vendome hatte sie ihn dann aus den Augen verloren.

    Dieses Mal musste es klappen, sie wollte die Beziehung nicht aufgeben.

    Voraussetzung war natürlich, dass Daniel mitspielte, der nun wieder mit dem Löffel in seiner Cornflakes-Schale herumstocherte. Sie guckte genervt. Er musste sich den Abend auch einmal allein das Essen warm machen, das war er ihr schuldig. Sie hatte ein Recht auf Glück, obwohl sie sich nicht als unglücklich empfand. Das Leben hatte es eigentlich gut mit ihr gemeint und ihr einen hyper-intelligenten Jungen geschenkt, wenn auch einen mit Macken und sonderbarem Verhalten, manchmal.

    Das Klappern des Löffels riss sie aus ihren Gedanken. Ihr Sohn saß immer noch lustlos vor den Cornflakes, seiner geliebten Erdnussbutter und dem morgendlichen Bananen-Shake. Sie würden heute wohl alle nicht in seinem Bauch landen.

    In regelmäßigen Abständen trommelte er nun mit dem Löffel gegen eine Flasche Ahornsirup. Er liebte Sirup auf seinen Cornflakes.

    Im Hintergrund lief das Radio. Sie hatte es leise eingestellt, aber nicht so leise, dass Daniel die Bekanntgabe der Lottozahlen überhören konnte. Irgendwie hatten die Zahlen an diesem Tag etwas Besonderes in ihm bewirkt, wozu nur er Zugang hatte. Er fing unvermittelt an, in irrsinnigem Tempo Zahlen aufzusagen, Primzahlen, als hätte er nie etwas anderes getan. Irgendwo zwischen 1070 und 1100 stoppte er, weil das Telefon klingelte. Es hatte ihn herausgerissen aus seiner Welt.

    Seine Mutter hatte sich zuvor schon öfter Sorgen gemacht, weil sich ihr Junge abkapselte und oft Selbstgespräche in seinem Zimmer führte. Sie hatte einen Therapeuten aufgesucht, der aber meinte, das würde sich wieder normalisieren, sei nicht mehr als eine Phase der Pubertät. Aber es war nicht nur dieser Vorfall, der sie ihren Sohn mit anderen Augen sehen ließ.

    Wenige Tage später, als sie mit ihrem Jungen vor dem Fernseher saß – das Fernsehen brachte eine der populären Wissenschaftssendungen -, geschah wieder Seltsames. Wenn dies auch nichts im Vergleich zu dem war, was sie noch mit Daniel erleben sollte.

    In der TV-Sendung war ein Wissenschaftler zu sehen, der irgendeine Formel an die Tafel schrieb und den vor ihm sitzenden Studenten dazu etwas erklärte, es ging um den Sinus in einer Gleichung.

    „Kosinus, du hast dich verplappert, du meinst den Kosinus, und es geht auch nicht um die zweite Ableitung, sondern um die dritte."

    Das alles ging Jeanette durch den Kopf, während sie ihrem Sohn ein paar Brote für die Schule fertig machte.

    Wir werden ihn wohl auf eine andere Schule geben müssen, wo er gefordert wird, dachte sie und packte das dreckige Geschirr vom Vorabend in die Spülmaschine.

    An diesem Morgen musste Daniel zur Schule. Sie hatte die Pausenbrote in Daniels Schulranzen gepackt, als die neue Ausgabe ihre Abonnementzeitung in einer kleinen parabelförmigen Bahn über die Hecke ihres Grundstückes flog und vor der Haustür landete. Sie sah den Boten nur von hinten, wie er auf seinem Fahrrad wegfuhr, er war heute etwas spät dran. Die Zeitung steckte in einer Klarsichtfolie, die sie gegen Regen schützte. Aber die Sonne schien, und die Spatzen und Finken zwitscherten in den Hecken und Baumkronen rund um das Haus der Schaendlers, als trügen sie einen Wettbewerb aus.

    „Mach‘s gut, mein Kleiner. Jeanette strich ihrem Sohn über das Haar, gab ihm einen kleinen Stups, dann eilte er fort. „Bis nachher, Mama.

    Jeanette warf einen flüchtigen Blick in die Zeitung. In einer Rubrik auf der Vorderseite hatte ein Internat eine Anzeige geschaltet. „Der Platz für Hochbegabte mit besonderer Förderung", stand drüber. Sie schenkte dem keine große Beachtung. Sie hatten eh kein Geld für ein solches Eliteinternat. Aber sie sollte später einen anderen Weg zu der Schule finden. Jetzt widmete sie sich erstmal dem Kartenkauf für die Kosky-Oper.

    Nicht einmal eine Stunde später saß Daniel im Klassenraum seiner Schule. Er rubbelte sich mit den Fingern über die Augenbrauen, wie er es oft tat. Aus irgendeinem ihm unbekannten Grund produzierten die Zellen dort vermehrt Schuppen. Daniel rubbelte heftiger. Die Schuppen fielen vor ihm auf den Tisch und bildeten einen Miniteppich aus kleinen grauen Flocken. Er schoss sie mit seinem Zeigefinger über die Tischkante. Maggie, eine Mitschülerin am Nachbartisch, blickte böse zu ihm herüber und streckte die Zunge raus. „Selber bäh …", sagte Daniel, sie zeigte ihm den Stinkefinger.

    Daniel Schaendler fühlte sich in seiner Schule alles andere als gut untergebracht. Es war unter seinem Niveau, fand er, vor allem litt er unter Langeweile und Unterforderung.

    Seine Mitschüler hatten dagegen Probleme, dem Unterricht zu folgen, und so wiederholten die Lehrer Lektion für Lektion, mit dem Ergebnis, dass sie am Ende eines Schuljahres regelmäßig allenfalls zwei Drittel des Lehrplans erfüllt hatten, wenn überhaupt. Hinzu kam, dass einige der Lehrer ein Autoritätsproblem hatten. Eines ihrer Opfer war Peter Baumgarten, der Deutsch-Lehrer. Regelmäßig wurde Baumgartens Tasche gestohlen, mitunter aus dem Fenster geschmissen oder um die darin befindlichen Klausuren oder Testergebnisse erleichtert, so dass die Klasse eine Prüfung wiederholen musste. Die schlimmsten Rabauken waren Ronny und Kevin. Sie spielten ein mieses Spiel mit den anderen in ihrer Klasse. Sie nannten es „zu Tode starren". Vor jeder Stunde wählten sie einen Mitschüler aus, den sie dann die gesamte Unterrichtsstunde lang anstarrten, bis dieser entweder aus der Klasse rannte oder sich hinter einem aufgeklappten Schulkoffer verbarg, um ihren Blicken auszuweichen.

