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Rauchmord
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eBook344 Seiten4 Stunden

Rauchmord

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Über dieses E-Book

Richard, vom Gesundheitssystem frustrierter Arzt, schlägt sich als freier Journalist durch. Als er sich in Sandra verliebt ist das wie ein Beben. Sie aber verschwindet, für ihn völlig unerklärlich. Wird er sie irgendwann wiedersehen?
Eine Explosion in seinem Wohnhaus bringt nicht nur dessen Mauern sondern auch die Grundfesten in Richards Leben ins Wanken. Wie soll es weitergehen?
Richard muss wieder zu seinen Eltern ziehen. Mit denen hatte er sich ein Jahr zuvor überworfen. Er findet seine Mutter nach zwei Schlaganfällen im Wachkoma, den Vater verzweifelt. Den beiden Männern gelingt es gemeinsam, die geliebte Frau bis an ihr Ende zu begleiten. Viele Zweifel über den Weg dorthin müssen diskutiert werden. Darf ein Leben durch Einstellen der Therapie vorzeitig beendet werden oder müssen alle medizinischen Möglichkeiten bis zum Schluss genutzt werden?
Mit viel Empathie steht Margherita an der Seite der beiden. Sie war bei einem Besuch in der Stadt in Richards Wohnung gestrandet und fand dann auch in seinem Elternhaus Asyl.
Was hat es mit der Explosion auf sich, bei der ein Tabakwarenhändler starb? Was ist mit Sandra? Bekommt sie eine zweite Chance bei Richard?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum14. Mai 2018
ISBN9783746935331
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    Buchvorschau

    Rauchmord - Wolfgang Klauke

    1

    An einem warmen Morgen im August lernte Richard Sandra kennen. Sie war keine Frau, die ihn auf den ersten Blick interessierte. Die Haare mittellang ohne besondere Fasson herunterhängend, dunkelblond. Die Figur unter einem weiten Sweatshirt und Jeans nicht recht zu erkennen. Was ihn jedoch aufmerksam werden ließ, war ihre dunkle Stimme, deren Timbre die Luft bei jedem ihrer Worte vibrieren ließ. Die Schwingungen erreichten Richard. Berührten ihn. Nahmen ihm den Atem.

    Sie stand am Zeitungskiosk und unterhielt sich lachend mit Lorenzo, dem Kioskbesitzer. Soweit Richard es beurteilen konnte, war sie Lorenzos Typ. Sie lachte über eine Bemerkung von ihm. War ganz auf ihn konzentriert, so dass sie Richard nicht bemerkte, als er neben sie trat.

    „Buon giorno, Dottore, begrüßte ihn Lorenzo. „Schon ausgeschlafen?

    Mit einem wissenden Grinsen schob er Richard die taz und seine derzeit tägliche Zigarettenration – zwei Päckchen Gauloises – über den Tresen. Während Richard das Wechselgeld achtlos in seine Hosentasche steckte, betrachtete er Lorenzo, der sich seinerseits wieder der jungen Frau zugewandt hatte. Ihre Stimme war wirklich faszinierend.

    „Lorenzo, was ist mit der sprichwörtlichen italienischen Höflichkeit? Willst du mich der Dottoressa nicht vorstellen?"

    Der sonst immer freundliche, fröhliche Lorenzo sah Richard nur für einen kurzen Augenblick an. Verschwinde und mach diese Frau nicht an, du Provinz-Casanova. So oder ähnlich lautete seine Botschaft. Richard hob entschuldigend die Hände, wobei ein Päckchen Gauloises zu Boden fiel. Im Bücken sagte er seinen täglichen Spruch: „Ciao, Lorenzo, a domani."

    Richard sprach nur Touristen-Italienisch, aber er hatte immer den Eindruck, er könne Lorenzo eine Freude machen, wenn er ihn in seiner Muttersprache begrüßte und verabschiedete.

