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Lunay - Die Hoffnung aufheben
Lunay - Die Hoffnung aufheben
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eBook530 Seiten6 Stunden

Lunay - Die Hoffnung aufheben

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Über dieses E-Book

Von einem Tag auf den anderen gerät die Welt aus den Fugen. Eine geheimnisvolle Kraft treibt die Menschen massenhaft in den Tod. Irgendwo in Australien flieht Julia aus einer dubiosen Klinik. Sie wird gejagt, sie weiß nicht von wem und warum. Unterschlupf findet sie bei Jack und Costo, die sie kurzerhand auf ihren Kurzurlaub mitnehmen, nicht ahnend, was ihnen bevorsteht. Auf einem wilden Roadtrip kommen sie unheilvollen Mächten näher - und an die Grenzen ihrer Vorstellungskraft. Bald wird klar: Nur sie können die globale Katastrophe stoppen und die Menschheit retten. Ein mysteriöser Aborigine und Julia scheinen die Schlüssel dazu in der Hand zu haben.

TIEFSINNIG. HUMORVOLL. PACKEND.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum25. Mai 2021
ISBN9783347312876
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    Buchvorschau

    Lunay - Die Hoffnung aufheben - Mehmet Tasin

    DUNKLER REGEN

    Der Londoner St James Park war trotz des sonnigen Herbstwetters an diesem Sonntagnachmittag ungewöhnlich verlassen. William kannte jeden Fleck des Parks. Noch nie war er ihm so leer vorgekommen. Merkwürdigerweise hatte er auch noch keine Schwäne oder Enten gesehen. Und wo waren die berühmten Pelikane? Außerdem war kein Vogelgezwitscher zu hören. Obwohl er Stille mochte, war es beängstigend ruhig, wie kurz vor einem Erdbeben.

    William stand vor einem Imbisswagen und beobachtete die Bedienung, die mit dem Rücken zu ihm seinen Donut einpackte. Das flaue Gefühl, mit dem er diesen Morgen aufgewacht war, wurde stärker. Er senkte den Blick und erstarrte. Spielten seine Augen ihm gerade einen Streich oder sah er tatsächlich an seinen Füßen vorbei die Stadt von oben? Instinktiv zuckten seine Beine, um einen Schritt nach hinten zu machen. Vergebens, denn er fiel bereits. Die Dächer rasten auf ihn zu …

    »Hier, Ihr Donut … Ihr Donut, habe ich gesagt!«

    William schüttelte sich. Er stand vor dem Imbisswagen. Ein verdammtes Hirngespinst, dachte er und wandte sich benommen der Bedienung zu.

    »Alles klar bei Ihnen?«, fragte die Frau.

    »Ja, mir wurde nur eben etwas schwindelig.«

    »Oh, das kenne ich! Den ganzen Morgen geht’s mir so.«

    William nahm den Donut von der Theke. Die hagere Verkäuferin legte den Handrücken auf ihre Stirn. Sie kniff die Augen fest zusammen, als würde ein heftiger Schmerz durch ihren Körper gehen.

    »Ist denn mit Ihnen alles in Ordnung?«

    Sie öffnete die Augen, die stark gerötet waren, fast blutunterlaufen. »Ja, geht schon«, antwortete sie leise. »Ich habe mir wahrscheinlich etwas eingefangen.«

    »Scheint eine neue Grippewelle unterwegs zu sein. Meiner Frau geht es auch nicht besonders«, sagte William, verabschiedete sich mit Besserungswünschen und ging mit dem Donut in der Hand zu seiner Frau Emily, die, den Kinderbuggy leicht wippend, am Wegesrand auf ihn wartete. Hinter ihr lag der grüne See, umgeben von hochgewachsenen Bäumen. Es war eigenartig. Seiner Frau und seiner Kleinen ging es auch nicht gut. Seit ein paar Stunden klagte Emily über Kopfschmerzen, die wellenartig kamen und immer stärker wurden. Überhaupt sahen alle Menschen, denen er heute begegnet war, kränklich und deprimiert aus. In den Nachrichten war von einer Art Grippe die Rede gewesen. Zwar kannte man die Ursache noch nicht, auch waren die Symptome nicht typisch für eine herkömmliche Infektion, doch waren sich die Experten einig, dass es sich um eine ansteckende Krankheit handelte, die sich ungewöhnlich schnell ausbreitete. Er beugte sich über den Buggy. »Hier Schatz, dein Donut.«

    »Ich möchte nicht!«, antwortete Lea und drehte sich zur Seite.

    Überrascht wandte er sich zu seiner Frau. »Liebling, möchtest du vielleicht?«

    Emily winkte ab. »William, lass uns nach Hause gehen. Meine Kopfschmerzen werden schlimmer.«

    William übernahm den Buggy, wickelte den Donut in ein Taschentuch, steckte ihn in das Netz des Kinderwagens und hakte sich bei seiner Frau unter.

    Es war kühl, eine frische Brise wehte. William schob den Kinderwagen an einer Litfaßsäule vorbei, die von oben bis unten mit Plakaten der ›Weltpartei‹ beklebt war. Der schwarze Hintergrund und die weiße Schrift erinnerten eher an Trauerkarten als an politische Werbung. Einzig das Logo brachte etwas Farbe hinein: ein Schmetterling in Regenbogenfarben. William kannte die Message längst. Die ganze Stadt war mit diesen Plakaten tapeziert. Trotzdem las er die Zeilen.

