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Tankred und die Bergsteiger
Tankred und die Bergsteiger
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eBook669 Seiten9 Stunden

Tankred und die Bergsteiger

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Über dieses E-Book

Tankred Deutsch wird ohne Vorwarnung aus seinem Trott gerissen, als seine Mutter ihren besten Freund mit einer Pfanne niederschlägt. Widerwillig muss sich Tankred durch das Wirrwarr der Familienhistorie sowie seiner Emotionen lavieren. Die Stasi, der Bruder, seine Freundin und Tankreds große Liebe Lejla lassen ihn zweifeln, das Leben zu leben, das er möchte. Was ihm bleibt, ist die Revolution!

Kennen wir unsere Mitmenschen wirklich? Reden wir nur, um das Schweigen zu übertönen? Sollen wir unsere Nächsten mit unseren Sorgen und Nöten malträtieren oder besser vorgeben, es sei alles so, wie es sein sollte? Das ist es, was der Protagonist Tankred im Laufe der Geschichte erfährt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum2. Okt. 2020
ISBN9783347132986
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    Buchvorschau

    Tankred und die Bergsteiger - Ulf Krämer

    TEIL 1

    Ekel, Ekel, Natur, Natur

    Ich will Beton pur

    Blauer Himmel, blaue See

    Hoch lebe die Betonfee

    Keine Vögel, Fische, Pflanzen

    Ich will nur im Beton tanzen.

    S.Y.P.H. – Zurück zum Beton

    Geldof

    Ihr Vater schenkte ihr das Gewehr zu Weihnachten. So war das Ende der Siebziger in Amerika, da legten Eltern ihren minderjährigen Töchtern eine Flinte unter den Weihnachtsbaum. Heute ist es bestimmt schlimmer. So muss es sein, weil immer alles schlimmer wird, schenkt man den Leuten Glauben. Sie öffnet das Fenster ihres Schlafzimmers, beobachtet die Schüler und Lehrer auf dem Schulhof gegenüber, wie sie es schon oft getan hat. Das alles langweilt sie. Zum Glück hat sie das Gewehr. Schießen hat sie von ihrem Vater gelernt. Gute Erziehung für einen orientierungslosen Teenager. Sie lädt die Waffe. Einatmen, ausatmen, den Puls beruhigen. Sie legt an, zielt, achtet auf den Wind, wie stark sich die Blätter an den Bäumen bewegen, visiert einen Mann auf dem Hof gegenüber an. Sie glaubt, dass es sich um den Hausmeister handelt, aber eigentlich ist ihr das egal. Sie drückt ab. Jemand stirbt. Die Menschen auf dem Hof wirken wie eine Herde Schafe. Jetzt rennen sie in Panik durcheinander. Das sieht lustig aus. Einer nach dem anderen sinkt zu Boden. Sie verbarrikadiert sich in ihrem Zimmer und wartet darauf, dass die Polizei auftaucht, um sie zu erschießen. Doch zuerst ruft die Presse an. Sie weiß nicht, woher der Reporter ihre Nummer hat. Es sei Montag und Montage möge sie nicht, erklärt sie ihm. So einfach kann das sein. Später wird sie verhaftet und wegen Mordes verurteilt.

    Was in der jungen Amerikanerin vor sich gegangen ist, weiß ich nicht, weil ich mir nicht vorstellen kann, mit einem Gewehr auf Leute zu ballern oder aus einer Laune heraus mein Leben wegzuwerfen. So etwas machen Durchschnittstypen wie ich nicht. Aber ich kenne Bob Geldofs Lied über die Ereignisse von damals. Es läuft im Autoradio, während ich vom Geburtstag meines Patenkinds Helga flüchte. Ein Dutzend durchgedrehte Kindergartenkinder sind um mich herumgesprungen und haben dabei gelärmt wie eine Horde Schimpansen. Mir tun die Ohren weh, meine Nerven liegen blank, auf meinem Schuh klebt Marmelade von einer Scheibe Toast, die ein besonders renitentes Schimpansenkind in meine Richtung geschleudert hat. Kinder sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Alles wird immer schlimmer! Der Komparativ als Determinismus. Man sollte nach der ersten kleinen Katastrophe nicht erwarten, plötzlich im Wohlbefinden zu baden, sondern klugerweise das Gegenteil annehmen: die zweite größere Katastrophe. Deshalb plagen mich böse Vorahnungen, seitdem mich meine Mutter zu sich gebeten hat. Am Telefon wirkte sie beinahe hysterisch. Ihre Stimme war erst schrill, dann ganz plötzlich brüchig. So kenne ich sie nicht. Melodramatik liegt ihr nicht.

    Ich parke im Innenhof der Bonner Straße 42 vor dem alten Atelier, das seit Jahrzehnten von wechselnden Künstlern und Studenten bevölkert wird. Meine Mutter wohnt im ersten Stock in der geräumigen Wohnung, die sie von ihren Schwiegereltern geerbt hat. Ich haste die Stufen hinauf und benutze meinen Schlüssel, um einzutreten. Meistens schelle ich vorher an, aber heute erscheint das überflüssig. Meine Mutter sitzt im Wohnzimmer am Fenster und starrt nach draußen. Ich trete neben sie und nehme sie kurz in den Arm. Von hier kann man den Lieferanteneingang der Bürgerpflicht, unserer kleinen Kneipe im Vorderhaus, sehen. Wahrscheinlich ist Önal dabei, alles für den alltäglichen Betrieb heute Abend vorzubereiten.

    Meine Mutter führt mich in ihre Küche. Am Boden liegt in einer Blutlache Laurenz Tillinger. Ich kann mich nicht erinnern, wann mich zum letzten Mal etwas derartig unvorbereitet getroffen hat. Vielleicht als Lejla damals auf der Mine stand – oder als junges Mädchen vor unserer Tür. Aber das ist gefühlt tausend Jahre her. Ich halte mich am Tisch fest und versuche nicht zu schreien. Laurenz ist der beste Freund meiner Mutter. Seit sie ihm in den Achtzigern zur Flucht aus der DDR verholfen hat, verbindet die Familien Tillinger und Deutsch eine feste Bande.

    »Warum rufst du keinen Krankenwagen?«, frage ich benommen.

    »Ich habe Angst, dass er tot ist.«

    Sie ist aschfahl im Gesicht. Ihre Hände zittern. Ich nähere mich dem scheinbar leblosen Körper am Boden. Laurenz blutet aus einer Wunde am Hinterkopf. Neben ihm auf dem Boden liegt die alte gusseiserne Pfanne, die meine Mutter benutzt, seit ich denken kann. Ich gehe neben Laurenz auf die Knie und halte mein Ohr über seinen Mund. Ganz schwach spüre ich seinen Atem. Erleichterung erfasst mich.

    »Scheiße, Mama. Was ist passiert?«, flüstere ich leise, als könne meine Stimme Laurenz’ Atem zum Erlöschen bringen.

    »Wir haben uns gestritten«, sagt meine Mutter und ich sehe sie weinen, zum ersten Mal in meinem Leben. Vielleicht hat sie geweint, als mein Vater gestorben ist, aber damals war ich noch so jung, ich habe in meinem Schmerz nur mich selbst wahrgenommen.

    »Und dann hast du ihn erschlagen?«, frage ich plötzlich nervös.

    Sie zuckt zurück, wirkt verschreckt, als habe ich etwas Ungeheuerliches von mir gegeben. Einen Moment hoffe ich zu träumen, dann wähle ich die 112. Viel zu spät.

    »Was ist mit Linus und Anna?«, erkundige ich mich nach meinen Geschwistern.