    Während er sich zu seinem Gauloises-Päckchen bückte, merkte Richard, dass er nicht allein war. Auch die Dottoressa hatte sich gebückt. Unter Lorenzos gestrengem Blick her getaucht hockten sie nun für einen Moment Auge in Auge über einer Zigarettenschachtel. Sie kicherte leise über die Grimasse mit der Richard versuchte, Lorenzos Gesichtsausdruck nachzuahmen, die Augen in seine Richtung verdreht.

    Dann trafen sich ihre Hände bei den Gauloises. Elektrisierendes Blind Date. Sie sahen sich weiter in die Augen. Die Hände mussten schon allein zurechtkommen. Sie kamen. Aufeinander zu, übereinander, untereinander, in einander verschlungen. Beide erhoben sich aus der Hocke. Stießen fast mit Lorenzo zusammen, der sich – mittlerweile irritiert durch das Abtauchen der beiden – über seinen Tresen gebeugt hatte.

    „Was habt ihr denn da gemacht?" fragte er, auf eine traurige Art zornig.

    „Zigaretten aufgehoben", erwiderte Richard. Ein Blick, der gleichgültig wirken sollte.

    „Das ging dann aber gründlich daneben!" Lorenzo sah man an, dass ihn dieses kurze, aber intensive tête-à-tête ärgerte.

    „Wieso?" Richard schaute zu Boden und sah, was Lorenzo meinte. Die Zigaretten lagen vor seinen Füßen.

    Jetzt stand er da. Traute sich kaum, die Frau ihm gegenüber anzusehen. Erinnerungen an die Untermieterin der Nachbarn, die ihn damals als Vierzehnjähriger so verunsichert hatte, die seine Fantasien damals anfachte – und ihn dann mit seinem vehement aufkeimenden Sexualtrieb allein ließ. Wenn sie sich begegneten, bekam er kaum einen Gruß über die Lippen. Die Stimmbänder plötzlich geschwollen. Die Luft eine zähe Masse, nicht in der Lage, irgendetwas zum Schwingen zu bringen.

    Richard kehrte aus der Vergangenheit zurück. Schaute weiter auf den Auslöser dieses Szenarios. Bückte sich erneut. Dieses Mal ohne Zwischenfall. Hob die Zigaretten auf.

    „Wenn Lorenzo mich nicht vorstellt, mach ich’s halt selbst. Ich heiße Sandra."

    Er schickte ein Dankgebet an wen auch immer, froh über die Entspannung dieser seltsamen Situation. Lorenzo war ihm lieb und teuer. Sie hatten manche Nacht durchgesoffen. Sich wechselseitig über Liebeskummer und andere Fährnisse des Lebens hinweggeholfen. Und jetzt das. Diese Frau. Sie hatte ihn elektrisiert. Rücksichtnahme auf Lorenzo war da fehl am Platze. Er reichte ihr seine Hand und sagte: „Richard."

    Wieder sahen sie sich an. Hielten die Hand des anderen länger als es in der Situation nötig gewesen wäre. Lorenzo knallte einen noch gebundenen Stapel Zeitschriften auf den Tresen. Begann ihn aufzuschneiden. Sortierte die Blätter in ihre Fächer an einem Ständer.

    Richard ließ Sandras Hand los.

    „Komm, gehen wir frühstücken."

    Lorenzo war auf der Rückseite des Kiosks mit dem Einsortieren der neuen Zeitschriften beschäftigt. Sie drückten sich beide vor einer Verabschiedung und gingen.

    Sandra lief rechts von ihm. So wechselte er taz und Gauloises in die linke Hand, um die rechte frei zu haben. Nur für den Fall, dass ihre Hände wieder ein Date hätten. Sie beobachtete sein Tun. Grinste ihn verschmitzt von unten an. Sie reichte ihm bis zur Schulter, so dass ein Auge in Auge wirklich nur sitzend möglich war. Oder eben in der Hocke. Gedanken an weitere Möglichkeiten vertagte er auf später.