    Sie sind für den globalen Frieden, Gleichverteilung und Erhalt der natürlichen Ressourcen? Dann werden Sie Mitglied! Keiner bisher bekannten politischen Richtung zugehörig, setzen wir uns für die Menschen und für den Erhalt des Planeten ein. Wir verhindern Kriege, bekämpfen Ausbeutung und Unterdrückung und schaffen eine gesunde Welt für die Zukunft unserer Kinder!

    Die Weltpartei hatte nach ihrer Gründung vor etwa zehn Jahren zunächst Schwierigkeiten gehabt, Mitglieder zu finden. Dann setzte sich die Organisation weltweit erfolgreich gegen Kinderarbeit ein und deckte außerdem zahlreiche Fälle von Korruption auf. In Entwicklungsländern kooperierte sie im Kampf gegen schlechte Arbeitsbedingungen mit den Gewerkschaften und arbeitete mit Umweltorganisationen zusammen. Sie setzte sich für Menschenrechte ein, vermittelte in einem regionalen Krieg im östlichen Afrika und erreichte tatsächlich eine Waffenruhe. Mit der Verbreitung der sozialen Netzwerke im Internet erlangte sie immer größere Bekanntheit und die Mitgliederzahlen stiegen weltweit rapide. Heute zählte sie mehr als 800 Millionen Anhänger.

    Plötzlich kreischten Vögel. Es schallte von überall, als ob jemand den Lautstärkeregler voll aufgedreht hätte. Lea hielt sich die Ohren zu. So weit das Auge reichte, überflogen Krähen, Tauben und kleinere Vögel den Park in Richtung Osten. Dann wurde es abrupt wieder still.

    William schaute in den Himmel. »Was war das? Lass uns nach Hause gehen«, sagte er besorgt.

    Emily nickte. Eine Parkbank weiter blieb ein älteres Paar stehen. Der Mann taumelte. Seine Frau versuchte noch, ihn zu stützen, doch er landete unsanft auf dem Boden.

    »Emily, komm, lass uns den alten Leuten da vorne helfen«, sagte William.

    Keine Antwort.

    Er wollte schneller gehen, bemerkte aber, dass seine Frau Mühe hatte, Schritt zu halten und fast stolperte. »Emily, was fehlt dir?«

    Emily antwortete nicht. Leicht nach vorne gebeugt, schaute sie apathisch auf den Boden. Lea begann zu weinen.

    Ein Schatten floss langsam über den Park und verdunkelte ihn wie bei einer Sonnenfinsternis. Das Licht nahm eine bleifarbene Tönung an. Aus der Stadt ertönten gleichzeitig Sirenen von Kranken- und Polizeiwagen. Ein Hupkonzert ergänzte das Ensemble, hinzu kamen Alarmanlagen, die von überall aufheulten. William blieb stehen und schaute sich irritiert um. Ein ohrenbetäubendes Sirenenorchester erfüllte die Luft.

    Urplötzlich schlug etwas Großes in den See. Wasser bäumte sich rauschend auf. William hatte nicht gesehen,was da vom Himmel gefallen war. Als er nach oben schauen wollte, schlug hinter ihm etwas mit voller Wucht dumpf auf. Gras und Erde trafen ihn am Rücken. Er schaute hinter sich. Ein Mensch mit merkwürdig verdrehten Armen und Beinen lag auf dem Rasen. Nur ein paar Meter weiter schlug ein weiterer Körper auf. William duckte sich und schaute nach oben. Menschen. Tausende menschlicher Gestalten schwebten wie an seidenen Fäden aufgehangen über dem Park. Wie schwerelos drehten sie sich in alle möglichen Positionen. Und immer wieder fiel einer von ihnen wie ein Stein herunter in den Park. »Emily, Emily, los!«, rief William und bemerkte geschockt, dass seine Frau in diesem Moment vom Boden abhob und wie ein Lampion langsam in die Höhe stieg. Auch Leas kleiner Körper löste sich aus dem Buggy. Instinktiv griff William nach den beiden, verfehlte seine Tochter knapp, die wie ein Luftballon schnell emporstieg. Er hatte seine Frau am Gürtel gepackt, ließ sie los, um nach der Kleinen zu greifen – vergeblich. Er sprang nach seiner Frau und schaffte es, ihre Beine zu umklammern. Mit aller Kraft presste er sein Gesicht gegen ihre Waden und hing nun wie unter einem Aufzug der emporstieg. Der Boden entfernte sich von seinen Füßen. An seinen Beinen vorbei sah er, wie der Park unter ihm kleiner wurde.

    Auch wenn seine Kraft schwand, William würde nicht loslassen.

    TAUBE AUF DEM DACH

    Fünf Wochen zuvor in Canberra…

    Julia klopfte an die Tür und betrat das abgedunkelte Behandlungszimmer ihres Psychiaters. Der Arzt mit Halbglatze und Lesebrille saß an seinem Schreibtisch und begrüßte die eintretende Patientin, ohne den Kopf zu heben. Er las noch die letzten Zeilen aus einer Akte, bis sie gegenüber Platz genommen hatte. Ein seitlicher Blick auf die Schreibtischuhr verriet ihm, dass die Patientin pünktlich war. Er hob den Kopf und schloss die Akte. »Mrs Parker.«

    »Guten Tag, Mr Taylor.«

    »Die Frisur steht Ihnen, Mrs Parker.«

    »Danke.«

    Der Psychiater nahm seinen Kugelschreiber vom Schreibtisch. »Mrs Parker, wie geht es Ihnen?«

    Julia strich ein paar Haarsträhnen von ihrer Wange. »Nicht gut!« »Nehmen Sie Ihre Medikamente?«

    »Ja!«

    »Regelmäßig?«

    Julia nickte. »Dennoch kommen die Tagträume immer häufiger und intensiver.«

    »Beschreiben Sie sie ein bisschen.«

    Julia faltete die Hände. »Sie kommen nun täglich. Beispielsweise habe ich gestern auf dem Bett gelegen und an die Decke gestarrt. Dann habe ich plötzlich gesehen, wie ich über Felder, Städte und Wüstenlandschaften fliege. Wie ein Vogel, verstehen Sie?«

    »Noch nicht ganz … sind Sie in dieser Situation dissoziiert oder assoziiert gewesen?«

    »Bitte?«

    »Entschuldigen Sie die Fachausdrücke. Ich möchte das mal so erklären. Sehen Sie sich fliegen? So, als wenn Sie von Ihrem Körper getrennt wären und ihn von außen betrachten würden? Das wäre der dissoziierte Zustand.«

    Julia schüttelte den Kopf und rümpfte leicht die Nase.