    »Anna ist mit ihrer Freundin weg. Die planen etwas wegen ihrer Reise nach Laos. Und Linus geht nicht ans Telefon.«

    Das ist nicht weiter überraschend. Arbeitet mein Bruder nicht in unserem gemeinsamen Laden, sitzt er zuhause auf dem Sofa und schaut Fernsehen. Dabei lässt er sich nicht gern ablenken. Am anderen Ende der Notrufnummer meldet sich eine Frau. Ich erkläre ihr, wer und wo ich sei und dass ein schwerverletzter Mann in der Küche meiner Mutter liege.

    »Ich raff das nicht, Mama!«, sage ich, nachdem ich aufgelegt habe, und beuge mich erneut zu Laurenz hinunter. Ich kann nicht besonders gut mit Verletzten umgehen und einen Ersthelferkurs habe ich seit der Fahrschule nicht mehr besucht. Das ist schon fast zwanzig Jahre her. Vielleicht sollte man Laurenz in die stabile Seitenlage bringen, aber ich erinnere mich nicht, wie das geht. Ich streiche ihm hilflos über die Wange und halte seine Hand. Er reagiert nicht. Aus der Wunde am Hinterkopf sickert dunkelrotes Blut. Vermutlich wäre es klug, den Fluss zu stoppen. Kann ich auf eine offene Kopfwunde ein Handtuch drücken? Was ist, wenn er einen Schädelbruch hat? Ich schätzte das Gewicht der schweren, alten Pfanne, die neben mir am Boden liegt, auf vier bis fünf Kilo. Ordentlich geschwungen und mit der passenden Hebelwirkung kann man damit einen Knochen knacken.

    An der unteren Seite der Pfanne kleben graue Haare und Hautfetzen. Mir wird schlecht, aber ich reiße mich zusammen. In außergewöhnlichen Situationen ist es nicht opportun, gewöhnlich zu reagieren. Mein Blick fällt auf eine Zeitung neben der Pfanne. Sie ist nicht aktuell. Die Headline verkündet den Fund einer Leiche im Bahnhof. Das ist vor einigen Tagen durch die Presse gegangen. Ich kann mich erinnern, diesen Artikel beim Frühstück gelesen zu haben. Alina beschwerte sich darüber, dass ich keine Erdnussbutter gekauft hätte. Das Hirn merkt sich seltsame Details.

    Als endlich die Sanitäter und der Notarzt kommen, verschwindet meine Mutter im Wohnzimmer. Die Männer untersuchen Laurenz vorsichtig, verbinden seine Wunde, legen ihm eine Halsmanschette an und verfrachten ihn auf eine Trage. Währenddessen kommt auch die Polizei, die routinemäßig mit dem Notruf vom Krankenhaus verständigt worden ist. Ein dicker Chefbulle befragt mich. Ich mache von meinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, um meine Mutter nicht zu belasten. Das übernimmt sie dann selbst, in dem sie gesteht, Laurenz mit einer Pfanne niedergeschlagen zu haben. Mehr sagt sie nicht. Die Polizisten verhaften sie und nehmen sie mit. Einfach so. Keine großen Worte. Kein großes Drama. Kein Widerstand durch meine Mutter. Sie lässt es geschehen. Ich weiß nicht, ob ich vor Wut rasen oder verzweifeln soll. Die Beamten werfen mich aus der Wohnung, die als Tatort gesichert wird. Es handele sich womöglich um versuchten Mord, höre ich eine Polizistin durch ein altmodisches Funkgerät sagen, als ich die Treppe hinunter in den Innenhof gehe. Es sind genau einundzwanzig Stufen, das habe ich während meiner Kindheit hunderte Male gezählt. Immer und immer wieder einundzwanzig. In diesem Moment hätte es mich nicht gewundert, wären es plötzlich mehr oder weniger gewesen.

    Ich schaue den beiden Wagen nach, während sie langsam davonrollen. In einem sitzt meine Mutter. Dann wird es still. Die Straße liegt menschenleer vor mir, nicht mal Vogelgezwitscher ist zu hören. Die Zeit scheint stehen zu bleiben. Ich rufe Alina an, die sich nicht meldet. Montags geht sie zum Badminton und danach mit ihrer Freundin etwas trinken. Währenddessen schaltet sie für gewöhnlich das Handy aus. Ich versuche es bei meinem Bruder. Er nimmt nicht ab. Wir verstehen uns nicht besonders, aber in Momenten wie heute halten Brüder zusammen. Dafür gibt es Familie. Solange meine Freundin nicht zu erreichen ist, stellt Linus eine Art natürlichen Ansprechpartner für Notsituationen dar.

    Ich gehe die Straße Richtung Norden bis zum Axtbrecher-Komplex, einer modernen Wohnanlage, in die Linus vor einigen Jahren gezogen ist. Ich bin eine ganze Weile nicht mehr hier gewesen, zuletzt zu seinem zweiundvierzigsten Geburtstag. Kaum habe ich geklingelt, springt die Tür zum Hausflur auf. Oben ist die Wohnungstür nur angelehnt. Irgendetwas stimmt nicht. Dass Linus zuhause ist, nicht ans Telefon geht, aber ohne Nachfrage alle Türen öffnet, erscheint verdächtig. Er ist nicht der Typ, der Fremde mit offenen Armen empfängt. Sein erster Gedanke ist für gewöhnlich, was ihm weggenommen werden könnte. Ich weiß nicht, woher er das hat. Sowohl meine Mutter als auch meine Schwester Anna sind ganz anders als er.

    »Das ging aber schnell«, ruft Linus aus dem Schlafzimmer. »Ich hole das Geld, kleinen Moment.«

    Er erwartet den Lieferservice, denke ich. Linus steht auf chinesische Küche, vielleicht eine Art Ausgleich zu unserem Laden, der RegioCulina, in der wir regionale Feinkost verkaufen.

    »Bin gleich da«, singt Linus mit hoher Stimme.

    Ich komme ihm zuvor und drücke die Tür zum Schlafzimmer auf. Linus steht im Bademantel vor mir und lässt sein Portemonnaie auf den Boden fallen. Einige Münzen rollen klirrend über den Parkettboden. Ich schaue nach unten und sehe den runden Metallstücken zu, die durch den Raum kullern. Mein Blick wandert zum Fernseher, auf dem tonlos ein Film läuft, in dem eine Frau von zwei Männern gleichzeitig penetriert wird. Auf der Fensterbank darüber stehen ein Dutzend brennende Kerzen, dazwischen ein Kaktus. Im ganzen Schlafzimmer ist es schrecklich heiß und miefig. Die Frau im Film streckt ihren Hintern in Richtung Kamera. Über ihr ist ein riesiger Penis zu sehen. Ich finde Pornos ekelig, allerdings behalte ich das für mich, weil man mit solchen Ansichten unter Männern schnell als verklemmt gilt. Meine Vorstellung von Erotik ist anders, aber ich bin anscheinend seltsam sozialisiert. Viele mögen Pornos, sonst gäbe es sie nicht. Das nennt man Angebot und Nachfrage. Nicht ganz eindeutig ist, zu welcher Seite meine Freundin Alina zählt. Gehört sie zum Angebot oder bestimmt sie die Nachfrage? Mir gegenüber hat sie behauptet, Sex auf dem Bildschirm sei ihr zu unrealistisch. Deshalb haben wir nie zusammen einen Porno geguckt. Jetzt liegt sie nackt auf dem Bett. Ihr Haar ist schweißnass. Auf ihrer Brust klebt Sperma. Im Fernsehen wird gerammelt. In mir keimt der Verdacht, Alina könnte es mit der Ehrlichkeit nicht allzu genau nehmen. Wahrscheinlich spielt sie gar kein Badminton. Einen Schläger habe ich in unserer Wohnung noch nie gesehen. Für Sex braucht man keine Spielgeräte. Und sie trainiert nicht mit ihrer Freundin, sondern mit meinem Bruder. Sicher deponiert er seine Spermien bei Bedarf auch an anderen Orten als auf ihren Brüsten.