    An diesem Tag in der Schule trieben es die beiden mal wieder besonders schlimm. Peter Baumgarten hatte gerade seine Tasche und den Schlüssel für den Unterrichtsraum auf seinem Tisch abgelegt, als Kevin aufsprang, zum Lehrer nach vorne lief, sich dessen Stuhl schnappte und aus dem Fenster schmiss. Sie hatten die Fenster geöffnet, weil die Klimaanlage ausgefallen war, was Schüler und Lehrer nicht so schlecht fanden, denn es wurde gesagt, dass sich in den Aluminiumröhren der Klimaanlage krebserregende Asbestfasern verbargen. Es hieß sogar, dass sie die Schule deshalb bald räumen mussten.

    Daniel dachte kurz darüber nach, ob der Zeitpunkt gekommen war, seiner Mutter klar zu machen, dass er auf ein Gymnasium gehörte, eine richtige Schule und nicht in diese Klippschule, auf der offenkundig jeder tun konnte, wonach ihm der Sinn stand. Daniel hasste seine Schule, ihre unfähigen, weil nicht durchsetzungsfähigen Lehrer und die lächerlich einfachen Unterrichtsinhalte, die einfach unter seinem Niveau waren. Die Tage und Wochen in der Schule ertrug er nur, indem er seinen Gedanken freien Lauf ließ und sich hinwegträumte. Doch diesmal klappte es nicht. Ronny und Kevin hatten mit ihrer Terroraktion den Lärmpegel in der Klasse auf ein Höchstmaß steigen lassen.

    Daniel beobachtete aus dem Augenwinkel, wie nun Ronny zu dem kleinen roten Feueralarmkästchen an der gegenüber liegenden Wand lief, die kleine Scheibe über dem Alarmknopf einschlug und dann feixend zu Kevin hinüberblickte. Ronny tat nichts, ohne dass Kevin zumindest sein Okay gegeben hätte, auch dieses Mal. Lachend streckte Kevin seine Faust vor, dann hob er den Daumen. Ronny grinste: „Yeah …" – dann drückte er den Knopf. Der Feueralarm gellte durch die Schule.

    „Das war das letzte Mal, jetzt ist Schluss, rief Baumgarten. Als er die hämischen Grimassen von Ronny und Kevin sah, verstummte er. „Also dann, alle raus, die Klasse versammelt sich vor der Schule …

    „Nix hier, wir haben jetzt unterrichtsfrei", rief Kevin.

    Ronny setzte noch eins drauf: „ … und hitzefrei." Die beiden lachten. Daniel packte seine Tasche. So ging es nicht weiter, er würde an diesem Abend von seinen Eltern verlangen, dass sie ihn auf einer anderen Schule anmeldeten. Sie hatten es ja gut gemeint, immer wieder gesagt, dass er mit anderen, sozial problematischen Schülern auskommen müsse, weil man auch im späteren Leben mit anderen arbeiten und leben müsse und nicht immer wegrennen könne, aber das war nicht mehr auszuhalten. Daniel packte seine Tasche. Er wartete, bis die anderen aus dem Klassenraum Richtung Hauptausgang gestürmt waren, dann ging er gemächlich zum Hinterausgang. Wie schön ruhig es jetzt ist, könnte es nicht immer so sein? Ein Raum ohne Stimmen, ohne Dinge, die nur ablenken.

    Daniel Schaendler tat, was er immer tat, wenn er Ruhe suchte. Er nahm einen Umweg von der Schule nach Hause. Einen abgeschiedenen Weg durch eine Laubenkolonie, in der sich wochentags nur wenige Menschen aufhielten. Im Zentrum der Schrebergartensiedlung gab es einen kleinen Platz mit einer Bank, auf der er oft saß, wenn er allein sein wollte, so wie jetzt. Wenige Meter von der Bank entfernt stand ein Mast, an dem die Fahne mit dem Namen der Kolonie hing. Für gewöhnlich flatterte sie, aber an diesem Tag hing sie schlaff herunter. Daniel musste grinsen. Irgendein Witzbold hatte die Fahne durch eine andere ersetzt. Jetzt baumelte dort eine Piratenfahne, auf der eine Art Jack Sparrow zu sehen war, mit schräg auf dem Kopf sitzendem Hut, einem großen Ohrring und verwegener Visage.

    Daniel ließ seinen kleinen Schulranzen vom Rücken gleiten, packte ihn auf die Bank und setzte sich daneben. Er führte wie so oft Selbstgespräche.

    „Was willst du?", fragte Daniel.

    „Du vergeudest deine Zeit mit Dummköpfen. Ich kann das nicht zulassen."

    „Ich werde mit Ma reden."

    „Dieser Ronny und auch Kevin machen sich über dich lustig. Wir sollten ihnen zum Abschied noch eine kleine Lektion erteilen."

    „Was meinst du damit?"

    Was Daniel daraufhin einfiel, ließ ihn erbleichen. Die Sache gefiel ihm nicht wirklich.

    Jeanette Schaendler blickte zu der großen Wanduhr, die über der Spüle in ihrer Küche hing. Sie hatte Essen gemacht und wartete auf ihren Sohn. Es kam neuerdings öfter vor, dass er später nach Hause kam. Muss ich mir Sorgen machen? Hat es mit seiner Verhaltensauffälligkeit zu tun? Sie saß hinter der Kochinsel und lugte wieder zur Uhr, die sich gegenüber befand, der große Zeiger stand kurz vor der Fünf. Aber für diesen Tag wies sein Stundenplan den Unterrichtsschluss bereits für zwei Uhr aus. „Kunst und „Deutsch standen auf dem Lehrplan, der an der Innenseite in Daniels Schrank hing. Ihre Finger trommelten über die Küchenanrichte, nervös strich sie sich durchs Haar. Ihm wird doch nichts passiert sein?