    Es hätte in direkter Nachbarschaft des Kiosks einige Cafés zum Frühstücken gegeben, doch die mochten sie beide nicht nutzen. Ohne ein Wort darüber zu verlieren gingen sie die Hauptstraße hinunter und landeten bei Leder & Frantzen. Wie immer war hier kaum ein Platz frei. Doch sie hatten Glück. Gerade als sie sich nach einem leeren Tisch umsahen, standen zwei Männer auf und gingen.

    „Arme Schweine", sagte Richard mehr zu sich selbst, während er sich setzte und ihnen nachsah.

    „Was meinst du?" fragte Sandra.

    „Na, diese beiden Bankertypen. Müssen dunkle Anzüge und Schlipse tragen bei dem Wetter."

    Sandra antwortete nicht. Sie sah ihn kurz an. Bestellte bei der Bedienung ein Frühstück Nr.2 mit Kaffee. Ohne zu überlegen oder zu wissen, was sich hinter diesem Kürzel verbarg, bestellte er das gleiche. Ihn beschäftigte viel mehr die Frage, welche Farbe eigentlich Sandras Augen hätten. Die mussten wenigstens einen Touch von grün haben. Da war er sich sicher. Oder doch blau? Er war diesen Augen so nah gewesen und hatte doch nichts gesehen. Wenn das kein Blind Date war.

    „Was treibst du eigentlich so, wenn du nicht gerade mit Zigaretten wirfst?" fragte Sandra.

    „Meinst du beruflich?"

    „Ja, auch."

    „Da bin ich vielseitig. Eigentlich bin ich Arzt, schreibe zurzeit aber als freier Journalist für die Zeitung, die mein Geschreibsel kauft. Und notfalls bin ich Sohn."

    „Wow, der arme Vater", grinste Sandra.

    Sie schnitt eines der mit Frühstück Nr.2 gekommenen Brötchen auf. Er wandte sich seinem Gedeck zu und stellte fest, dass weder Wurst noch Käse zu Frühstück Nr.2 gehörten. Er musste also nachbestellen. Oder aber Marmelade und Honig essen. Irgendwie gefielen ihm beide Varianten nicht. Da passiv zu bleiben in einem solchen Fall von selbst geht, aß er Erdbeermarmelade und Honig. Inbegriff eines guten, deutschen Frühstücks.

    Sandra war ganz auf Brötchen und Kaffee konzentriert. Schenkte ihm keine Beachtung. Nachdem er seine Aversion gegen Süßes zum Frühstück erst einmal überwunden hatte, konnte er sich auch, abwechselnd Brötchen und Kaffeetasse in der Hand, zurücklehnen und den Moment genießen.

    „Studierst du?"

    Die Frage war durchaus auch als geschickt getarntes Kompliment gedacht. Wenn er ehrlich war, schätzte er Sandra auf Ende zwanzig. Sie wäre also den üblichen Studiengängen normalerweise schon entwachsen.

    „Quatsch, sagte sie mit einem Zucken um die Mundwinkel, wohl einem Lächeln entsprungen. „Ich bin arbeitslos, verdiene etwas mit Nachhilfeunterricht und Babysitten.

    „Und was hast du vorher gemacht?"

    „Dies und das. Zuletzt hab ich dem Bühnenbildner beim Jungen Theater assistiert."

    „Was macht man da eigentlich genau, als Bühnenbildner?"

    Die Frage interessierte ihn wirklich. Sandra begann ausführlich zu beschreiben, wie ein Bühnenbild entsteht. Von der Idee über die Tischler- und Malerarbeiten, Recherche in der Requisite bis zum Realisieren eines fertigen Bildes. Es war greifbar, wie sie auch in Gedanken in dieser Welt lebte. Ihm wurde schmerzlich die Leere bewusst, die ihn ergriff, wenn er an Arbeit dachte.