    »Assoziiert also«, sagte Dr.Taylor.»Sie sehen Ihren Körper nicht.«

    »Ich bin der Vogel, kann man sagen«, bemerkte Julia.

    »Verstehe«, sagte Dr. Taylor und öffnete ihre Akte. Während er der Patientin weiter zuhörte, machte er sich Notizen.

    »Wenn ich sage, dass ich der Vogel bin, dann meine ich das auch so!«

    Dr. Taylor lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schaute seine Patientin mit gerunzelter Stirn an. »Nun, ich würde diesen Punkt gerne noch etwas detaillierter beleuchten. Woher wissen Sie oder woran machen Sie es fest, dass Sie der Vogel sind?«

    »In diesem Zustand fühle ich meinen Körper nicht, ebenso sehe ich ihn nicht. Dafür nehme ich alles optisch viel präziser wahr, als ich es sonst könnte.«

    »Wie ist es mit den anderen Sinnen? Also mit dem Hören, Riechen, Schmecken oder Fühlen?«

    Julia legte die Stirn in Falten. »Diese Sinne sind auch da, aber schwächer. Ansonsten fühlt sich alles einfach verdammt real an. Nicht wie in einem Traum, verstehen Sie?«

    »Wann treten diese Tagträume auf? Gibt es eventuell ein zeitliches Muster?«

    »Nein, kein Muster. Aber ich kann sie beinahe steuern.«

    Dr. Taylor rückte mit dem Zeigefinger die Brille auf seiner Nase zurecht. »Denken Sie, dass Sie das jetzt auch könnten?«

    »Weiß nicht.«

    »Mrs Parker, lassen Sie es uns versuchen«, sagte Dr. Taylor und stand auf. »Bitte kommen Sie auf die Couch.«

    Julia folgte ihm und legte sich auf die Couch. Sie schaute zu den Fenstern hinüber. Die Jalousien waren zu zwei Dritteln hinuntergelassen. Draußen dämmerte es leicht.

    »In Ordnung, Mrs Parker, entspannen Sie sich. Ihre Arme und Ihre Beine werden nun schwer, Sie atmen tief durch und versinken langsam in die Couch. Lassen Sie Ihre Gedanken fließen.«

    Julia schloss die Augen. Während Dr. Taylor seine Anweisungen gab, rollten die Augen der Patientin unter den Lidern hin und her.

    »Mrs Parker, was sehen Sie?«

    Nach etwas Verzögerung stammelte Julia: »Ich, ich sehe, ich sehe eine Glasscheibe, genau genommen ein Fenster.«

    »Gut, schauen Sie sich etwas genauer um, was sehen Sie noch?«

    Julias Augen bewegten sich weiter hin und her. »Ich sehe einen braunen Fensterrahmen.«

    »Sind Sie in einem Raum oder draußen?«

    »Ich bin draußen. Eine Fensterbank und rote Mauersteine sehe ich.«

    »Können Sie durch das Fenster sehen? Erkennen Sie etwas?«

    »Ein Mann sitzt auf einem Stuhl.«

    Von draußen war das laute Gurren einer Taube zu vernehmen. Dr. Taylor hielt kurz inne und horchte. Stille. Einen Augenblick später fuhr er fort. »Was sehen Sie noch?«

    »Vor dem sitzenden Mann liegt jemand, vermutlich eine Frau, auf einer Couch.«

    Ein unsicherer Unterton schlich sich bei Dr. Taylor ein. »Was genau macht der sitzende Mann gerade?«

    »Er hat die Beine übereinandergeschlagen und redet zu der Person auf der Couch.«

    Dr. Taylor hob sein rechtes Bein von dem anderen herunter und hatte nun mit beiden Füßen Bodenkontakt. Er legte den Stift in die Akte und hob seine rechte Hand mit ausgestreckten Fingern zögernd in die Luft. Während er sprach, beobachtete er die Augen der Patientin. Sie waren fest geschlossen.

    »Mrs Parker, was macht der sitzende Mann jetzt?«

    Der Kehlkopf der Patientin bewegte sich einmal hoch und runter. »Er hebt seine Hand in die Höhe, die Finger sind ausgestreckt.«

    Als Nächstes machte Dr. Taylor eine Faust. »Und jetzt?«

    »Er macht eine Faust!«

    Der Psychiater fühlte in seiner Halsschlagader das Blut pochen. Hatte sie tatsächlich paranormale Kräfte? Eine warme Welle durchwanderte seinen Körper. Er konnte gegen seine Neugier nicht mehr ankämpfen und drehte den Kopf nach hinten in Richtung des Fensters. In diesem Augenblick flog gurrend und flatternd eine Taube von der Fensterbank weg.

    Julia öffnete die Augen und sagte nichts. Dr. Taylor schwieg ebenfalls.