    Daniel Schaendler verließ die Schrebergartenkolonie. Er wusste, wohin er sich wenden musste, um diesem Tag noch etwas Spaß abzutrotzen. Auf halbem Weg zwischen der Schrebergartensiedlung und dem Haus seiner Eltern lockte ein Rummelplatz, wie jedes Jahr mit der Verlässlichkeit einer Schweizer Uhr.

    Wenn er sich nicht täuschte, hatte der Rummel bis zum späten Abend geöffnet. Daniel warf einen letzten amüsierten Blick auf die Gartenzwerge, die in jedem zweiten der Schrebergärten zwischen Beeten oder Hecken standen, dann untersuchte er seine Taschen auf etwas Kleingeld, förderte tatsächlich acht Euro hervor und machte sich auf den Weg.

    Schon von weitem hörte er das unnachahmliche Gemisch aus quäkenden Lautsprechern, dem Zusammenstoßen irgendwelcher Autoskooter, dem Brüllen der Menschen, die auf der Achterbahn gerade in die Todeskurve einbogen oder durch den Gipfel einer Loopingschlaufe rasten, und Luftgewehrsalven. Ein paar Einfaltspinsel glauben mal wieder, dass sie die Ballons mit den Knarren wirklich treffen. Daniel kicherte und beschleunigte seine Schritte.

    Ein wenig plagte ihn das schlechte Gewissen. Bestimmt wartet Mama schon zuhause mit dem Essen auf mich. Aber für eine Geisterbahnfahrt würde die Zeit noch reichen. Daniel erhöhte sein Lauftempo und verfiel kurz darauf in einen leichten Sprint. Nach nur fünf Minuten hatte er den Rummelplatz erreicht. Einige ältere Mädchen stolzierten an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten.

    Wo verflixt war nur die verdammte Geisterbahn?, fragte sich Daniel. Sie stand doch jedes Jahr kurz hinter dem Eingang. Offensichtlich hatten die Rummelplatzchefs in diesem Jahr einen anderen Stellplatz ausgewählt. Daniel blickte ratlos von einer Seite zur anderen, während er die Hauptgasse des Rummels entlanglief. Ein Clown kam ihm entgegen und streckte ihm eine Trommel mit Losen entgegen. „Nur 50 Cent pro Los, wer nicht wagt, der nicht gewinnt." Daniel ging an dem Clown vorüber, er hatte zu wenig Geld.

    „Dann halt nicht", rief der Clown ihm nach.

    Daniel blickte nach links und glaubte, bei einem der Schausteller seinen Vater gesehen zu haben. In einer der Gondeln, die an mächtigen Auslegern hingen und hoch und runter gehoben wurden, während sie sich in irrwitzigem Tempo im Kreis drehten. Die Leute in den Gondeln hatten einen Bügel vor ihren Körpern, damit sie nicht hinausgeschleudert wurden. Daniel schaute genau hin – und tatsächlich: Es war sein Vater, aber der war nicht allein. Neben ihm saß seine Mutter. Aber sollte die jetzt nicht eigentlich mit dem Essen zuhause auf ihn warten? Sie hatte nicht gesagt, dass sie mit Dad noch einen Abstecher zum Rummel machen wollte. Daniel überlegte kurz, ob sie verärgert wären, ihn hier zu sehen, so ganz allein. Er fand zu keiner eindeutigen Antwort und entschloss sich zu einer unauffälligen Annäherung, die den jederzeitigen Rückzug sicherte, ohne die Gefahr, entdeckt zu werden. Daniel pirschte sich vorsichtig an das Büdchen des Kartenverkäufers heran. Die Maschine verlangsamte bereits ihre Geschwindigkeit, langsam sanken die Gondeln Richtung Boden. Daniel duckte sich hinter dem Häuschen, als die Passagiere den Stand verließen. Er wartete in geduckter Haltung ab, schließlich kam sein Vater an ihm vorbei. Daniel wollte schon hochspringen und sich zu erkennen geben, da entdeckte er, dass die Frau gar nicht seine Mutter war, sondern eine Fremde. Daniel sackte in sich zusammen. Es konnte wohl nur eine Kollegin seines Vaters sein, aus der Versicherung, bei der sein Vater arbeitete. Daniel wartete, bis die beiden außer Sichtweite waren. Er beschloss, nicht länger über den Vorfall nachzudenken. Dad war über alle Zweifel erhaben.

    Ganz ohne Spaß wollte er den Rummel aber nicht verlassen. Er lief die Stände ab, kaufte an einem Süßwarenstand etwas von jeder türkischen Cremepaste, in der Pistazien steckten. Einige Meter weiter gab es einen Stand, an dem es Zahlen zu kombinieren galt, Rechenaufgaben, die in einer bestimmten Zeit zu lösen waren. Es gab vier Lampen, die blinkten. Eine von ihnen musste man anwählen, in dem man etwa „grün oder „rot sagte. Der Schausteller betätigte nach der Ansage einen kleinen Hebel, worauf sich neben der jeweiligen Lampe eine Klappe öffnete, die die Sicht auf eine Rechenaufgabe frei gab. Bei richtiger Lösung konnte man zehn Euro gewinnen. Ein fairer Deal, dachte Daniel, schließlich musste er nur einen Euro investieren. Er fand es lustig, zumal die Aufgaben simpel waren.

    „Neues Glück, neue Chance", rief der Schausteller.

    „Rot, rief Daniel. Die Klappe ging auf. Es galt die Quadratwurzel aus 2500 zu ziehen. „50, rief Daniel lachend, und so ging es eine halbe Stunde weiter. Hinter ihm hatte sich mittlerweile ein Menschenpulk gebildet, aus dem heraus ihn alle nur anstarrten, wartend darauf, dass er wieder gewann.

    „Rien ne va plus, rief der Budenbesitzer, „tut mir leid, das ist der letzte Einsatz, wir schließen gleich. Ich mache morgen auch nicht auf, Kleiner, ich bin krank, alles klar?