    Ich starre auf eine Zwei-Euro-Münze vor meinem Fuß, meine Lieblingsmünze, nicht weil sie die wertvollste ist, sondern weil sie gut in der Hand liegt. Deshalb mag ich auch die kleinen, dicken Ein-Pfund-Münzen, mit denen ich in London bezahlt habe, als ich damals Lejla besuchte. Lejla. Ich habe mir eingeredet, in meiner Beziehung zu Alina sei kein Raum für sie – nicht mal in meinen Gedanken. Betrachte ich die Orgie aus Porno, Sperma, kitschigen Kerzen und Kleingeld, könnte das ein Fehler gewesen sein.

    »Das ist jetzt schon eine Überraschung«, sage ich und kicke die Münze unter das Bett.

    »Fuck …«, sagt Alina hockt sich auf die Knie, was es nicht besser macht, weil ich sie jetzt deutlicher sehen kann. Sie ist schön, aber leider verbraucht – auch wenn das fies klingt.

    »Ja, das passt wohl«, bemerke ich lapidar.

    »Mann, was machst du …«, brabbelt Linus hilflos.

    »Wollte mal vorbeischauen, weil Alina beim Badminton ist.«

    Ich wundere mich, wie ruhig ich bleibe. Der Kindergeburtstag am Nachmittag hat mich mehr aus der Fassung gebracht. An meinem Schuh klebt nach wie vor die Marmelade. Erdbeer-Mango. Was ist bloß aus der Welt geworden, dass Kinder so etwas essen? Alina mag keine Marmelade. Aber sie steht angeblich auch nicht auf Pornos und hat sich von mir nie mit Sperma bespritzen lassen. Wahrscheinlich isst sie heimlich Marmelade aus dem Glas. Mit den Fingern. Ich senke den Blick. Auf dem Boden neben einem weiteren Geldstück liegen zwei benutzte Kondome. Addiere ich die Spuren auf Alina, komme ich auf drei.

    »Junge, du kommst doch sonst auch nicht unangemeldet. Wir haben doch alle Handys und können …«

    »Halt die Fresse, Linus«, sage ich kopfschüttelnd.

    Die Redewendung Junge hat er sich innerhalb des letzten Jahres angewöhnt. Mit Sprache hat er es nicht so. Wahrscheinlich denkt er, es wäre cool, wie ein Teenager zu sprechen. So kriegt er Frauen rum. Der Erfolg gibt ihm recht. Junge, Alina zu ficken ist echt töfte. Obwohl töfte heute kaum noch einer sagt und Linus ganz sicher nicht. Der Begriff ficken würde ihm stehen, denn das, was die beiden hier treiben, hat nichts mit Gefühlen zu tun, dafür kenne ich Alina zu gut. Sie empfindet nichts für Linus, ihr geht es um etwas anderes. Aber das ist belanglos. Alina ist Geschichte. Manchmal kann man nicht mehr zurück, so wie meine Mutter mit ihrer Pfanne.

    »Jetzt bleib locker. Wir müssen reden, Tankred«, sagt Linus.

    Ich habe keine Ahnung, worüber er angesichts dieser perfekt inszenierten Groteske mit mir reden möchte. Alina klettert aus dem Bett, allerdings scheint sie nicht zu wissen, was sie als nächstes tun soll. Verloren steht sie zwischen Linus und mir im Niemandsland und schaut abwechselnd zu ihm, zu mir und auf den Boden. Ich frage mich, warum sie sich nicht etwas überzieht, das könnte ihre Würde ansatzweise erhalten.

    »Mama ist verhaftet worden«, sage ich zu Alina. »Und weil du beim Badminton bist, habe ich gehofft, mit Linus darüber sprechen zu können.«

    »Wie? Verhaftet?«, fragt er.

    »Sie hat Laurenz ins Koma geprügelt.«

    Die Worte klingen absurd, passen aber gut in den Raum.

    »Was soll das? Spinnst du jetzt? Verhaftet? Koma?«, ruft Linus.

    »Sie beschuldigen sie des Totschlags oder Mordes oder was weiß ich.«

    »Scheiße, das tut mir leid«, murmelt Alina und nimmt mich unvermittelt in den Arm, was mich einen Augenblick überwältigt, weil ich mit allem Möglichen gerechnet habe, aber ganz sicher nicht damit, dass meine nackte Freundin das Sperma meines Bruders, das sie nach wie vor auf ihrer Brust trägt, an meiner unverhältnismäßig teuren Übergangsjacke abwischt. So sanft wie möglich schubse ich sie weg. Alina taumelt einen Meter nach hinten, Linus springt nach vorn, um sie zu halten, aber sie wehrt ihn ab. Sie ist jung und durchtrainiert – wenn auch nicht vom Badminton –, einen kleinen Stoß kann sie ab.

    Die Klingel ertönt.

    »Eure Ente ist da«, sage ich. »Süß sauer. Lecker. Lecker. Lasst es euch schmecken.«

    Ich verlasse das Schlafzimmer. Im Flur sehe ich Alinas Slip liegen. Die beiden hatten richtig Spaß und dann komme ich und mache alles kaputt. Wie ärgerlich. Im Treppenhaus begegne ich einem Mädchen mit zwei Tüten unter den Arm geklemmt. Anhand der Aufschrift identifiziere ich den Mongolen aus meiner Straße, bei dem Alina und ich jeden Sonntag bestellen. Ein bisschen Vertrautheit scheint sie auch in Linus‘ Armen zu brauchen.

    Laurenz

    Das blonde Mädchen musste etwa in seinem Alter sein und sah reizend aus, auch wenn selbst ein Blinder mit einem Krückstock sie fünf Meilen gegen den Wind als Westdeutsche identifiziert hätte. Er folgte ihm mit genügend Abstand durch die Dunkelheit, um nicht aufzufallen. Zum ersten Mal hatte er es vor zwei Monaten nach einem Besuch bei seinem Vater gesehen. Es hatte zusammen mit seiner Mutter Maria im engen Wohnzimmer seines Vaters Josef auf dem Sofa gehockt und ein Buch gelesen. Die Blechtrommel. Westliteratur. Was auch sonst. Das Mädchen hatte ihn nicht einmal wahrgenommen, während er stumm an der Wohnungstür gestanden und gewartet hatte, bis sein Vater ihm zwanzig Ostmark gegeben hatte, damit er wieder verschwand. Das wären Mafiamethoden, hatte sich sein Vater beschwert, aber das kümmerte Laurenz nicht. Seit sich Josef von seiner Mutter getrennt hatte, war er für ihn nicht mehr als sein Erzeuger. Und der Grund für die Scheidung saß neben dem blonden Mädchen auf dem Sofa und aß Kirschkuchen mit Streuseln.