    DUFT DER DÜRRE

    Irgendwo in Australien…

    Die Weiten des Kontinents waren wie gewöhnlich der grellen Mittagssonne ausgeliefert. Irgendwo im Süden des Landes, in einem Gebiet mit schütteren Grasinseln und vereinzelten Eukalyptusbäumen, fuhren fünf schwarze Jeeps, verziert mit dem stilisierten Schmetterling der Weltpartei, in einer Linie durch die kupferfarbene Landschaft. Ein lang gezogener Schweif aus Staub und Sand hinter den Fahrzeugen gab dem Beobachter ein Gefühl von nahendem Unheil. Die Kolonne erreichte ein Plateau und zog einen weiten Kreis, bis sie in ihre eigene Staubwolke hineinfuhr. Roter Sand, wohin das Auge reichte. Bremslichter leuchteten auf. Mit einem Ruck hielten die Wagen. Die herabsinkende Staubwolke enthüllte die Silhouette eines fast nackten Ureinwohners, der einen Speer in der Hand hielt. Im mittleren Jeep saß ein hochrangiger Vertreter der Partei auf der Rückbank. Seine grauen Haare waren wie mit dem Lineal ausgerichtet und glatt nach hinten gekämmt. Er wartete zunächst und betätigte einen Knopf, woraufhin die getönte Scheibe mit einem leisen Surren in der Tür verschwand. Etwas Staub und der Duft von Dürre wehten in den Jeep. Der Fahrer drehte den Innenspiegel für den Mann im Fond etwas zur Seite. Darin war nun der bärtige Aborigine zu sehen, der sich dem offenen Fenster genähert hatte und wartete. Sein ganzer Körper war mit weißen Streifen bemalt. Ohne den Insassen sehen zu können, blickte er in das dunkle Fahrzeuginnere.

    »Alter Mann«, sprach der Mann aus dem Wagen mit kräftiger und ruhiger Stimme. »Sie möchten uns sprechen?«

    Der Aborigine verzog keine Miene und sagte: »Ich habe eine Bitte!«

    »Und die wäre?«, fragte der Mann. Dabei sprach er langsam.

    »Teilen Sie Ihr Wissen mit der Welt!«

    Der Mann schaute auf seine Hände. Auf die weißen Ärmel waren die Initialen A. C. gestickt, die für Arthur Cloney standen. Die goldenen Manschettenknöpfe neben den Buchstaben glänzten. »Welches Wissen meinen Sie?«

    Der Eingeborene blickte in den Himmel, dann über das Fahrzeug hinweg zum Horizont. »Was sich auf dem Mond abspielt und weshalb und wogegen Ihre Organisation manche Menschen immunisiert.«

    Cloney zögerte.

    »Teilen Sie Ihr Wissen mit der Welt!«

    »Wenn die Menschen erfahren, was ihnen bevorsteht, bricht ein globales Chaos aus.«

    Der Aborigine umfasste seinen Speer fester. »Die Menschen haben das Recht, zu erfahren, was passieren wird!«

    »Nicht jeder verkraftet die Wahrheit«, sagte Cloney und schlug ein Bein über das andere. »Außerdem reichen die Immunisierungspräparate nur für einen Bruchteil der Weltbevölkerung aus.«

    »Es liegt in der Hand Ihrer Organisation, die Menschheit zu retten.«

    »Wir tun unser Bestes.«

    »Wie viele werden Sie retten?«

    Die Stimme Cloneys erklang dumpf aus dem Fahrzeug. »So viele wie möglich!«

    »So viele wie gerade nötig, um Ihre Interessen zu verfolgen, nicht wahr?«, schnaufte der Aborigine.

    Cloney faltete seine Hände und betrachtete wieder seine Finger. Eine ausgedehnte Pause entstand. »Es bleibt uns keine andere Möglichkeit.« Für einen Augenblick schwieg er. »Alter Mann«, sagte er schließlich. »Wir müssen jeden Tag, der uns noch bleibt, nutzen, um so viele Menschen wie möglich zu immunisieren.«

    »Sie haben nicht mehr viel Zeit.« Die Gestalt des Aborigines versteinerte. »Weniger als einen Mondzyklus!«, fuhr er fort.

    Stille.

    »Sind Sie sich dessen sicher?«

    »Ja, Mr Cloney«, sagte der Ureinwohner.

    Woher kennt er meinen Namen?, dachte Cloney. »Woher wissen Sie …?«

    »… Ihren Namen!«, unterbrach der Aborigine.

    Ist das Zauberei, dachte Cloney.

    »Nein«, sagte der Ureinwohner. »Wenn ich zaubern könnte, würde ich das bevorstehende Unheil abwenden. Die Hoffnung AUFHEBEN, das ist meine Wahl.«

    Cloney hatte nicht mehr hingehört, weil er immer noch an den Mondzyklus dachte. »Aber ein Monat ist nichts!«, murmelte er.

    Ihm wurde bewusst, dass es ein Fehler gewesen war, sich im Wagen zu verbergen. Er beugte sich zur Fensteröffnung. Der Ureinwohner aber war verschwunden. Cloney verharrte noch eine Weile nachdenklich am Fenster und dachte über die Worte des Aborigines nach. Dann wies er den Fahrer an, loszufahren. Aufgewühlt griff er nach seinem Telefon und rief seinen Vorgesetzten an.