    „Schon gut. Daniel kicherte, er hatte in kürzester Zeit 150 Euro gewonnen. Das konnte sich doch sehen lassen. Vielleicht ließ sich auf dem Heimweg auch noch etwas für Ma besorgen, ein kleines Geschenk, um sie etwas zu besänftigen, immerhin würde er deutlich später als sonst zuhause sein. Das Zahlenrätsel hatte ihn die Zeit vergessen lassen und die fremde Frau neben seinem Vater. Als Daniel im Haus seiner Eltern ankam, fand er in der Küche einen Zettel vor: „Hab auf dich gewartet. Wusste nicht, dass du später kommst. Muss noch ein paar Einkäufe fürs Wochenende erledigen, sehen uns nachher. Hab dich lieb. Ma. Darunter hatte sie einen grinsenden Smiley gemalt.

    Daniel spähte in den einzigen Kochtopf, der auf dem Herd stand. Seine Mutter hatte ein einfaches Nudelgericht zubereitet. Die passende Sauce war bereits samt Zutaten mit den Spaghetti im Topf verrührt. Daniel atmete auf. Wenn sich seine Mutter für ein einfaches Gericht entschied, würde sie sicher keinen Groll gegen ihn hegen. Anders wäre es gewesen, wenn sie etwas wirklich Zeitaufwendiges kreiert und damit auf ihn gewartet hätte. Er nahm eine Kelle, rührte die Spaghetti ein paarmal um. Es stieg noch leichter Dampf auf, lange konnte seine Ma also noch nicht fort sein. Er nahm eine kleine Holzkelle und schaufelte sich eine Portion auf den Teller, dann zog er in sein Zimmer weiter. Der Tag meinte es gut mit ihm, nur die Sache mit seinem Vater und der Unbekannten ging ihm nicht aus dem Sinn. Er brauchte etwas Ablenkung. Dad wusste sicher, was er tat, und er würde nie etwas Schlimmes tun oder etwas, das Ma verletzen würde.

    Daniel stellte den Teller auf seinen Schreibtisch, ein Erbstück aus dem Nachlass seines Opas, Werkbund-Stil. Dann schaltete er den Fernseher ein. Der Erlebniskanal brachte eine Wiederholung von „Kampf der Titanen." Über die auf seiner Gabel zu einem Bällchen aufgerollten Spaghetti schaute er abwechselnd zu der Sendung, dann zu den Hausaufgaben, die seitlich auf dem Schreibtisch lagen und noch unbearbeitet waren. Er schob Hausarbeiten immer so lange auf, bis es nicht mehr ging. Er konnte es sich aber auch erlauben, vor allem in Mathematik. Aufgaben, über die seine Mitschüler stundenlang nachdenken konnten, löste er in Minuten, er guckte sie nur an, dann erschien die Lösung sozusagen vor seinen Augen.

    Im Fernsehen war nun Göttervater Zeus zu sehen, der mit seinem Bruder Hades sprach, dem Gott der Unterwelt. Zeus bat Hades, die ihn seiner Meinung nach nicht genug liebenden Bürger der Stadt Argos zu bestrafen. Der Film langweilte ihn schon nach kurzer Zeit. Als Regisseur musste man offenbar nicht allzu viel können. Ein platter Plot und ein paar gut aussehende Hauptdarsteller, vor allem schöne Frauen, dazu ein guter Cutter und Kameramann, dann hatte man die Sache schon beinahe im Griff.

    Er schnappte sich eines der Schulhefte mit den Hausarbeiten, es ging um Infinitesimalrechnung, ein paar Ableitungen höheren Grades. Langweilig, dachte er und zückte einen Kugelschreiber. Nach nicht einmal zwei Minuten hatte er die Aufgaben gelöst. Daniel hatte sie auch auf seinem iPad gespeichert, aber das Schreiben in einem alten Heft gefiel ihm mehr. Es hatte irgendwie Klasse, fand er.

    Daniel legte das Hausaufgabenheft in die Ecke seines Schreibtisches, schaltete den Fernseher an und zappte durch die TV-Kanäle. Fast alle brachten Live-Bilder der Eröffnung der Olympischen Winterspiele von Sotschi. Ein Mädchen, nur getragen von dünnen Seilen, schwebte durch die Halle. Lubow lautete ihr Name, was auf Russisch Liebe hieß. Fasziniert betrachtete Daniel das Mädchen, das er außergewöhnlich hübsch fand. Als die Kleine aus dem Sichtfeld der Kameras verschwunden war, betrat das Ensemble des Bolschoi-Theaters die Arena. Die erste Prima Ballerina hüpfte elfengleich über den Boden, gefolgt von einer Hundertschaft Freiwilliger, die die russische Revolution nachspielten. Daniel zappte weiter. Viva zeigte Videos von Breakdancern. Was für dumme, tätowierte Typen, wie sie ihre Daumen hochhalten, ihre Base-Caps zur Seite drehen und doch nicht einmal einen Satz korrekt sprechen können.

    Daniel schaltete den Fernseher aus. Er fürchtete, an diesem Abend nicht so leicht einschlafen zu können. Aber es gab Hilfe. Die kleine Lubow tanzte durch das Reich seiner Fantasie, in ihrem kleinen weißen Kleidchen. Sie war sicher schon 18 oder 20 Jahre alt, aber er mochte ältere Mädchen. Lubow, sei lieb zu mir, dann bin ich‘s auch zu dir, dachte Daniel und schlief kurz darauf ein. Auf seinem Gesicht war ein Lächeln.

    Am nächsten Tag musste Daniel nicht zur Schule. Er saß zuhause, aß ein Brötchen mit Nutella und verfolgte eine jener Wissenschaftssendungen, die in verlässlicher Regelmäßigkeit von den Fernsehkanälen wiederholt wurde. In diesem Beitrag ging es um die sagenumwobene Area 51, jene im Süden der Vereinigten Staaten untergebrachte und hochgeheime Militärbasis der US Air Force, der von New-Age-Aktivisten und Ufologen nachgesagt wurde, dass in den Hangars Überreste von Außerirdischen oder deren Raumschiffen gelagert wurden, nachdem sie eingehend untersucht worden waren.