    Als er mit dem Schreiben begann, erschien es ihm als der große Schritt in die unendliche Freiheit. Kein Chefarzt, kein Oberarzt, der ihn kujonieren konnte. Kein Verwaltungsgremium, das sein Glaubensbekenntnis hinterfragte. Und vor allem keine Patienten, die ihm mit ihren überzogenen Ansprüchen an ärztliche Kunst und komfortable Behandlung auf den Geist gehen konnten, nachdem sie ein Leben lang alles dafür getan hatten, ihre Gesundheit möglichst gründlich zu ruinieren. Wenn das dann gelungen war, musste die Medizin herhalten – Ärzte als Trümmerfrauen. Nein, danke.

    Bald schon stellte sich allerdings die Erkenntnis ein, dass es in der Arbeitswelt überall Abhängigkeiten gibt, die zu umschiffen einem kleinen Licht wie ihm nicht möglich ist. In seinem Fall als freier Journalist waren dies die Zeitungsredaktionen, meistens in Gestalt mitleidig und müde lächelnder Chefredakteure.

    „Ich geh dann mal", sagte Sandras Stimme neben ihm.

    Er schrak aus seinen Träumen hoch. Sah in ein ernstes Gesicht, das ihm noch viel anziehender erschien als das lächelnde von vorhin.

    „Entschuldige, ich war ein wenig abgedriftet. Kennst du das, wenn plötzlich die ganzen Widrigkeiten deines Lebens in dein Bewusstsein treten?"

    Sandra legte den Kopf ein wenig schief. Sah ihn weiterhin ernst an. Der Gesichtsausdruck changierte langsam in ein leicht spöttisches Lächeln.

    „Ich dachte nicht, dass du eine solche Masche brauchen würdest. Schade. Sie stand auf, legte ihm kurz die Hand auf die Schulter und sagte: „Danke fürs Frühstück. Sie wandte sich zum Gehen.

    „Hey, warte. Das war keine Masche. Ich hab nur gesagt, was ich grad dachte."

    Er sprang auf, stieß gegen den Stuhl, auf dem er taz und Gauloises geparkt hatte. Beides segelte vor Sandras Füße. Sie zögert einen Moment im Weitergehen. Dann stand er vor ihr. Hielt sie an den Schultern fest. Wieder trafen sich ihre Blicke, stieben Funken von Wissen um mögliche Lust. Der blaugrüne Blick Sandras ein wenig trotzig vielleicht, aber eindeutig auch mit dem Wunsch nach mehr. Da war er sich sicher.

    „Ich muss jetzt los. Um elf hab ich einen Termin. „Ich denke, du bist arbeitslos.

    „Meinst du Arbeitslose haben keine Termine?

    Man merkt doch deutlich, dass du hauptberuflich Sohn bist."

    Richard schaute Sandra an. Suchte in ihrem Blick ein Widerspiegeln der Aggression ihrer Worte. Versuchte zu verstehen, was den Stimmungsumschwung bewirkt hatte.

    „Entschuldigung, Sie müssen noch bezahlen, bevor sie gehen." Die Aufforderung wurde durch eine Berührung an Richards linker Schulter unterstrichen.

    Er drehte sich um und sah in das rundliche, jetzt eher unfreundliche Gesicht der Bedienung.

    „Ja, klar", murmelte er, während er in seinen Taschen nach Geld suchte. Ein Portemonnaie benutzte er nie. Es beulte die engen Jeans über Gebühr aus. Während der Suche rekonstruierte er den Verlauf des Vormittags. Ihm wurde klar, dass er kein Geld finden würde, außer den paar Cent, die er von Lorenzo als Wechselgeld herausbekommen hatte. Er wollte ja nur Zigaretten und Zeitung einkaufen.

    „Äh, Sandra ..." Im Umdrehen stockte er. Sandra war gegangen. Er sah sich um und entdeckte sie. Sie bog gerade in die Berthastraße ein.

    „Tja, jetzt haben wir ein Problem."

    Er wandte sich wieder der Bedienung zu, die ihn nun endgültig verärgert ansah.

    „Ich habe nicht genügend Geld bei mir. Und Sie haben ja gesehen, wie meine Bekannte mich hat stehen lassen."