    Zur selben Zeit flog ein zweistrahliger Privatjet der Gulfstream-Klasse auf dem Weg von Melbourne nach Brisbane oberhalb einer dichten Wolkendecke über den Kanangra-Boyd-Nationalpark. Ein männlicher Passagier in dunkelblauem Maßanzug saß in der luxuriösen Kabine und nippte an einem fünfzig Jahre alten Single Malt Whisky. Die übrigen elf Plätze waren leer. Außer dem Fluggast, den beiden Piloten und einer Flugbegleiterin befand sich niemand an Bord. Der Passagier schaute aus dem Fenster, dann auf seine Armbanduhr. Es war zwei Uhr mittags. Noch zwei Stunden bis zur Ankunft. Sein Telefon klingelte. »Mein Lord«, erklang Cloneys kräftige Stimme aus dem Hörer des Telefons.

    Der Passagier schwieg.

    »Lord Doyle, ich habe mit dem Ureinwohner gesprochen und habe wichtige Neuigkeiten, Sir.«

    »Was wollte er?«

    »Er bittet darum, dass wir unser Wissen öffentlich machen.«

    »So ein Narr! Was hat er sonst noch gesagt?«

    »Er prophezeit weniger als einen Monat, Sir!«

    Auf diese Nachricht hatte Doyle sehnsüchtig gewartet. Ein kaltes Schmunzeln durchzog sein Gesicht. Er strich mit der Hand über seine glatten Haare, die für einen Mann seines Alters ungewöhnlich füllig waren. »Lassen Sie sich davon nicht irritieren und machen Sie Ihren Job weiter, Cloney. Wie ich bereits sagte: Er ist bloß ein alter Narr!«

    »Darf ich Sie etwas fragen, Sir?«, meldete sich Cloney.

    »Nur zu!«

    »Wir könnten die Produktion der Immun-Präparate beschleunigen, oder, Sir?«

    »Warum sollten wir das tun, Cloney? Wir haben die Menge, die wir brauchen.«

    Cloney zögerte.

    Lord Doyle beendete das Gespräch und schaute zufrieden auf das Telefon. Mit einem leeren Tablett in der Hand betrat die Flugbegleiterin die Kabine. Der Lord schickte sie mit einer Handbewegung wieder hinaus. Es war so weit. Entschieden betätigte er eine Taste seitlich der Armlehne. Einer der Piloten meldete sich über die Sprechanlage. »Sie wünschen, Sir?«

    »Ändern Sie den Kurs. Nach Richmond!«

    »Wie Sie wünschen, Sir!«

    Das Flugzeug neigte sich einige Grad und begann, den Kurs in einer steilen Kurve zu ändern.

    BEGEGNUNG

    Obwohl Julia sich nicht gut fühlte, machte sie sich auf den Weg zu ihrem Pilates-Kurs. Sie arbeitete seit Kurzem als Fitnesstrainerin und konnte es sich nicht leisten, in der Probezeit zu fehlen. Um nicht zu spät zu kommen, nahm sie einen Bus früher als nötig. Sie ergatterte gerade noch einen Fensterplatz, setzte sich, nahm ihren Rucksack auf den Schoß und steckte ihre Kopfhörer in die Ohren. Während sie die vorbeiziehenden Häuserfassaden betrachtete, startete die Musik von ihrer Playlist. Die Fahrt von der Innenstadt Canberras nach Norden, zum »Health Club«, würde eine Viertelstunde dauern.

    Die Straßen und Gebäude auf der Route waren ihr vertraut. Die Strecke führte durch ein kleines Naturschutzgebiet. Julia schaute auf ihre Uhr. Es war wenige Minuten vor sechs. Noch über eine Stunde bis zum Beginn des Kurses. Sie hatte genug Zeit, um in Ruhe anzukommen, sich umzuziehen und mental vorzubereiten. Der Bus bog auf den Balconnen Way in das Naturreservat ein. Auf diesem kurzen Abschnitt war außer Bäumen und trockenen Sträuchern nicht viel zu sehen. Julia bemerkte den Vollmond in seiner leuchtenden Pracht am Firmament und war von dem Anblick fasziniert. Sie wünschte, sie hätte ein Teleskop bei sich. Noch besser, dachte sie, wäre sie jetzt dort und könnte durch die Krater und Schluchten laufen. Ohne Raumanzug, in Sneakers, T-Shirt und Jeans. Sie stellte sich vor, wie sie einen Schritt nach dem anderen auf dem Mondstaub tat, vielleicht an einer der Apollo-Landestellen vorbei.

    »Next Station: Haydon Dr Opp Calvary Hospital«, klang aus den Lautsprechern.

    Der Bus wurde langsamer und bog über eine große Kreuzung nach rechts ab. Jemand tippte Julia auf die Schulter. Sie nahm die Kopfhörer heraus und wandte sich dem Gang zu. Vor ihr stand ein Teenager mit Kappe, der sein Mobiltelefon vor das Gesicht hielt. »Alles klar bei Ihnen?«, sagte der Junge und starrte dabei weiter auf sein Telefon.

    Julia schaute sich um und registrierte, dass im gesamten Bus nur noch sie beide waren. Verrückt! Wo waren die anderen Fahrgäste geblieben? Sie blickte auf ihre Uhr: 6.50 p.m. … Das war noch verrückter. »Entschuldige, wie viel Uhr haben wir?«

    »Gleich zehn vor sieben.«

    »Sicher?«

    Der Junge zeigte ihr das Display des Mobiltelefons. »Ja. Hier, die Uhr ist über Satellit synchronisiert. Also auf die Sekunde genau.«

    »Wie kann das sein?«, murmelte Julia. »Ich sitze doch noch keine zehn Minuten im Bus.«

    Der Junge drehte das Mobiltelefon wieder in sein Blickfeld. »Bin in der City eingestiegen, wie Sie auch. Allerdings fahren wir die Strecke schon das zweite Mal. Mir macht das nichts aus. Ich spiele, da vergeht die Zeit wie im Flug. Sie haben aber die ganze Zeit aus dem Fenster gestarrt.«

    »Oh. Ich muss die Zeit vergessen haben. Ich habe den Mond angeschaut.«

    »Was für einen Mond?«

    »Na, den Mond am Himmel!«

    Der Junge tippte etwas in sein Mobiltelefon und zeigte es Julia. »Wir haben Neumond, also keinen Mond. Schauen Sie!«

    Der Bus hielt an.