    Daniel verfolgte die Sendung nur oberflächlich. Aus dem Baum neben dem Haus seiner Eltern drang lautes Zwitschern, ein ganzer Schwarm musste sich dort eingenistet haben, Finken, Spatzen, Daniel konnte sie nicht unterscheiden, ebenso wenig wie Baumarten. Sicher, er wusste, wie eine Birke aussah oder eine Kastanie, aber vielmehr auch nicht, es interessierte ihn einfach nicht. Dafür wusste er, dass es auf der Venus so heiß war, dass selbst ultrahartes Metall in kürzester Zeit schmolz. Und er wusste auch, dass der Mons Olympus auf dem Mars der höchste Vulkan im Sonnensystem war. In Gedanken reiste er oft zum Mars, aber dieses Mal wurde er unterbrochen. Seine Mutter lugte durch den Türspalt zu ihm. Was sie sah, sorgte sie. Daniel lag auf seinem Bett und starrte einfach an die Decke, er konnte dies stundenlang tun. „Daniel, geht es dir gut?", fragte sie.

    Er drehte sich auf den Bauch, tat, als hätte er die Frage nicht gehört.

    „Die Venus ist der heißeste Planet des Sonnensystems, der Merkur der sonnennächste und Jupiter … – Daniel hatte sich wieder auf den Rücken gedreht – „so gewaltig, dass die Erde tausend Mal in ihm Platz finden würde.

    Jeanette Schaendler blickte ihren Sohn nachdenklich an, während Daniel einige Mäusespeckstückchen hinunterschlang, von denen immer ein Vorrat in seinem Kleiderschrank lagerte.

    Endlich blickte er zu seiner Mutter hoch, während er ein mintfarbenes aus der Süßigkeiten-Tüte holte, dieses knetend durch seine Finger kreisen ließ und es neugierig musterte. „Gehören die eigentlich ansonsten in die Biotonne oder in die für das Kunststoffrecycling?", fragte Daniel mit ernstem Gesicht. Als er den verdutzten Blick seiner Mutter sah, brach er in schallendes Gelächter aus.

    Eineinhalb Jahre später.

    Jeanette Schaendler hatte Daniel von der Schule genommen, weil sie den Lernerfolg dort nicht mehr gewährleistet sah. Zu oft war er unausgelastet nach Hause gekommen, die Hausaufgaben hatte er zumeist mühelos und schon nach Minuten gelöst, meist mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck.

    Nach zahlreichen Fähigkeitstests hatte Jeanette Schaendler ihren Daniel auf eine Schule für Hochbegabte gegeben, denn er hatte mehrfach in Tests, zu denen sein Klassenlehrer geraten hatte, mit einem Intelligenzquotienten von mehr als 140 abgeschnitten, schon 130 galt als sehr gut, wenn man den Mittelwert mit 100 ansetzte. Den Tipp für die Schule hatte ihr der Klassenlehrer gegeben. Was sie nicht wusste, war, dass dieser von der Schule angeschrieben worden war und ein erhebliches Salär für seine Vermittlungsdienste erhalten hatte. Dass sie für Daniels Unterbringung in der Schule nichts zahlen sollte, hatte sie nicht stutzig gemacht. Die Schulleitung erklärte, dass für herausragende Schüler, zu denen auch ihr Daniel gehöre, kein Schulgeld nötig sei. Es gäbe Sponsoren, die dafür aufkämen; alles Herrschaften, mit denen man seit langem in Kontakt stünde, Leute mit bestem Leumund.

    Wenn Jeanette Schaendler auch nur geahnt hätte, was auf der Schule geschehen würde, sie hätte alles gegeben, um ihre Entscheidung zu revidieren. Aber dazu war es zu spät.

    Seit wenigen Wochen wohnte Daniel bereits in der wie ein Internat geführten Schule 170 Kilometer nördlich von Berlin. Eine in einem ehemaligen Wasserschloss untergebrachte Einrichtung, die nicht nur durch das jahrhundertealte, von Flechten und Pilzen überwucherte Gemäuer ihrer Befestigungsanlage einen düsteren Eindruck hinterließ. Die Anlage mit den Kasematten, Türmchen, Zinnen und Mauern unweit des Dorfes Doorn war noch gut erhalten. Seine Bauherren hatten um das Schloss einen Wassergraben zur Sicherung der Bewohner gelegt. Die ursprünglichen Konturen waren noch erhalten gewesen, als die Liegenschaftsgesellschaft der Treuhand in den frühen 90er-Jahren einen Käufer gesucht hatte, obwohl der Graben zugewuchert und von Seeanemonen und anderen Pflanzen größtenteils überdeckt war. Dunkles fauliges Wasser darin verbreitete einen modrigen Geruch.

    Lange Zeit hatte sich kein Interessent für die Immobilie gefunden, bis 2009 wie aus dem Nichts ein Amerikaner aus Montana aufgetaucht war und sie gekauft hatte. Er hieß Francis McOrmand und war ein Unternehmer, der ein Vermögen mit Börsenspekulationen und Wetten auf Warentermingeschäfte gemacht hatte. Er hatte keinerlei Kosten und Mühen bei der Instandsetzung des Schlosses gescheut. Und nicht nur so mancher Mitarbeiter der Treuhand hatte stirnrunzelnd die Augenbrauen in die Höhe gezogen, als lange nach dem Wiederaufbau Tag und Nacht schwarze Trucks vor dem herrschaftlichen Anwesen gehalten hatten und Trupps von Männern riesige Kisten in das Gebäude gewuchtet hatten. Die Aktivitäten hatten gut 14 Tage angedauert, und mancher im Dorf hatte sich gefragt, ob der Raum in dem Schloss, trotz seiner beachtlichen Ausmaße, reichen würde, um die unbekannte Fracht sinnvoll in seinem Innern aufzustellen. Die Geschehnisse waren mehr als ungewöhnlich. Weil das ehemalige Wasserschloss schon zu DDR-Zeiten nur teilweise genutzt worden war – eine Einrichtung für geistig Behinderte und ein Hort hatten während dieser Zeit nur das Erd- und Obergeschoss belegt -, war es auch nur zum Teil beheizt worden. Schimmel und Hausschwamm hatten sich in den oberen Etagen breit gemacht und wenige Jahre nach dem Mauerfall das Dach zum Einstürzen gebracht. Und weil auch danach lange nicht investiert worden war, hatten die Zeitenwende des Schlosses nur seine stärksten Mauern und Balken überlebt. Dabei war die Anlage als solches ein Juwel. Ein im Tudorstil errichtetes Ensemble, das einst einem berühmten Rittergeschlecht in Vorpommern gehörte. Über die van den Graters, so lautete der Familienname, wusste man nicht viel, nur das einige ihrer Mitglieder zusammen mit anderen Rittern um das Jahr 1071 nach Jerusalem gezogen waren, um die heiligen Stätten zu befreien und ihr Seelenheil zu suchen. Papst Urban I. hatte all denen, die sich dem Kreuzzug anschlossen, die Befreiung von ihren Sünden versprochen. Nicht wenige lasteten auch auf den van den Graters. Sie sollten, wie man sich im Dorf Doorn zuraunte, hunderte Landarbeiter getötet haben, mitunter aus einer Laune heraus. In Katakomben unterhalb des Schlosses, so hieß es weiter, seien einige Bauern getötet und gefoltert worden, weil sie gegen die Gutsherren aufbegehrt hatten oder angeblich ihre Abgaben verweigerten.