    „Dann kommen Sie bitte mit zum Chef. Versuch eines gestrengen Blickes. „Der wird schon wissen, was zu tun ist.

    Richard folgte der energisch in den Verkaufsraum stapfenden Bedienung, die zielstrebig auf ihren Chef zu steuerte, der wie meistens seitlich hinter der Kasse stand und gelegentliche Honneurs machte. Einen kurzen Augenblick lang überlegte Richard, ob er nicht einfach verschwinden solle. Er verwarf den Gedanken schnell wieder. Die Bedienung und er waren schon zu sehr ins Rampenlicht der ringsum sitzenden Gäste geraten.

    „Herr Schubert! Gleichzeitig atemlos und empört verträgt sich nicht, grinste Richard. „Dieser Herr hier hat zwei Frühstück Nr.2 bestellt und kann sie jetzt nicht bezahlen! Fasziniert beobachtete Richard weiter die Frau. Nach diesem langen Satz schnappte sie mit aufgerissenen Augen nach Luft. Wie eine Kaulquappe, dachte er.

    „Mein Name ist von Dernberg, sagte Richard. Zu Schul- und Studienzeiten war ihm das „von

    immer peinlich gewesen. Da hatte Dernberg gereicht. In der Arbeitswelt hatte es sich schon manchmal als hilfreich erwiesen. Jetzt hatte er es bewusst ein wenig betont.

    „Es tut mir leid, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten mache. Natürlich werde ich das Frühstück bezahlen. Ich muss nur mein Geld holen. Ich wohne um die Ecke, in der Röntgenstraße."

    Kaum hatte er es ausgesprochen, da war Richard klar, der Von-Bonus wurde reichlich belastet. Die Röntgenstraße war nun wirklich nicht die erste Adresse in dieser Stadt.

    Herr Schubert sah ihn von oben bis unten an, als wolle er seinen Wert taxieren. Suchte nur den passenden Platz für den Kuckuck.

    „Haben Sie einen Ausweis oder Ähnliches dabei?" Immerhin war die Frage freundlich gestellt. Der Blick allerdings ruhte weiterhin streng auf dem Delinquenten.

    Richard überlegte.

    „Außer der Zeitung und meinen Zigaretten habe ich nur achtzig Cents dabei."

    Eine bekannte Stimme an der Kasse ließ Richard aufblicken. Da stand wahrhaftig Annika. Seine dea ex machina.

    „Hallo, Annika, kannst du mir mal helfen?" Überrascht betrachtete sie die Szene, erfasste schnell den möglichen Grund für Richards Hilferuf. Sie zögerte. Sollte sie ihm helfen? Trotz allem?

    „Die Dame kennt Sie doch gar nicht." Diese als Tatsache in den Raum gestellte Behauptung von Herrn Schubert gab den Ausschlag. Annika wandte sich kopfschüttelnd zum Gehen.

    „Entschuldigen Sie die Belästigung, gnä‘ Frau!" rief Herr Schubert ihr dienstbeflissen hinterher.

    Für den Moment fiel Richard nichts mehr ein. Was ist denn bloß mit Annika los. Die Aktion war doch allenfalls billig. Nicht ihr Niveau, dachte er. Das Ende ihrer Beziehung war nicht von ausgefeilter Dramaturgie gewesen, zugegeben. Andererseits. Kommt auf den Film an, dachte er schmunzelnd.

    „Also lächerlich finde ich die Situation nun überhaupt nicht", ereiferte sich indes Herr Schubert, Richards Miene fehlinterpretierend.

    „Was soll ich tun? Richard hob die Schultern. „Zum Tellerwaschen haben Sie doch sicher eine Maschine. Unschuldiger Blick, mit Mühe ein weiteres Lachen unterdrückend. Schon zu Schulzeiten entzog sich Richard dem Ernst mancher Situationen durch Lachen. „Childish behavior in class", hatte ihm ein amerikanischer Austauschlehrer im Klassenbuch attestiert. Konnte Kind-Bleiben bis ins hohe Alter nicht auch ein Lebensziel sein?