    Laurenz wusste nicht, woher sich Maria und Josef kannten. Er vermutete, es hatte etwas mit dem Krieg zu tun, zumindest meinte er sich erinnern zu können, dass sein Vater einmal so etwas erwähnt hatte. Laurenz traute sich nicht, weiter nachzufragen. Er war sogar froh, nicht länger mit seinem Vater unter einem Dach leben zu müssen. Obwohl Josef ihm nie etwas getan hatte, fürchtete er sich vor ihm. Er konnte das nicht begründen, es war nicht mehr als ein unbestimmtes Gefühl. Er erinnerte sich an das Gespräch vor einigen Wochen, dem letzten längeren, welches sie geführt hatten. Laurenz hatte seinem Vater von dem Achtzehnjährigen erzählt, der bei einem Fluchtversuch in Berlin angeschossen und eine Stunde schreiend im Todesstreifen liegen gelassen worden war, bis er schließlich verblutet war. Sein Vater hatte ihn daraufhin als einfältigen Trottel beschimpft, der heimlich Westfernsehen schaue und imperialistischen Dreck Glauben schenkte. Natürlich hatten sie beide gewusst, dass die Geschichte mit dem jungen Republikflüchtling der Wahrheit entsprach, das hatte sich inzwischen selbst in der DDR herumgesprochen, aber trotzdem hatte sein Vater so getan, als käme es einem Volksverrat nahe, stellte man sich gegen die offizielle DDR-Lesart der Geschehnisse.

    Ihm fiel auf, dass er nicht einmal den Namen des Mädchens kannte. Es ging schnellen Schrittes Richtung Innenstadt, ohne sich einmal umzudrehen. Laurenz hatte Mühe, mit ihm mitzuhalten und dabei möglichst unauffällig zu wirken. Nach einigen Minuten bog es rechts ab in eine dunkle Gasse. Als Laurenz die schmale Straße erreichte, war das Mädchen verschwunden. Links befand sich ein bekannter Jugendclub, in den einige von Laurenz’ Klassenkameraden gingen. Er war noch nie hier gewesen. Unsicher betrat er den Club. Am Eingang lungerten einige ältere Jungs herum und beäugten ihn misstrauisch. Er ignorierte sie mit einem mulmigen Gefühl im Bauch und betrat den Laden, der ihm wie eine Mischung aus einem geschmacklos eingerichteten Wohnzimmer und einer ranzigen Lagerhalle vorkam. Die meisten Besucher waren älter als er und nicht besonders gut gelaunt. Es wurde mäßig getrunken und viel diskutiert. An der Theke holte er sich ein Sternburg-Bier. Es kostete 80 Pfennig. Er hatte bisher nur selten Bier getrunken, schließlich war er gerade erst sechzehn. Einige seiner Altersgenossen trafen sich gern privat und bedienten sich dann an den Vorräten ihrer Eltern, aber da machte er nicht mit.

    Das Bier war zu warm und schmeckte bitter und pappig. Trotzdem trank er diszipliniert. Das war die preußische Seele in ihm. Pünktlich, aufrecht, tapfer und durch nichts zu erschüttern. Die Deutschen machten keine halben Sachen. Sie errichteten Mauern, wenn es sein musste, um sich gegen die Feinde aus den eigenen Reihen zu schützen. Oder um sich selbst einzusperren und den Schlüssel wegzuwerfen – je nach Sichtweise oder Parteibuch. Sein Volk führte auch gern Krieg und vernichtete Menschen, nur dass darüber heute niemand mehr sprach oder es den Westdeutschen in die Schuhe geschoben wurde. Die wurden als Verlierer der Geschichte bezeichnet, sie selbst im Osten gehörten zu den Gewinnern. Dabei hatte 1933 – als in Deutschland plötzlich Stahl ein jedermanns Lieblingsmaterial geworden war und alle nur noch von Größe, Rasse und Reinheit gesprochen hatten – die Menschheit als Ganzes verloren. In diesem Punkt war er sich sogar mit seinem Vater einig.

    Auf der anderen Seite der Tanzfläche entdeckte er das Mädchen aus dem Westen. Es hielt ebenfalls ein Sternburg in der Hand und unterhielt sich mit einem älteren Jungen. Laurenz spürte Eifersucht. Er hatte sich noch nie so sehr für jemanden interessiert. Als der Junge ging, nahm er sein Herz in die Hand und stellte sich neben das Mädchen. Es musterte ihn neugierig.

    »Was ist das für ein Tanz?«, fragte es.

    Er betrachtete die Gäste, die zu langweiliger Musik albern durch den Raum hoppelten. »Das ist Lipsi«, sagte er.

    »Ach so, klar.«

    »Den Tanz hat unser Politbüro erfunden.«

    »Sowieso.«

    »Bist du aus dem Westen oder was?«

    Das Mädchen schaute weg und nahm einen großen Schluck aus der Bierflasche. Anscheinend wollte es nicht gern als Klassenfeindin enttarnt werden.

    »Ordentlicher Zug für ein Mädchen«, sagte er und lächelte.

    »Scheiß Spruch für einen Jungen«, antwortete es und schaute ihm zum ersten Mal richtig ins Gesicht.

    »Ich heiße Laurenz«, sagte er.

    »Greta.«

    Er grinste und hielt ihr sein Bier entgegen.

    »Was soll das jetzt bedeuten?«, fragte Greta verwirrt.

    »Ich will mit dir anstoßen. Auf die deutsch-deutsche Freundschaft.«

    Sie ließ ihre Flasche vorsichtig gegen seine prallen. Es klirrte leise.

    »Greta ist ein schöner Name«, sagte Laurenz.

    »Danke. Das hat noch nie jemand zu mir gesagt.«

    »Und deine Haare duften total. Das ist bestimmt Westseife.«

    Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Das ist Westhaar.«

    »Eingebildet biste ja gar nicht, oder?«

    »Sind wir drüben doch alle.«

    »Stimmt auch wieder.«

    Eine Band begann zu spielen. Ein Schlagzeuger, ein Bassist und eine Frau an der Gitarre haspelten sich durch Jamaica Farewell von Harry Belafonte. Obwohl die Band schlecht war, gefiel es Laurenz. Er mochte Musik aus dem Westen. »Die spielen ganz viel verbotenes Zeug«, rief er.

    »Haben die Musiker keine Sorge, dass die erwischt werden?«

    Er zuckte mit den Schultern. »Anscheinend nicht. Wenn sie die Musik lieben, dann sollten sie die auch spielen.«

    »Das sieht wahrscheinlich nicht jeder so, oder?«

    »Der Mielke kann ja schlecht überall seine Ohren haben.«

    Greta antwortete nicht.

    »Mielke ist der Leiter des MfS«, erklärte Laurenz. »MfS heißt Ministerium für Staats…«

    »Ich weiß wer das ist und was das heißt«, unterbrach sie ihn schroff. »Nur weil ich aus dem Westen komme und ein Mädchen bin, bedeutet das nicht, dass ich keine Ahnung habe.«

    Laurenz schwieg. Er kannte es nicht, so von einer Gleichaltrigen zurechtgewiesen zu werden. Greta war nicht nur außergewöhnlich schön, sondern auch gefährlich, überlegte er.

    »Kennst du Tsutomo Yamaguchi?«, fragte sie nach einer Weile.

    Er überlegte, ob es sich bei der Person um jemanden handelte, die im Westen jedes Kind kannte. Würde er sich blamieren, gäbe er sein Unwissen zu? Wollte sie ihn als dummes Ostkind darstellen? »Keine Ahnung. Ich kann mir Namen nicht gut merken.«

    »Letztes Jahr haben wir im Westen alle eine Broschüre bekommen, in der uns erklärt wird, wie wir einen Atombombenangriff unbeschadet überstehen können.«

    »Gar nicht, würde ich sagen«, rief er.