    Das alles hatte den Amerikaner Francis McOrmand aber nicht vom Kauf abgeschreckt, im Gegenteil. Den Bewohnern des Dorfes erschien es so, dass der Unternehmer, den sie auf Ende 60 bis Anfang 70 schätzten, sich geradezu magisch angezogen fühlte vom Schloss. Und dabei unterlagen sie keineswegs einer Fehleinschätzung. Er scheute keine Kosten. Architekten aus Wales, die Erfahrung im Umgang mit alten Schlössern hatten, leiteten den Umbau. Sie wohnten während der Arbeiten streng abgeschirmt auf dem Schlossareal in eigens für sie aufgestellten Containern. Als der Doorner Bürgermeister in einer Versammlung der Bewohner einmal gefragt wurde, was all das kosten würde, hatte er bekundet, dies nicht zu wissen. Auch in der nächstgelegenen Kreisstadt, in der die Baupläne genehmigt wurden, staunte man über den Fremden aus Übersee, dem es egal zu sein schien, wieviel seines Geldes in der maroden Immobilie auf Nimmerwiedersehen verschwand. Er war ganz offenkundig besessen von dem Anwesen, so viel hatten die Beamten der Bauverwaltung berichtet.

    Es war ein von nur wenigen Wolken getrübter Sonntag, als Francis McOrmand die kleine Bäckerei des nur 80 Einwohner zählenden Dorfes Doorn betrat. Hinter dem Verkaufstresen stand die 78-jährige Waltraud Meier, die Mutter der Eigentümer. Sie empfand es als eine Pflicht, ihren Sohn, der die Bäckerei von ihr übernommen hatte, an Sonntagen zu entlasten. Schließlich hatte er zwei Kinder, und ein Vater musste auch mal ausreichend Zeit haben für seinen Nachwuchs, und Bäcker hatten einen prall gefüllten Arbeitstag, der begann, während viele andere der Bewohner Doorns noch schliefen.

    Waltraud Meier freute sich aber über jeden Gast, selbst wenn er so schrullig aussah wie der Fremde, der gerade ihre Bäckerei betreten hatte. Irgendwie sieht er ziemlich düster aus, dachte die alte Dame. Francis McOrmand hatte den Kragen seines mausgrauen Mantels hochgeschlagen. „Do you have … ‚ ähm, Verzeihung, haben Sie Kekse mit chocolate, Schokolade? Wissen Sie: Ich brauche immer ein bisschen Zeit, um in eine andere Sprache zu wechseln."

    Waltraud Meier taxierte den ungewöhnlichen Gast misstrauisch. Aber sie hatte verstanden, was er wollte. Sie war stolz darauf, dass sie während ihrer Schulzeit nicht nur Russisch, sondern auch Englisch gelernt hatte. Nach dem Mauerfall hatte sie ihre Englischkenntnisse dann in der Volkshochschule in der nächsten Kreisstadt aufgebessert. Ihr Mann war Amerika-Fan, und als die Mauer gefallen war, war er mit ihr kurz darauf zu einer 14-tätigen Rundreise durch die USA aufgebrochen. Und der Fremde in ihrem Laden war unzweifelhaft ein Amerikaner, das hörte sie. Ihr Herz pochte etwas schneller, sie war aufgeregt. Nun konnte sie die Kenntnisse also wieder anwenden und überprüfen. „You mean candy with chocolate …"

    McOrmand war genervt, und seine Mimik zeigte dies überdeutlich. „Nein, ich meine deutsche Kekse mit Schokolade …" McOrmand zog die Worte Kekse und Schokolade beim Sprechen in die Länge und pendelte leicht mit dem Kopf. Dies passierte ihm immer dann, wenn ihm nicht sofort die richtige Antwort oder ein bestimmtes Wort einfielen. Dann geriet er auch schon mal ins Stottern oder dachte dann, dass er im nächsten Moment zu stottern beginnen würde, so wie in diesem Moment. Er versuchte, etwas zu sagen, aber es ging nicht.

    „Mmhh, mein …, er brachte immer nur ein „mmhh hervor in solchen Momenten. Er wippte erneut leicht mit dem Oberkörper nach vorn, als müsse er das Wort hinausschleudern, weil es von allein nicht herauskommen wollte.

    „Ich mein … ne diese da!" Francis McOrmand deutete in die hintere rechte Ecke der Auslage, in der Kekse lagen, die Waltraud Meiers Sohn jeden Sonntag in einer recht übersichtlichen Anzahl herstellte. Sie waren für die Tochter des Bürgermeisters bestimmt. An diesem Sonntag war wohl etwas mehr Backmasse vorhanden gewesen, denn es waren mehr Kekse zurückgelegt als üblich.

    „I mean … Ich meine, ich kann Ihnen leider nur sechs Stück geben. Die anderen sind für Mathilda, die Tochter unseres Bürgermeisters, wenn Sie verstehen, was ich meine … Der Bürgermeister ist übrigens mein Sohn, ja. Dennoch behandele ich Mathilda so wie alle anderen Kunden. Im Leben gibt es nichts umsonst. Man muss sich alles erarbeiten, wissen Sie? Das muss die Jugend lernen", dozierte Waltraud Meier, während sie McOrmand nebenbei musterte. Was sie sah, gefiel ihr ganz und gar nicht. Seine Augen hatten plötzlich einen glasigen Ausdruck angenommen. Er starrte auf die Kekse.