    »Ich steige hier aus. Hab keinen Bock, noch eine Runde zu drehen, verstehen Sie?«, sagte der Junge und ging zur Tür.

    Julia raffte sich auf, nahm ihren Rucksack und folgte dem Jungen aus dem Bus. Auf den letzten Drücker erreichte sie die Umkleidekabine. Mit einem Haargummi im Mund schob sie ihre Haare zusammen und schaute eine Weile verwirrt in den Spiegel. Dann ging sie zu ihrem Kurs. Die Teilnehmerinnen warteten bereits in dem lichtdurchfluteten Raum.

    Kurz darauf war der Kurs im Gange. Aus den Lautsprechern erklang ein langsamer Beat. Julia hatte sich seitlich auf die Matte gelegt und hob, eine gerade Linie haltend, ihr Bein langsam in die Senkrechte. Die Gruppe machte ihre Bewegungen nach.

    »So weit Sie können, und weiter«, wies sie die Teilnehmerinnen an. Dann legte sie sich auf den Bauch, stützte sich auf ihre Ellenbogen und reckte ihren Oberkörper leicht in die Höhe. Ihr Bauchnabel löste sich von der Matte.»So hoch Sie können!«,instruierte sie und schloss die Augen. Auf einmal schoss ihr ein stechender Kunststoffgeruch in die Nase. Sie roch die Gummimatte unter sich mit extremer Intensität. Ihre Augen versuchten, sich zu öffnen – vergeblich. Die Musik im Raum klang mit einem Mal fern wie das Echo aus einem Canyon. Dann erstarb jedes Geräusch. Ihr Körper fiel auf die Matte.

    Julia sah um sich herum Millionen funkelnder Sterne, die immer deutlicher wurden und schließlich in einer unbeschreiblichen Klarheit und Schärfe strahlten. Der Anblick raubte ihr den Atem. Sie drehte sich und sah auf ihrer rechten Seite den leuchtenden Mond in seiner vollen Pracht. Das Weltall mit all seinen Sternen rotierte, bis sich der Mond genau vor ihr befand. Ihre Augen glitten über die narbige Oberfläche des Erdtrabanten. Unzählige Krater und Schluchten waren zu erkennen. Auf der Oberfläche blitzte es einmal. Sie schaute hin, sah aber nichts weiter. Sie öffnete den Mund und stellte fest, dass sie kein Bedürfnis empfand, zu atmen. Von diesem Phänomen noch irritiert, bemerkte sie, wie der Mond wuchs. Er schien näher zu kommen und dabei an Tempo zu gewinnen. Sie wollte schreien, bekam aber keinen Ton heraus. Der Mond wurde immer schneller und raste auf sie zu, bis er schließlich ihr gesamtes Sichtfeld einnahm. Reflexartig schloss sie die Augen. Nun sah sie ein männliches Gesicht. Es sprach. »Ich bin der Wächter über die Menschen.«

    »Julia, Julia!«, rief eine Kursteilnehmerin. Sie packte die Trainerin am Arm und schüttelte sie.

    Die anderen Frauen hatten sich im Kreis um die Ohnmächtige gestellt und beobachteten sie besorgt.

    »Mein Gott, sie ist schon seit mehr als drei Minuten ohne Bewusstsein. Wo bleibt bloß der Rettungswagen?«, klagte eine der Frauen.

    »Nicht, dass sie dehydriert ist«, bemerkte eine andere.

    »Wenigstens schlägt ihr Herz«, sagte eine Teilnehmerin, die sich ebenfalls neben Julia hingekniet hatte, erleichtert. »Ich fühle einen schwachen Puls.«

    Wenige Minuten später erklang in der Ferne die Sirene des Krankenwagens.

    NIEMAND GEWINNT

    Nevil parkte den schwarzen Pickup auf dem VIP-Parkplatz der Pferderennbahn von Washington D.C. und zog den Reißverschluss seines blauen Overalls bis zum Kinn hoch. Nachdem er sich eine Baseballmütze angezogen hatte, nahm er die Werkzeugtasche, stieg aus und schloss sich dem Besucherstrom an, der zum Eingang floss. In der Anlage waren bereits mehrere tausend Zuschauer eingetroffen. Die Tribünen und der Sattelplatz vor der Rennstrecke waren gefüllt. Nevil drängte sich durch die Menschenmenge bis an die Rennstrecke. Bei Musik einer Blaskapelle zog eine Parade von Pferden mit ihren Jockeys vorbei. Er schenkte dem Geschehen keine Beachtung, stattdessen galt seine Konzentration der weißen Absperrung, die die Pferde und die Zuschauer entlang der Bahn wie ein Geländer voneinander trennte. Er rüttelte an einem Pfosten, nahm einen Ringschlüssel aus der Werkzeugtasche, kniete sich nieder und machte sich an der Verankerung zu schaffen. Anschließend richtete er sich auf und wiederholte die Prozedur an dem nächsten Pfosten. Nach getaner Arbeit stand er auf, wandte sich vom Geländer ab und forderte die Zuschauer auf, etwas zur Seite zu gehen. Er machte ein Dutzend Schritte. Es sah so aus, als ob er den Boden vermessen würde. Er blieb stehen und prüfte mit dem Fuß den Rasen auf seine Festigkeit. Ein Mann mit einem auffällig großen Einstecktuch in seiner Jackentasche und einer Wettzeitung in der Hand tippte auf Nevils Schulter. Nevil drehte sich um.