    Sie nickte. »Frag mal Tsutomo Yamaguchi. Von dem wird da berichtet. Der hat sowohl Hiroshima als auch Nagasaki überlebt. Erstaunlich, findest du nicht?«

    »Wer schickt denn in der BRD so einen Mist herum? Die Bild-Zeitung oder wer?«

    »Bundesamt für Zivilschutz. Wir sollen auf einen Angriff von euren Verbündeten aus der Sowjetunion vorbereitet werden.«

    »Und was hast du gelernt? Wegrennen und beten?«

    Greta lächelte und das gefiel Laurenz. »Wer rennt, der stirbt. Hinfallen lassen, Ohren und Augen zuhalten, ein Loch buddeln. Die Hitzewelle einer Atombombe ist zwar mehrere Millionen Grad heiß, reicht Dutzende von Kilometern, aber wirkt nur sehr kurz und nicht in die Tiefe. Eigentlich also kaum gefährlich.«

    Laurenz wusste nicht recht, wie er Gretas Ausführungen einordnen sollte. Machte sie sich über ihn lustig oder kritisierte sie ihre Regierung, die lächerliche Überlebensstrategien verbreitete? »Wie kommst du eigentlich auf diesen Yamaguchi?«

    Sie nippte an ihrem Bier. »Weiß auch nicht so genau. Seit ich regelmäßig hier bei euch drüben bin, nervt mich das irgendwie, dass die Menschen und die Politiker im Speziellen so bescheuert sind. Ich meine, die haben letztes Jahr eine Mauer durch Berlin gebaut und seitdem schießen die auf euch. Das ist doch krank.«

    Sie schien zu allem eine Meinung zu haben. Das verunsicherte Laurenz, zugleich faszinierte es ihn.

    »Ich bin der Sohn von Josef«, sagte er, während die Band ein neues Lied anstimmte, das er nicht kannte.

    Sie schaute skeptisch. »Wie jetzt?«

    Er zuckte unsicher mit den Schultern, da er nicht wusste, wie sie reagieren würde. Vielleicht wollte sie nichts mit dem Sohn des Liebhabers ihrer Mutter zu tun haben.

    »Du meinst Josef Tillinger?«, fragte sie.

    »Richtig. Du wohnst in meinem alten Kinderzimmer, wenn du mit deiner Mutter bei ihm bist.«

    »Hätte nicht gedacht, dass du mich so überraschen würdest«, sagte sie und grinste.

    Zur Verabschiedung knutschen sie, drei Monate später trafen sie sich ein zweites Mal. Bei der dritten Verabredung schliefen sie zum ersten Mal miteinander. Laurenz schaffte es gerade noch in sie einzudringen, bevor er kam. Ab diesem Moment teilte sich sein Leben in zwei Phase – die Zeit mit Greta und die ohne. Seine Geduld wurde dabei auf eine schwerwiegende Probe gestellt. Jeder Tag ohne Greta erschien ihm verloren. Er interessierte sich für nichts anderes mehr. Der Kalender wurde sein treuster Begleiter, sein Hoffnungsträger und, wenn es noch Monate dauern sollte, bis er Greta wiedersehen konnte, zu seinem ärgsten Feind. Zudem begann er Hass auf die DDR zu entwickeln, auf einen Staat, der ihn zu diesen grausamen Wartezeiten verdammte, weil er es ihm nicht erlaubte, vierhundert Kilometer durch Deutschland zu seiner Freundin zu reisen.

    1984

    Meine Kindheit war geprägt von meiner Mama, meinem Bruder Linus und einigen seltsamen Ereignissen, die ich meistens erst Jahre später einordnen konnte. Ich erinnere mich noch gut an das Ehepaar Popp, das in der Wohnung ein Stock über uns wohnte – bis irgendwann Herr Lörich die Wohnung kaufte und die beiden hinauswarf. Herr Popp war bei einer Versicherung angestellt, sie machte auf Hausfrau, obwohl die beiden gar keine Kinder hatten. Die Frau schaute immer freundlich, begegnete sie uns auf der Treppe, aber sie hatte eine Art an sich, die sie unheimlich wirken ließ. Sie nannte mich manchmal den Bastardjungen. Dabei lächelte sie fröhlich, als machte sie mir ein Kompliment, aber so dumm war ich nicht, zu glauben, die Bezeichnung Bastardjunge sei etwas Positives.

    In der Schule bezeichnete mich niemand als Bastard, aber ohne Vater und mit einer unverheirateten Mutter aufzuwachsen, schien ungewöhnlich genug zu sein, um es wiederholt herauszustellen – allen voran von meiner Klassenlehrerin Frau Neumann, einer inkompetenten Hexe, der rational denkenden Menschen nicht mal ihren Kanarienvogel anvertraut hätten, wären ihnen der miese Charakter dieser Frau bekannt gewesen. Das Prinzip in meiner Grundschule war nicht Liebe und Vertrauen, wie man es sich von seiner ersten Klassenlehrerin wünscht, sondern blanke Angst. Wir waren fünfundzwanzig fehlbare Kinder im ewigen Kampf gegeneinander, vereint nur durch die panische Furcht vor dem Versagen. Trotzdem haben wir Frau Neumann verehrt, denn als kleiner Hosenscheißer klammert man sich an jeden Strohhalm, um den temporären Verlust der Mutter während der Schulzeit zu kompensieren.

    Zum Sommerfest der Grundschule begleitete uns Platten-Andi, einer der besten Freunde meiner Mutter. Er kaufte mir Waffeln und Frau Neumann hinter dem Stand fragte, ob das mein neuer Vater sei. Es würde sie richtig freuen, unsere Familie könnte einen Mann gut vertragen. »Ein echter Junge braucht auch einen echten Kerl als Vaterfigur«, sagte sie lächelnd.

    Ich hatte danach keinen Hunger mehr. Ihr Verhalten wirkte auf ein Kind meines Alters verstörend. Meine Mama kaufte mir einen Luftballon, den wir später mit Gas füllten, eine frankierte und mit unserer Adresse versehenen Postkarte daran befestigten und zum Abschluss der Feier zusammen mit Dutzenden anderer Ballons in den Himmel aufsteigen ließen. Am Ende sollte der gewinnen, der die größte Distanz hinter sich brachte – und dessen Karte zurückgeschickt wurde. Seltsamerweise schaffte es meiner mit Abstand am weitesten, nämlich bis in die DDR, die sich in meiner Vorstellung wirklich am Ende der Welt befand. Ich hätte mich freuen sollen, als die Postkarte mit freundlichen Grüßen von unseren sozialistischen Nachbarn zu uns zurückkam und ich einen Lego-Lastwagen als Preis erhielt. Aber ich ahnte, dass hier etwas nicht stimmte, und als meine Mutter etwas später verkündete, die Familie Deutsch würde bald ihre neuen Freunde im Osten besuchen, wusste ich, warum ich misstrauisch gewesen war. Dank meines Luftballons mussten wir in die DDR reisen und das war wahrlich keine verlockende Aussicht.

    »Alle Dunkeldeutschen sind Spitzel«, erklärte mir Linus, während unsere Mutter uns in den alten Opel Ascona scheuchte, den sie fuhr, seit ich denken konnte. Damals war unser brüderliches Verhältnis noch in Ordnung. Linus war gerade vierzehn geworden und wusste genau, was abging. Ich schaute zu ihm auf und hing an seinen Lippen, die viel und weise sprachen.

    »Was ist ein Spitzel?«, fragte ich wehmütig zurückblickend, als wir die Bonner Straße verließen und am Bahnhof vorbei Richtung Autobahn fuhren.

    »Das sind Menschen, die andere ausspionieren, aber nicht wie James Bond, der das für die Freiheit tut, sondern genau umgekehrt, um die Menschen besser einsperren zu können.«

    Selbstverständlich gehörte James Bond zu meinen Helden, erst recht nachdem ich heimlich mit Linus Moonraker im Fernsehen geschaut hatte. Tagelang hatte ich an nichts anderes als das hässliche Monster mit den Metallzähnen denken können. Noch mehr Angst hatte ich nur vor den Kommunisten. So absurd es sein mochte, ich war mir sicher, die Welt im Osten hinter der Grenze wäre schwarzweiß statt bunt, die Luft röche modrig und es wäre eiskalt. Linus’ Einflüsterungen funktionierten.