    „Ich möchte aber alle haben."

    „Ich, äh", sagte Waltraud Meier, die froh war, die Theke zwischen sich und dem Fremden zu haben, sie machte einen kleinen Schritt zurück, rieb nervös die Hände über die Schürze und hörte damit erst auf, als sie sah, dass die aufgerissenen Augen des Amerikaners nun auf ihre Hände starrten.

    „Ähm ja, also Mathilda kommt für gewöhnlich gegen 13 Uhr, also wenn sie etwas warten wollen, würden, wollen würden…, stammelte Waltraud Meier, da fiel ihr etwas ein, um die Situation auf ein anderes Thema zu lenken. Vielleicht bildete sie sich ja nur, dass etwas mit dem Unbekannten nicht stimmte. Bei ihm konnte es sich nur um den Mann von Schloss Doorn handeln, wenn man den Erzählungen ihrer Nachbarn trauen konnte. „Sie sprechen aber auch gut Deutsch. Wo haben Sie die Sprache gelernt?

    „Ich … ich habe sie mir beigebracht, so wie alle anderen Sprachen auch."

    „So wie alle … anderen, ach ja, natürlich. Waltraud Meier stieß ein kurzes helles Lachen aus. In diesem Moment trat Mathilda, die Tochter des Bürgermeisters fröhlich pfeifend in die Bäckerei, begleitet von Benno, dem Labrador ihrer Eltern. „Hallo, Frau Meier, sagte das Mädchen und strahlte die alte Dame mit funkelnden Augen an. Den Fremden hatte sie nur kurz von der Seite gemustert, aber ansonsten von ihm keine Notiz genommen.

    „Hallo, Mathilda, deine Kekse sind gleich abholbereit. Waltraud Meier griff nach einer kleinen Kuchenschaufel und einer Papiertüte, als sich der Fremde wieder zu Wort meldete, nur dass seine Stimme in den wenigen Minuten seiner Anwesenheit um einige Oktaven nach unten abgeglitten war, wodurch auch immer. „Kleine junge Dame, könntest du dir vorstellen, dem Onkel hier alle Kekse zu überlassen? Die nun fast fiebrig wirkenden Augen McOrmands wechselten in einem flinken hektischen Wechsel zwischen Mathilda, ihrem Hund Benno und den Keksen hin und her.

    Erst jetzt betrachtete Mathilda den Mann neben ihr genauer. Wie er da stand, mit dem hochgeklappten Kragen seines Mantels und dem irrlichternden Blick seiner Augen. Eigentlich hatte sie auf die Frage, die sie etwas merkwürdig fand, keine Antwort geben wollen, aber nach einer kurzen Pause entschloss sie sich dennoch dazu. Alles andere, das hatte ihr Vater ihr beigebracht, wäre höchst unhöflich gewesen.

    „Aber die werden jeden Sonntag für mich, meinen Papa und meine Mutti gebacken, antwortete Mathilda, „und manchmal bekommt auch Benno einen halben ab, obwohl er das nicht darf. Sie sagen es doch nicht meinen Eltern, oder? Ich habe das nie gesagt, wissen Sie.

    Irgendetwas an der Sprechweise des jungen Mädchens musste McOrmand aus seinem entrückten Zustand in die Wirklichkeit zurückgerufen haben, jedenfalls wirkte er plötzlich fast wieder normal. „Ich gebe dir, McOrmand hatte sein Portemonnaie gezückt, „dies hier.

    „Oh … Mathilda kannte sich mit fremdländischen Währungen nicht aus, aber auf dem Geldschein des fremden Mannes prangte ganz eindeutig eine 50. Es waren keine Euro, das sah sie, aber wenn diese Währung auch nur annähernd dasselbe wert war wie der Euro, dann … Sie sparte schon lange auf ein neues Fahrrad. Ihre Eltern hatten nicht so viel Geld. Ihre Mutter lebte, wie ungefähr die Hälfte der Einwohner Doorns, von staatlichen Transferleistungen. Sie konzentrierte sich wieder auf den Mann, irgendetwas halbwegs Sinnvolles musste sie ihm schließlich antworten. „Also, ich weiß nicht … Was ist denn das für ein Geldschein, so einen habe ich noch nie gesehen.

    „Das ist ein 50-Dollar-Schein. Der Euro steht etwas höher im Kurs, aber für eine Hand voll Kekse ist es ein verdammt guter Preis, wenn du mich fragst." Francis McOrmand hatte sich mittlerweile wieder gefangen.

    Er bedauerte, dass er fast die Kontrolle verloren hatte, dass ihn wieder einmal das Stottern heimgesucht hatte, ein altes Leiden und beileibe nicht das einzige, das ihn quälte. In diesen Momenten glaubte er, ganz weit aus der Ferne ein Pfeifen zu hören. Ein ungemein schönes Pfeifen mit einer einfachen, aber verführerischen Melodie. Nur hatte er nie ergründet, wer pfiff. Schon in seiner Kindheit hatte er sie gehört, diese Zauberklänge.

    McOrmand rief sich zur Ordnung, jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für romantische Erinnerungen. Seine Aussetzer häuften sich in letzter Zeit. Er würde etwas dagegen unternehmen müssen, und zwar schnell, sonst würden ihn diese Zustände bald überwältigen. Und das konnte er sich angesichts dessen, was er sich vorgenommen hatte auf Schloss Doorn, beim besten Willen nicht erlauben. Er grinste Mathilda unbeholfen an. Sie schaute ihn zögernd an, dann nickte sie. „Okay, deal. Sie die Kekse, ich die 50 Dollar."

    McOrmand reichte ihr lachend den Geldschein. Und auch Waltraud Meier war froh, dass das ungleiche Paar zu einem Handel gefunden hatte.