    »Und? Wie ist der Boden?«

    »Warum fragen Sie?«

    Die Verwunderung über diese Gegenfrage war dem Mann ins Gesicht geschrieben. »Warum ich frage?«

    »Ja, warum fragen Sie?«

    »Ich dachte, Sie haben Ahnung und können etwas über die Bodenbeschaffenheit sagen.«

    »Ja, das kann ich.«

    Der Mann hob seine Hände und öffnete sie gleichzeitig. »Und? Wie ist der Boden heute? Werden wir ein schnelles Rennen sehen?«

    Nevil zögerte etwas. »Ich prüfe nicht die Bahn, wie Sie sehen, sondern den Sattelplatz. Die Pferde laufen drüben. Hier stehen die Esel.«

    »Mann, ist Ihnen etwas über die Leber gelaufen?«

    »Gehen Sie dahin, wo der Pfeffer wächst!«

    »Hey!«

    »Fahren Sie zur Hölle!«, sagte Nevil gedehnt und schaute dabei dem Mann mit seinen durchdringenden Augen an.

    Der Mann erstarrte. Lediglich seine Wimpern zuckten. Nevil kam näher und flüsterte dem Mann ins Ohr. »Der Boden ist genauso, wie er sein soll: an manchen Stellen hart, an manchen Stellen weich, fest, schwer und tief gleichzeitig. Er folgt heute keinem Gesetz. Nicht einmal einem Naturgesetzt. Ich hasse Gesetze, genauso wie ich Sie hasse.«

    Nevil zog die Baseballmütze tiefer ins Gesicht und ging durch die Menge zum VIP-Bereich, der sich über den Tribünen im Hauptgebäude befand. Der Flur zum VIP-Bereich war im Gegensatz zum Rest der Anlage leer. Er sah eine Herrentoilette und trat hinein. Im Vorraum mit den Waschbecken stand ein korpulenter Mann und kämmte sich vor dem Spiegel die Haare. Nevil ging zum äußersten Waschbecken, stellte die Werkzeugtasche auf den Boden, kniete sich hin und wackelte am Siphon. Der Mann wusch sich noch kurz die Hände, bevor er herausging. Nevil stand auf und ging mit der Tasche zu den Kabinen. Alle Anzeigen auf den Türen waren grün. Er betrat eine, verschloss sie und zog die Baseballmütze und den Overall aus. Darunter trug er einen schwarzen Anzug und ein schwarzes Hemd. Den Overall faltete er zusammen und drückte ihn zusammen mit der Mütze in die Werkzeugtasche hinein. Aus der Innentasche holte er einen seidenen Schal, den er locker um Hals und Schulter warf. Er horchte kurz auf, jemand war im Waschraum. Ein junger Mann war hineingetreten und ging auf sein Smartphone starrend in die Nachbarkabine. Nevil trat hinaus, stellte die Tasche auf den Boden. Nachdem er die Latexhandschuhe ausgezogen und in die Hosentasche gesteckt hatte, wusch er sich das Gesicht, legte seine Haare zurecht und machte sich auf zur VIP-Lounge. Der Junge kam zum Waschbecken, sah im Augenwinkel die Werkzeugtasche, kümmerte sich aber nicht weiter darum und verließ die Toilette.

    Mit übereinandergeschlagenen Beinen saß Nevil in einem der gepolsterten Sofas und schaute durch die Glasscheibe nach unten auf die grüne Rennbahn. In der Hand hielt er eine glänzende Schachfigur, einen schwarzen Springer, den er im Sekundentakt auf den Glastisch klopfte. Neben seinem Champagnerglas lagen sein Schal und ein ausgefüllter Wettschein mit 500 Dollar Wetteinsatz pro Rennen. Bei drei Rennen hatte er getippt, jeweils auf das Pferd mit der Startnummer sechs. Zufälligerweise waren diese drei die langsamsten Tiere im Rennen. Entsprechend waren die Wettquoten besonders hoch. Bei Tipp 4 hatte er handschriftlich dead heat notiert, für den Fall dass zwei oder mehrere Pferde das Ziel gleichzeitig als Erste erreichen.

    Gleich sollte das erste Rennen des Tages starten. Die Pferde mit den Jockeys kamen nach und nach zur Startbox und wurden in ihre Kabine hineingeführt, die hinter ihnen geschlossen wurde. Die Prozedur lief reibungslos. Die Spannung unter den Zuschauern stieg. Währenddessen flüsterte Nevil fast unhörbar. »Ruhig, Ihr seid gaaanz ruhig. Zeigt den Menschen wenigstens einmal, dass ihr nicht ihre Sklaven seid.«

    Die Türen der Startboxen sprangen auf. Zeitgleich läutete eine Glocke. Es rührte sich jedoch kein Pferd von der Stelle. Trotz aller Bemühungen der Jockeys blieben alle zwölf Tiere stur in ihrer Box. Der Moderator faselte etwas von einem wahrscheinlichen technischen Defekt an den Boxen. Ratlosigkeit spiegelte sich in den Gesten der Funktionäre und Reiter. Nach ein paar Diskussionen wurden die Türen wieder geschlossen. Offensichtlich sollte der Start wiederholt werden. Die Sekunden verrannen. Ich verachte euch, dachte Nevil. Ihr seid so schöne und kraftvolle Wesen, schöner und kraftvoller als die Menschen und doch habt ihr euch versklaven lassen. Ich verachte euch. Nevils Lippen bewegten sich. »Sklaven, macht das, wofür ihr da seid. Rennt!«

    Mit dem Glockensignal sprangen die Türen wieder auf. Die Pferde galoppierten los. Der Rennkommentator brüllte in sein Mikrofon und heizte die Atmosphäre an. Menschen schrien, der Boden bebte durch das dumpfe Hufgetrampel. Eine Gruppe von drei Pferden setzte sich schnell von den anderen ab und bildete die Spitze. Das Schlusslicht, Nummer Sechs, wurde trotz Hiebe des Jockeys nicht schneller.