    »Bei uns im Westen wird es auch immer schlimmer«, behauptete er, kurz nachdem wir Kassel hinter uns gelassen hatten. »Letztes Jahr sind die Grünen in den Bundestag gewählt worden. Das ist eine Partei voller Durchgeknallter.«

    »Red doch nicht so einen Stuss«, sagte meine Mutter und ich wusste, dass sie mit den Augen rollte, obwohl ich das von der Rücksitzbank aus nicht sehen konnte.

    »Das sind gefährliche Superspinner«, beharrte Linus auf seinem Standpunkt. »Die wollen, dass wir Männer alle lange Haare tragen wie damals die Hippies, Fleischessen verbieten und Atomkraft auch. Dann steigen die Preise für Elektrizität so stark an, dass normale Menschen wie wir nur noch drei Stunden am Tag Licht machen oder fernsehen können. Das sind Feinde des technischen Fortschritts. Und die wollen sogar Sex mit Kindern erlauben.«

    Meine Mutter stöhnte auf, kommentierte die Tiraden meines Bruders aber nicht. Mir wurde ganz übel, weil ich Angst davor hatte, bald nicht mehr fernsehen zu können. Die Sache mit dem Sex fand ich nicht so beunruhigend, da ich mich damit nicht auskannte, aber ich vermutete, es handelte sich um etwas ziemlich Schreckliches. Zum Glück war da noch Helmut Kohl. Dieser massige Mann, der so seltsam sprach, war mein einziger Hoffnungsträger, dass es in unserem Teil Deutschlands niemals so weit kommen würde. Dank Linus’ Unterweisungen wurde er zu meinem persönlichen Supermann Nummer zwei direkt hinter Felix Magath. Und wer weiß, hätte der HSV nicht den Europapokal gegen Juventus gewonnen, vielleicht hätte es Helmut Kohl sogar auf die Nummer eins geschafft. So prangte ein Poster von Magath, dem Siegtorschützen, in meinem Zimmer. Wahrscheinlich war das auch besser so, denn hätte ich den Kohl an meine Wand gehängt, wäre meine Mutter zweifellos ausgerastet. Sie mochte den nicht. Linus meinte, das läge daran, dass sie eine Frau sei und Frauen keine Ahnung von Politik hätten. Das wiederum konnte ich nicht beurteilen, aber da mein Bruder in vielen Dingen recht hatte, widersprach ich ihm nicht.

    Linus lamentierte bis zur Grenze, er wolle nicht in das andere Deutschland, weil man die Kommunisten nicht mit unseren Devisen unterstützen dürfe. Am Grenzübergang Herleshausen hielten uns Polizisten auf und untersuchten unsere Klamotten, als seien wir Kriminelle. Anna weinte ohne Pause. Die Stacheldrahtzäune und Wachtürme machten ihr Angst. Sie faselte etwas davon, nicht ins Gefängnis zu wollen. Sie war klein und dumm. Mich traf es wesentlich härter. Ein hässlicher Grenzposten mit einem dicken Schnurrbart, in dem Essensreste klebten, fand meine geliebte He-Man-Figur. Er betrachtete sie eine Weile und steckte sie dann in seine Uniformtasche, da angeblich das Einführen von Kriegsspielzeug in die DDR verboten war. Linus hatte eine Zeitung, die wurde ebenfalls eingezogen, da es sich um DDR-kritische Westpresse handelte. Das war ansatzweise einzusehen. Die wollten nicht lesen, wie doof ihr Land war. Aber meinem kleinen He-Man kriegerische Absichten zu unterstellen, war lächerlich. He-Man kämpfte für Frieden und gegen das Böse. Das wusste jeder. Jeder bis auf den Grenzposten. Oder er wollte meine Figur für sich, um sie abends seinem Sohn zu schenken. Das wäre eine Erklärung, denn in der DDR gab es bestimmt keine Figuren von Mattel zu kaufen. Andererseits war He-Man an einem Ort ohne Skeletor und Teela ein Krieger mit stumpfer Klinge. Was wäre James Bond ohne den Beißer gewesen? Oder Lucky Luke ohne die Daltons?

    Nachdem wir unsere Visapapiere gestempelt bekommen hatten, ging es ganz normal weiter. Die Bäume waren grün, der Himmel blau und unser Opel immer noch rot. Allerdings fuhren plötzlich alle anderen Verkehrsteilnehmer dieselben kleinen hässlichen Autos, die Straßen waren rumpelig und es roch zumindest nach meiner Wahrnehmung etwas seltsam.

    In Eisenach angekommen wurden wir erstaunlich enthusiastisch empfangen. Laurenz Tillinger, ein schlanker, großer Mann mit einer Halbglatze umarmte meine Mutter überschwänglich und für meinen Geschmack viel zu lange. Sein Sohn Dieter schüttelte uns zur Begrüßung artig die Hand. Meine Mama verschenkte Westkram, wir bekamen selbst gebackenen Kuchen, kurz danach gab es Abendessen. Ich kann mich nur noch an die Nachspeise erinnern. Eingemachte Kirschen, die unheimlich lecker waren. Die DDR war gar nicht so schlecht. Okay, die Menschen durften nicht reisen, nur heimlich West-Fernsehen gucken, bespitzelten sich gegenseitig, aber die Kirschen waren echt in Ordnung. Laurenz und die ebenfalls eingeladenen Nachbarn schienen sogar einigermaßen nett zu sein. Zumindest erwarteten sie von uns keinen abartigen Ostkram wie das Abhören anderer Menschen oder nackt im Garten herumzuspringen. Dieter misstraute ich allerdings sofort, weil er ein bisschen älter war als ich und so tat, als sei er ziemlich schlau, dabei hatte er keine Ahnung, weil er hinter einer Mauer leben musste. Außerdem nervte das Nachbarskind, ein doofes Mädchen namens Katrin, schrecklich.

    Am nächsten Tag durfte ich mit dem Trabi der Familie Tillinger fahren. Anna war zusammen mit Dieter bei den Nachbarn geblieben und spielte mit der furchtbaren Katrin. Ich saß auf dem Rücksitz und drückte die Augen so fest zusammen wie möglich. Neben mir hockte Linus und erzählte etwas über die fehlgeleitete Wirtschaftspolitik der DDR.

    »Die Straßen sind hier nur so schlecht, weil der Staat die Bürger so stark subventioniert, dass für alles andere kein Geld übrig bleibt«, rief er altklug in das tuckernde Motorgeräusch des Trabants.

    »Red nicht so einen Quatsch«, ermahnte ihn meine Mama verärgert, während ich Linus in den Stand eines Gelehrten erhob, denn wer mit vierzehn Jahren schon so sprach, musste einiges auf dem Kasten haben.

    »Ich darf also nicht sagen, wie es ist, weil du es nicht hören willst!«, beschwerte er sich und in seiner Stimme klang Triumph mit. »Damit bist du nicht besser als der Herr Honecker und seine kommunistische Bande.«

    Linus beeindruckte mich mit seinem Mut. Mein Bruder ließ sich nicht unterkriegen.

    »Du darfst bei uns alles sagen, mein Junge«, schaltete sich Laurenz Tillinger mit sanfter Stimme ein. »Aber wir müssen dir nicht zustimmen. Denn das wäre sonst so wie es damals unter dem Herrn Hitler und seiner faschistischen Bande gewesen ist.«

    Linus lief rot an und hielt die Klappe. Ich beobachtete fasziniert, wie Herr Tillinger, der offensichtlich etwas Gemeines gesagt hatte, an einem komischen Knüppel, der neben dem Lenkrad angebracht war, herumzupfte.