    Als der Fremde und Mathilda den Laden verließen, stand Waltraud Meier immer noch hinter der Theke. Sie blickte auf ihre zitternden Hände. Was war nur los mit ihr, waren ihre Nerven überreizt? Sie wusste nur, dass sie an diesem Abend ihren Sohn und Mann auf den unheimlichen Besucher ansprechen würde. Sie war froh, dass dieser einen anderen Weg als Mathilda eingeschlagen hatte. Während das junge Mädchen mit ihrem Hund in Richtung ihres Elternhauses gelaufen war, hatte der Amerikaner eine Limousine mit abgedunkelten Fensterscheiben bestiegen, sie kannte die Marke nicht. So wusste sie auch nicht, dass ähnliche Fahrzeuge von amerikanischen Präsidenten genutzt worden waren, weil sie schusssicher waren. „The beast" wurde das Auto von den Mitgliedern des Secret Service genannt, die für die Sicherheit des Präsidenten zuständig waren.

    Es war erst wenige Wochen her, dass Daniel Schaendler auf Schloss Doorn eingezogen war, doch es kam ihm vor wie eine kleine Ewigkeit. Er wusste nicht, woher sein ehemaliger Klassenlehrer in Berlin von dem dort untergebrachten Hochbegabteninternat Kenntnis erlangt hatte. Es war nicht so, dass es ihn nicht interessiert hätte, er und seine Eltern hatten schlicht vergessen, danach zu fragen. Letztlich war es aber auch egal, was zählte, war einzig und allein, dass das Schloss aus seiner Sicht einem Traum gleich kam, alles bereithielt, was sich ein Junge in seinem Alter – er hatte kürzlich seinen 16. Geburtstag gefeiert – wünschen konnte. Ein geheimnisvolles Anwesen, das Geschichte ausstrahlte und einen an fast jedem Stein ahnen ließ, dass in ihm vor langer Zeit Bedeutsames geschehen war. Was genau, wusste Daniel nicht. Er hatte nur von einigen Mitschülern gehört, dass die Anlage um das Jahr 970 herum von Rittern namens van den Graters errichtet worden war. Ihre Vorfahren hatten gegen die Westslawen gekämpft, die sich im Gebiet zwischen Oder und Elbe niedergelassen hatten und als Heiden galten. Aber schon vor dem Bau des Schlosses, das erst spät im Stil der Tudors ausgebaut worden war, sollten dort Menschen gelebt haben. Wie es hieß, lagen heute noch unter den Kellergewölben des Hauses mächtige Steine, die vor Jahrtausenden an dem Ort errichtet worden waren. Das hatten Daniel einige der Schüler erzählt, die auf seiner Etage einquartiert waren, und das waren anfangs nicht sehr viele. Als Daniel im Herbst sein Zimmer bezogen hatte, war nicht einmal jedes zweite bewohnt. In einem wohnte Margo, ein 15-jähriges Mädchen mit verführerisch langen Beinen, wie Daniel fand.

    Er hatte ihren Namen von Brandon, einem 16-jährigen Jungen erfahren, der am Ende des Etagenflures ein Zimmer bezogen hatte und fast blind war. Aus seinem Raum erklang oft Klaviermusik. Immer ein anderes Lied. Nach Daniels Meinung musste es ein Tonband sein, denn erstens spielte niemand so gut, und zweitens beherrschte allenfalls ein Meister ein solch großes Repertoire. Seit Daniel sein Quartier bezogen hatte, erklangen aus Brandons Raum Sonaten und immer neue Stücke. Es war verrückt. So schön und fesselnd die Musik auch war, sie brachte Daniel nicht von seinem Vorhaben ab, noch an diesem Abend Margo kennen zu lernen. Immerhin würde der Schulunterricht erst in der darauf folgenden Woche beginnen. Die Zeit bis dahin wollte er nicht verschwenden. Daniels Herz pochte etwas schneller als gewöhnlich. Er wartete einen Moment, bis sich sein Puls beruhigt hatte, dann nahm er allen Mut zusammen und klopfte an Margos Zimmertür, die aus Eichenholz gefertigt war. Zehn Minuten lang hatte er vor der Tür gestanden und damit gehadert, ob er es tun sollte.

    In Sichthöhe an der Tür hing ein schwerer bronzefarbener Metallring, dessen unteres Ende ein Löwenkopf zierte. Daniel fasste Mut, hob den Ring an und wuchtete ihn gegen die Tür.

    „Jaha, ich komme ja schon, hörte er Margo hinter der Tür rufen. Wenig später öffnete sie die Tür. Sie hatte gerade geduscht. Ihr langes schwarzes Haar, das er ebenso wie ihre langen Finger bewunderte, klebte nass an ihren Schultern. Margo hatte sich ein großes Badetuch umgeworfen. Neben ihren Füßen hatten sich winzige Pfützen gebildet. „Wenn du zehn Minuten wartest, komm ich raus und wir können was unternehmen. Länger brauche ich nicht, sagte Margo lachend.

    „Ich, äh, ja gut, ich warte." Was für ein schönes Lachen sie hat, und ihre weißen Zähne sind der Wahnsinn. Das ist definitiv mein Glückstag, dachte Daniel, der kaum wusste, was er sagen wollte. Dass Margo von sich aus vorschlug, mit ihm etwas zu unternehmen, übertraf seine kühnsten Erwartungen. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht damit.

    Zehn Minuten später, wie sie es versprochen hatte, stand sie vor ihm. „Und was unternehmen wir beide jetzt, hm?", fragte Margo, immer noch lachend. Sie hatte ihr Haar in einer Blitzaktion geföhnt. Ein paar Strähnen waren noch feucht, andere hingegen – von einer leichten statischen Elektrizität geladen – schwebten um ihr Haupt herum. Margos Haare reichten ihr weit über die Schultern.

    „Was hältst du davon, wenn wir uns die Keller ansehen, oder warst du da schon mal? Vielleicht hast du ja auch gehört, dass es dort Geheimnisse geben soll. Der Gärtner hat so was angedeutet."

    Daniel hatte den Gärtner schon mehrfach gesehen, aber bisher kein Wort mit ihm gewechselt. Der Mann schaute meist misstrauisch, und auf Daniel wirkte er wie ein Stummer, dem man irgendwann die Zunge herausgeschnitten hatte, eine Gestalt wie aus dem Mittelalter. Weil

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