    „Herr von Dernberg, Schubert hatte sich seinen Namen gemerkt! „Ich will hier kein weiteres Aufhebens machen. Geben Sie mir die zwei Zigarettenschachteln und holen Sie ihr Geld. Oder lassen Sie’s.

    Der Nachsatz erreichte die Außenwelt von einem Seufzer getragen.

    Richard übergab die Zigaretten und wandte sich zum Gehen. „Bin gleich wieder da."

    Draußen erst dachte er an Sandra. Er wollte sie wiedersehen. Das Missverständnis ausräumen, von dem er nicht wusste, wie es zustande gekommen war. Sie hören, sehen.

    Richard hastete zurück ins Café und zahlte dem sehr überraschten Herrn Schubert den ausstehenden Betrag. Nahm seine Zigaretten in Empfang. Ging ohne ein weiteres Wort. Lorenzo war seine einzige Hoffnung.

    2

    Abgehetzt und verschwitzt erreichte Sandra das Polizeipräsidium. Da sie erst seit einigen Tagen hier ihren Dienst verrichtete, musste sie sich jedes Mal ausweisen, da immer neue Beamte den Zugang zu den Diensträumen überwachten. Lästig, aber eine Frage der Zeit. Wahrscheinlich hatte sie ihren Auftrag längst erledigt, bevor sie alle kannten.

    Sie ging direkt ins Besprechungszimmer im zweiten Stock. Nahm die Treppe, um nicht auf den Fahrstuhl warten zu müssen. Mit Schweißflecken auf dem dunklen T-Shirt und außer Atem betrat sie den Raum. Alle drehten sich zu ihr. Sie zögerte einen Moment, bevor sie zu einer Entschuldigung ansetzte.

    „Guten Morgen Frau Straub. Auch wenn das hier nicht Berlin ist, haben wir doch Regeln, an die sich alle halten sollten. Solange sie also bei uns Dienst tun, seien Sie bitte pünktlich. Das erspart Ihnen dann auch hässliche Schweißflecken."

    Kriminaldirektor Hesse hatte, wie schon bei ihrer Begrüßung vor drei Tagen, eine strenge Miene aufgesetzt. Kugel-Hesse, wie er von den Kollegen wegen seines imposanten Bauchs genannt wurde, meinte wohl, sich so Respekt verschaffen zu können. Sandra gehörte nicht zu denen, die sich so schnell durch derartige Faxen beeindrucken ließen. Sie schätzte es, wenn ihr ein Vorgesetzter sachlich und kompetent begegnete. So war der Herr Kriminaldirektor schon in den ersten fünf Minuten bei ihr durchgefallen.

    Sie setzte sich auf den nächsten freien Stuhl und nickte Rolf Krüger zu. Der war als Kollege und direkter Ansprechpartner eher ihr Fall. Ruhig hatte er sie eingewiesen und ihr die Situation in seiner Stadt, wie er sagte, umfänglich dargestellt.

    Sie war vor kurzem zur Oberkommissarin befördert und direkt danach vom Bundeskriminalamt hierher abgestellt worden. Für eine Ermittlung, die ein unverbrauchtes Gesicht benötigte, wie ihr Chef in Berlin es formulierte. Mit anderen Worten, sie sollte verdeckt ermitteln. Sie hatte sich für diese Tätigkeit schon früh beworben, da sie ungebunden war und Lust darauf hatte, herum zu kommen. Auf diese Weise Deutschland kennen zu lernen.

    Immer wieder war sie auf die Gefahren hingewiesen worden, die eine solche Tätigkeit über das normale Maß polizeilicher Arbeit hinaus mit sich brachte. Aber sie hatte alle Bedenken weggelächelt und zuletzt ihre Mutter herzlich umarmt und ihr versichert, sie werde schon auf sich aufpassen.