    Wir hielten in einem Wald und gingen wandern. Herr Tillinger und meine Mutter verstanden sich erstaunlich gut. Er machte ihr sogar kindische Komplimente, wie gut sie aussähe und wie jung sie geblieben sei. Ich fand das lächerlich, hielt mich aber klugerweise zurück.

    Wir latschten eine halbe Ewigkeit, dabei ging es ständig rauf und runter. Ich fragte mich, warum die Menschen so dumm waren, wenn sie schon mit einem Auto zu einer Wanderung fuhren, ausgerechnet dort zu halten, wo es hügelig war. Ich wäre im Flachland geblieben, wo es sich gemütlich gehen ließ. Irgendwann erreichten wir ein kleines Lokal. Ich bekam eine Cola, die aber keine Cola war, sondern eine schwarze Giftbrühe, die mich um ein Haar hätte auf den Tisch kotzen lassen. Die Ossis wollten mich vergiften, so viel stand fest.

    »Das ist Club-Cola aus dem VEB Getränkekombinat Erfurt«, las Linus vom Etikett vor.

    Ich schüttelte mich. »Was ist ein Kombinat?«

    »Ein Zusammenschluss von Betrieben zur Verbesserung der gesamten Produktion und zur Vermeidung von der Anhäufung von Besitz in den Händen einiger weniger«, erklärte Herr Tillinger. »Die Kombinate gehören dem Volk, also allen Menschen in der DDR. Du magst vielleicht Coca-Cola lieber, aber das ist keine Volksbrause, sondern die Gewinne gehen in die Taschen derer, die ohnehin schon viel haben. Verstehst du?«

    Nein, das tat ich nicht.

    »Volksbrause klingt ein bisschen wie Volkswagen«, sagte meine Mama und grinste dabei eigenartig verschmitzt.

    »Mama …«, maulte ich.

    Sie lächelte und fuhr mir mit den Fingern durch die Haare. »Der Laurenz meint das nicht so. Der hätte auch gern Westcola, das gibt er nur nicht zu.«

    Wir gingen, meine Club-Cola blieb stehen, dafür bekam ich beim Hinausgehen ein Softeis, das so widerlich schmeckte, dass ich es draußen scheinbar zufällig, aber in Wahrheit absichtlich auf den Boden fallen ließ. Ich weinte ein bisschen, meine Mama sagte, ein weiteres Eis wäre jetzt nicht drin, ich war erleichtert, protestierte verhalten und spielte dann ein paar Minuten den Beleidigten. Ich war ein durchtriebenes Kind, aber erfolgreich. Zurück in Eisenach musste ich mit der nervigen Katrin und Anna im Garten spielen. Das war ein großes Unglück. Wahrscheinlich erschien ich Katrin wie ein Außerirdischer, so normal, gut erzogen und westdeutsch wie ich war. Nachdem sie meinen Namen gelernt hatte, eine erstaunliche Leistung für ein so dummes Mädchen, wurde sie nicht müde, ihn in die Welt zu rufen. Dabei schaffte sie es leider nicht, das T von Tankred wie ein T auszusprechen, stattdessen bevorzugte sie das D. Auch das nachfolgende A klang eher wie ein O.

    »Donkred. Donkred. Donkred. Donkred.«

    So ging das die ganze Zeit. Katrin kannte kein Ende und hatte offenbar auch keinen Aus-Schalter.

    »Donkred. Willst du Kuchen?«, rief sie und hielt mir ein grünes Förmchen mit Sand unter die Nase.

    »Nein. Ich hatte schon Eis.«

    »Willst du Eis, Donkred?«

    Dabei lachte sie die ganze Zeit total hohl, als wäre sie irgendwie gestört.

    »Donkred. Backst du auch Kuchen?«

    »Ich bin schon acht.«

    »Donkred. Ich bin drei«, krähte Katrin.

    Sie konnte für ihr Alter schon gut sprechen, auf jeden Fall besser als meine Schwester Anna und die war ein Jahr älter als sie. Dann bewarf ich Katrin aus Spaß mit Sand, aber sie lachte nur, als wäre es das Schönste, was ihr seit langer Zeit widerfahren war. Ich backte einen Kuchen und zwar auf ihrem Kopf. Sie quietschte vor Glück und bewarf mich ihrerseits mit Sand.

    »Donkred. Du auch Kuchen auf den Kopf.«

    Das ging noch eine ganze Weile so weiter, bis wir endlich wieder zum Essen gerufen wurden. Katrins Oma hatte gekocht und es schmeckte zu meiner Überraschung fast wie bei uns im Westen. Überhaupt haben wir in der DDR unheimlich viel gegessen. Das war schon ein wenig verrückt, denn ich hatte damit gerechnet, in einer schwarzweißen Welt Graubrot mit Wasser vorgesetzt zu bekommen. Abgesehen von der Cola und dem Eis war es aber ganz anders, auch wenn ich auf viele der gewohnten Produkte von zuhause verzichten musste. Mich störte das weniger als Linus, der zum Frühstück sein geliebtes Nutella vermisste. Als Ersatz bot ihm Herr Tillinger Nudossi aus dem Kombinat Elbflorenz an, aber nach den schlechten Erfahrungen mit Club-Cola und dem Softeis – Linus hat es sich im Gegensatz zu mir komplett hinuntergewürgt –, begnügte er sich mit selbst gemachter Zwetschgenmarmelade.

    Am nächsten Morgen unternahmen die Erwachsenen, Linus, Dieter und Anna einen Ausflug irgendwohin. Weil ich nicht mehr ins Auto passte, ließen sie mich kaltblütig bei der bekloppten Katrin und ihren Eltern zurück. Einerseits traf mich diese Zurückweisung, andererseits war ich erleichtert, nicht schon wieder zu langweiligen DDR-Sehenswürdigkeiten wie Wälder oder hässliche Städte gefahren zu werden. Da spielte ich lieber mit Katrin.

    Wir waren gerade damit beschäftigt, Äste von einem Baum abzubrechen, um daraus Schwerter zu bauen, als eine Frau auf uns zukam. Sie lächelte eigenartig und irgendwie machte mich das nervös, weil ich mich von Fremden fern halten sollte. Auf der anderen Seite hatte mich meine Mutter bei Fremden zurückgelassen, also schien die Regel in der DDR nicht so eng ausgelegt zu werden wie bei uns zuhause.

    »Bist du aus dem Westen?«, fragte mich die Frau.

    Ich nickte schüchtern. Sie war etwa im Alter meiner Mutter, trug aber eine hässliche Frisur mit einem schiefen Pony und eine graue Jacke, die mich an eine Pferdedecke erinnerte.

    »Und ihr seid zu Besuch bei den Tillingers?«

    Ich nickte erneut und zog Rinde von dem Ast, den ich in der Hand hielt. Ich traute mich nicht, die Frau anzugucken, während sie mit mir sprach.

    »Und was macht ihr da?«

    »Wir haben einen Luftballon steigen lassen«, sagte ich leise und ließ Rinde zu Boden fallen. »Deshalb sind wir hier.«

    »Wie ist denn dein Name?«

    »Das ist Donkred«, rief Katrin.

    Die Frau schaute mich von oben herab an. »Und wie heißt du weiter, Donkred?«

    »Ich heiße ja gar nicht Donkred. Und mein Nachname ist Deutsch.«

    Sie sog die Luft zischend ein. »Dann spielt mal weiter. Kannst ja deinen Freunden im Westen erzählen, wie schön das Kinderleben in der DDR ist.«

    Das tat ich nicht, denn allein die Erinnerung an die widerliche Ostcola ließ mich auch Monate nach unserem lebensmüden Ausflug nach Dunkeldeutschland erschaudern. Ich profitierte davon, auf der richtigen Seite der Mauer geboren zu sein, und schwor mir, dankbar zu sein – wem auch immer. Wir hatten hier alles: cooles Fernsehen, schmackhaftes Eis, Pizza, das A-Team, Felix Magath, Demokratie und eine super Partei namens CDU.