    »Los, Sklave, renn!«, flüsterte Nevil und fing an wieder rhythmisch mit der Schachfigur auf den Glastisch zu klopfen. »Renn, renn,renn …«

    Plötzlich sprintete Nummer Sechs los und überholte in einem dramatischen Sprint die anderen. Auf der Zielgeraden lag sie sogar um eine Länge vorne und gewann das Rennen haushoch. Auf so manchen Gesichtern spiegelte sich eine Mischung aus Faszination und Staunen.

    »Wie hat er das gemacht?«, sagte jemand am Nachbartisch. »Der ist doch normalerweise lahm wie eine Schildkröte. Die Quote liegt bei 280.« Sein Blick fiel auf den Wettschein von Nevil. »Da haben Sie aber Glück gehabt.«

    Nevil wandte sich dem Mann zu. Es war der Korpulente vom Waschraum. »Ja, das stimmt. Ich hatte einfach Glück.«

    In den nächsten zwanzig Minuten starrte Nevil, ohne sich zu bewegen, auf eine Stelle der Rennbahn. Erst als das nächste Rennen angesagt wurde, nippte er an seinem Glas. Die Pferde mit den Jockeys wurden in die Kabinen hineingeführt. Mit dem Glockensignal sprangen die Türen wieder auf und die Pferde galoppierten los. Der Rennkommentator brüllte in gewohnter Weise in sein Mikrofon. Diesmal setzten sich zwei Pferde von den anderen ab und bildeten die Spitze. Das Schlusslicht, erneut Nummer Sechs, wurde regelrecht abgehängt. Trotz Bemühungen des Jockeys wurde es nicht schneller, im Gegenteil: Es wurde sogar langsamer und schließlich trabte es nur noch. Die anderen Pferde waren davongeprescht und befanden sich schon auf halber Distanz der Rennstrecke.

    »Lasst Nummer Sechs vorbei«, sagte Nevil und fing erneut an, auf den Tisch zu klopfen. »Los, Sklave, renn!«

    Plötzlich sprintete Nummer Sechs los und holte ungewöhnlich schnell auf. Mit dem Geschehen beschäftigt, bemerkten die meisten Zuschauer nicht, dass die anderen Pferde langsamer geworden waren und die Aufholjagd deshalb so mühelos klappte. Im letzten Drittel zog Nummer Sechs mit Leichtigkeit an den anderen vorbei. Als sie in die Zielgerade einlief, blieben die anderen Pferde einfach stehen, drehten um und galoppierten zurück. Die Reiter waren machtlos, sie hatten keine Kontrolle. Dass Nummer Sechs mittlerweile das Rennen gewonnen hatte und das wahrscheinlich mit der schlechtesten Rennzeit in der Galopprenngeschichte, interessierte in diesem Moment niemanden. Alle Augen waren auf die Pferde gerichtet, die sich selbständig gemacht hatten und in die andere Richtung rannten. Nevil schloss die Augen. »Drei Runden«, sagte er.

    Nach drei Runden blieben die Pferde einfach stehen. Das Signal für die Überprüfung erklang. Die Rennleitung samt Richter waren ratlos und beschlossen, dieses Rennen vorerst auszusetzen. Sie konnten schlecht elf von zwölf Pferden disqualifizieren. In der VIP-Lounge herrschte aufgebrachte Stimmung. Manche lachten, andere wiederum waren sauer. Sie vertraten die Meinung, dass das Ganze ein Komplott war. Der Rennkommentator erzählte immer wieder, dass er so einen Tag wie heute noch nie erlebt hatte und davon ausgehe, dass etwas die Tiere irritiert habe.

    Der Nachbar schielte auf den Wettschein von Nevil, der seine Augen geschlossen hatte und sich nicht bewegte. Auch für dieses Rennen hatte er richtig getippt. Und das Kuriose war: Für das nächste Rennen hatte er ebenso auf den sechsten Startplatz gesetzt. Laut den Buchmachern lag die Quote für dieses Pferd bei 340. Es war nicht nur das langsamste Pferd auf dem Platz, sondern es hatte bisher noch nie gewonnen, ein sogenannter Maiden.

    Nevil kümmerte nicht, was um ihn herum passierte. Er befand sich in einer Art Trance. Vor seinem geistigen Auge sah er die Erde, auf deren Oberfläche er einen kleinen Schatten bemerkte, der näher zu kommen schien. Er wusste, dass er den Planeten vom Mond aus sah. Langsam formte sich der Körper einer Frau, der auf den Mond zu fallen schien. Sie hatte eine besondere Energie, jene Energie, die auch durch seine Adern floss. Plötzlich erblickte er ihre Augen. Noch bevor er richtig begreifen konnte, was er da sah, holte die Glocke des nächsten Rennens ihn wieder in die VIP-Lounge.

    Auch das nächste Rennen verlief wie die beiden zuvor. Nummer Sechs wurde erst abgehängt, überholte dann nach einer Art Anweisung von Nevil, in einer dramatischen Aufholjagd die anderen und gewann.

    »Oh Mann«, sagte der Nachbar. »Wie geht das?«

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