    Toll, dachte sie jetzt, und sich dann gleich erst mal so anmachen lassen, dass fast die Deckung auffliegt. Bei einem Journalisten. Bin ich denn total bescheuert. Aber dann dachte sie an Richard. Wieder spürte sie dieses Kribbeln in der Magengegend. Sie schaute aus dem Fenster und fragte sich, ob sie ihn irgendwie wiedersehen könnte, wenn das hier alles vorbei wäre.

    Kugel-Hesse riss sie aus ihren Träumereien.

    „Ich würde mich freuen, wenn die Kollegin Straub dann auch geistig bei uns ankäme. Wir sitzen hier nämlich nicht, um das schöne Wetter draußen zu beobachten. Können sie schon etwas zum Fall Ziege sagen, Frau Kollegin? Oder soll ich da heute Nachmittag noch einmal um eine Audienz bitten? Wie ist das so üblich im großen Berlin?"

    Einige Kollegen lachten oder schmunzelten zumindest. Sandra ärgerte sich noch mehr über sich selbst und lief jetzt doch rot an. Vor allem diese Ironie mit der mühsam dahinter versteckten Aggressivität konnte sie so gar nicht leiden. Aber sie hatte das ja selber provoziert.

    „Ich habe in den beiden letzten Tagen Kontakt mit dem Chef des Fuhrunternehmens Drewes hier in der Stadt und mit zwei Tabakwarenhändlern im Zentrum aufgenommen. Im ersten Fall habe ich mich um eine freie Stelle als Disponentin beworben. Die erforderlichen Zeugnisse habe ich mir aus Berlin schicken lassen. Ich werde die Stelle am nächsten Dienstag antreten."

    „Und was machen sie bis dahin? Warum fangen sie da nicht gleich an?" Hesse konnte es nicht lassen. Er provozierte weiter.

    „Also in Berlin tritt man Stellen zum ersten oder fünfzehnten eines Monats an. Bei Drewes ist das auch so. Aber wir hatten Glück, dass am Dienstag der Erste ist."

    Sie sah den Kriminaldirektor ausdruckslos an. Dem hatte es für den Moment die Sprache verschlagen. So referierte sie weiter, als ob nichts gewesen wäre.

    „Der eine Tabakhändler, ein Shmuel Krakowski in der Röntgenstraße, könnte eine Quelle sein. Ich habe mich von ihm wegen Zigarren für meinen Vater beraten lassen. Dabei sind wir ins Gespräch gekommen und haben uns dann über alles Mögliche unterhalten. Ich hatte eine Zeitung dabei, in der ein Artikel über Zigarettenschmuggel als Aufmacher stand. Als er die Überschrift sah, kam er von sich aus auf das Thema und schimpfte wie ein Rohrspatz über diese Verbrecher, die ihm sein Geschäft ruinierten. Irgendwie hatte er mit denen Kontakt. Da bin ich mir ziemlich sicher."

    Bevor Kugel-Hesse wieder Gift verspritzen konnte, stand Rolf Krüger auf und lobte die Initiative der neuen Kollegin. Sie solle dranbleiben, war seine Anweisung. Die Sitzung war beendet.

    3

    „Ciao, Lorenzo. Come stai?"

    Lorenzo schaute Richard aus müden Augen an.

    „Ciao, Ricardo. Bist du schon fertig mit ihr?"

    „Hör mal. Sie ist gegangen. Einfach so. Ich habe sie geärgert, weiß nur nicht wie. Ich will sie finden."

    „Ich kenne nicht mal ihren Namen. Du weißt, wie das ist. Kunden kommen, freuen sich über netten Italiener, quatschen, hauen ab. Ich lerne sie nie kennen. Auch die Dottoressa nicht. Leider."

    Nachdem Lorenzo eine Kundin mit zwei Zeitschriften versorgt hatte, fragte Richard: „Wann kommt sie denn immer?"

    „Was heißt immer? Heut hab ich sie zum ersten Mal gesehen. Lass uns heut Abend was trinken. Mir ist danach."