    Dieter

    Seine Mutter verließ sie, als er sieben war. In diesem Alter versteht ein Kind schon viel, aber nicht genug, um sich erklären zu können, was der Vater meint, nennt er seine eigene Frau Hure des verdammten Staates und Spitzelsau. Dementsprechend verbrachte Dieter große Teile seines achten Lebensjahres heulend in seinem Zimmer – alles gut abgehört von der Stasi, aber davon wusste er nichts. Ob seine Mutter ebenfalls weinte, während sie über das winzige Mikrofon im Flur sein Schluchzen vernahm, ist zumindest nicht ausgeschlossen. Sie blieb seine Mutter, obwohl sie sich gegen die Familie und für ihr Vaterland entschieden hatte.

    Zwei Jahre später brachte sein Vater ihn nach Berlin. Er parkte den Trabant in einem engen Innenhof irgendwo in der Stadt und führte ihn in eine feuchte Halle einer Autowerkstatt. Zwischen Ersatzteilen und alten Autos warteten drei Männer und Greta. Sie war vor einigen Monaten mit ihren blöden Westkindern Tankred, Linus und Anna bei ihnen in Eisenach zu Besuch gewesen. Verzogene Gören, die sich etwas auf ihre Klamotten von angesagten Marken und ihr tolles Westspielzeug eingebildet hatten. Greta lächelte ihn an. Er schaute demonstrativ an ihr vorbei. Dabei fiel sein Blick auf die drei Männer. Zwei von ihnen steckten in ölverschmierten Blaumänner, der dritte schien ebenfalls aus dem Westen zu stammen. Er trug einen weiten Anzug und eine Frisur, die Dieter aus amerikanischen Vorabendserien in der ARD kannte. Die anderen nannten ihn Gideon. Ein seltsamer Name, den Dieter noch nie gehört hatte. Vermutlich gehörte ihm der riesige, silberne BMW in der Mitte der Werkhalle.

    Die Erwachsenen begannen aufgeregt miteinander zu reden. Er starrte betreten auf seine grauen Zeha-Sportschuhe, die ihm seine Mutter vor einigen Wochen gekauft hatte. Jedesmal wenn sie sich trafen, bekam er ein Geschenk von ihr. Meistens wusste er damit nichts anzufangen. Er wollte keine Dinge, er wollte eine Mama, die von seinem Papa nicht verachtet wurde. Aber das würde ein unerfüllter Traum bleiben.

    Sein Vater trat zu ihm, nahm ihn in den Arm und begann, auf ihn einzureden. Dieter nahm kaum etwas von dem Wortschwall wahr. Tapferkeit, Mut, Disziplin. Das war es, was er aufschnappte. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen, bevor er von einem der Männer mit Blaumann unter das Auto geschoben und dort in einen schmalen Hohlraum zwischen Innen- und Motorraum des BMWs buxiert wurde. Es roch nach Benzin, war dunkel und eng. »Wenn sie dich finden, muss ich ins Gefängnis, mein Junge«, rief sein Vater, bevor von unten der Eingang in das Versteck durch die Blechplatte verschlossen wurde.

    Dieter versuchte sich zu beruhigen. Sein Herz raste, er spürte seine volle Blase und dachte an die letzten Worte seines Vaters. Stumm ließ er alles über sich ergehen und wischte sich die Tränen aus den Augen. Der Motor brummte laut in seinem Rücken, als sie anfuhren und auf die Straße bogen. Er spürte die Vibration des groben Straßenpflasters und versuchte sich mit den Armen abzustützen, um die Schläge abzufedern. Dieter verstand mit seinen elf Jahren nicht viel von Politik. Er konnte nicht beurteilen, warum es diese Mauer gab, ob sie die Menschen in der DDR schützte oder einsperrte, man sie besser eingerissen oder doch vielleicht höher gebaut hätte. Die Erwachsenen sprachen nicht viel über solche Sachen, weil sie Angst zu haben schienen. Aber in Dieter wuchs mit jeder Minute, die er in dieser elenden Blechbüchse klemmte, die Überzeugung, dass hier etwas ganz gewaltig falsch lief, denn wenn man wirklich kleine Kinder wie ihn unter solchen Bedingungen von einem Teil Deutschlands in einen anderen transportierte, obwohl man eigentlich nur ein paar Meter über die Straße hätte laufen müssen, dann war die Welt aus den Fugen geraten. Von Normalität konnte da keine Rede mehr sein. Und einen Sinn vermutete Dieter hinter dem Zirkus, den die Erwachsenen hier veranstalteten, erst recht nicht.

    Nach einer halben Ewigkeit hielt der Wagen an. Dieter hörte Stimmen und zweimal ein Klopfen, bevor sie weiterrollten. Bei der nächsten Bodenwelle entleerte sich seine Blase. Er spürte die warme Flüssigkeit zwischen seinen Beinen und die kalten Tränen auf den Wangen. Der BMW stoppte ein weiteres Mal. Draußen unterhielten sich Männer, Türen wurden geöffnet und wieder zugeschlagen.

    »Sie verlieren Flüssigkeit«, sagte ein Mann.

    »Wahrscheinlich Kühlwasser«, hörte Dieter jemand anderes rufen. »Danke für den Hinweis.«

    »Keine Ursache«, antwortete der erste und lachte. »Nicht, dass ihr toller Westwagen ausgerechnet bei uns an der Grenze seinen Geist aufgibt.«

    Erneut schlug eine Tür. Sie fuhren nun schneller und es ruckelte weniger. In seinem Versteck wurde es wärmer und er spürte einen Schweißfilm auf seiner Stirn. Das Atmen bereitete ihm Mühe. Um ein Haar wäre er eingeschlafen, als der Wagen scharf bremste. Jemand machte sich an der Klappe zu seinem Versteck zu schaffen. Die Worte seines Vaters kamen ihm in den Sinn. Dieter spürte, wie sich seine Augen zum dritten Mal mit Tränen füllten. Nach seiner Einschätzung konnten sie unmöglich schon im Westen sein, denn den Weg dorthin stellte er sich weiter vor. Sollten sie ihn jetzt finden, blühte ihm das Heim und seinem Vater das Gefängnis, alles weil er sein Pipi nicht hatte halten können. Ein schmaler Lichtstrahl fiel durch einen Spalt unter ihm, dann schepperte die Blechplatte zu Boden.

    »Komm raus, Kleiner«, hörte er eine Männerstimme.

    »Nein«, rief er.

    »Mach du mal«, sagte der Mann. »Der Rotzlöffel nervt. Kinder liegen mir nicht so, weißt du doch.«

    »Du bist manchmal echt ein Idiot«, sagte eine Frau und Dieter erkannte die Stimme von Greta. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so erleichtert gewesen zu sein. Er wollte nicht in den Westen und niemand hatte ihn gefragt, bevor man ihn in dieses Auto gesteckt hatte, aber alles war besser, als den Vopos in die Hände zu fallen. Ohne zu zögern, kletterte er aus seinem Versteck und krabbelte unter dem Auto hervor. Vom Licht geblendet kniff er die Augen zusammen. Um ihn herum standen außer Greta der Mann, der Gideon hieß, ein kleiner Fettsack in einem Rollstuhl und ein großer hagerer Typ mit einer Zigarette in der Hand.

    »Scheiße. Der hat sich in die Hose gepinkelt«, sagte

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