    „Okay. Hol mich ab wenn du fertig bist. Ich bin zuhause. Im Weggehen winkte er mit der rechten Hand. Rief „Ciao. War in Gedanken schon am Computer. Das Junge Theater musste doch eine Homepage haben, auf der auch die Mitarbeiter verzeichnet waren. Vielleicht hatten sie die ja noch nicht aktualisiert.

    Die Hoffnung trog. War eigentlich auch vorher klar. Die Webseite eines Theaters wirbt schließlich für kommende Veranstaltungen. Nicht für die von vor zwei Jahren. Unwillig wechselte er zu Google. Dachte – noch unwilliger – an den Artikel, für den er noch recherchieren musste.

    Insidergeschäfte. Mit ein bisschen Glück ein Knüller der ein wenig Geld in die Kasse brächte. Und danach Zeit für Sandra.

    Das Schreibprogramm startete. Richard kochte einen Kaffee. Nahm Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Setzte sich so ausgerüstet an den Schreibtisch.

    Von der Straße drang ein Raunen. Die Röntgenstraße war während der Geschäftszeiten stark frequentiert. Die Ablenkung vorprogrammiert. Von nebenan drang zu allem Überfluss das Stakkato eines Schlagbohrers herüber. Man kann in diesem Irrenhaus wirklich nur nachts arbeiten, dachte er. Eine Erkenntnis, die nicht neu war. Aber immer wieder gut als Grund taugte, nicht zu arbeiten. Ein wenig Recherche kann ich ja wenigstens machen.

    Die Bilanz des Artemis-Konzerns war problemlos zu finden. Allerdings die für das aktuelle Jahr. Die von den Vorjahren fand er auf der Artemis-Homepage nicht. Es gab natürlich Recherche-Datenbanken, doch die ließen sich ihre Dienste teuer bezahlen. Richard fuhr den Rechner runter. Trank den Kaffee aus. Dann machte er sich auf den Weg zur Uni-Bibliothek.

    Nachdem man ihn durch Zwangsexmatrikulation aus der medizinischen Fakultät ausgeschlossen hatte, hatte er sich zu wechselnden Studiengängen immatrikuliert. Das Studenten-Dasein hatte Vorteile. Bei der Krankenkasse ebenso wie bei der Nutzung der Bücherei. Auf seinem Weg musterte Richard die Tische bei Leder & Frantzen auf der Suche nach Sandra.

    Bog in die Berthastraße, so wie sie vor eineinhalb Stunden. Kindisch die Hoffnung, sie plötzlich vor sich zu sehen. Und dennoch.

    In der UB legte er seinen Ausweis vor. Erntete wie immer bei dieser Mitarbeiterin einen erstaunten, zweifelnden Blick. Dann das bedeutungsvolle Hochziehen der Augenbrauen. Es sollte Richard wohl ihre Missbilligung angesichts der langen Studienzeit zeigen. Er lächelte nur weiterhin freundlich. Nahm seinen Ausweis wieder entgegen. Wandte sich dem Katalog zu.

    Die Artemis-Bilanzen waren schnell gefunden. Er füllte die Anforderungsscheine für Kopien aus. Jetzt noch die Namen der Aufsichtsräte und Vorstandsmitglieder. Auch diese Suche konnte er schnell erfolgreich abschließen. Hier genügten Notizen.

    Der Kern des Problems war wie immer der Nachweis illegaler Praktiken. Da wurde es brisant. Unter den Namen der Aufsichtsräte fanden sich ein Bundes- und ein Landesminister sowie ein hoher Gewerkschaftsfunktionär. Wenn sein Informant recht hatte, waren sie alle mit von der Partie, als es darum ging, bei der Fusion einen Anteil zu ergaunern. Wie hatten sie das angefangen? Unter eigenem Namen natürlich nicht. Das Unverfänglichste war, zwei oder drei Gesellschaften zu gründen, über die die Geschäfte schön verschachtelt abgewickelt wurden. Eine Bank im Ausland. Die erledigte die Transfers unauffällig, unter dem Schutz des Bankgeheimnisses. Luxemburg bot

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