Das Klassenbuch: Geschichten
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Über dieses E-Book
Nach seinem ersten Buch "Gedanken stapeln, Worte pflegen, Sprüche klopfen" mit Aphorismen und Wortspielen aus dem lyrischen Genre widmet er sich mit "Das Klassenbuch" nun der erzählenden Literatur.
In zehn Geschichten bespielt er auf der Skala heiter bis tragisch Schauplätze aus dem Leben der Schule bzw. aus der Schule des Lebens - ganz wie es der Leser empfinden mag.
Hans-Werner Lücker
Hans-Werner Lücker, geboren 1953, ist pensionierter Gymnasiallehrer mit den Fächern Mathematik, Physik und Informatik. Er widmet sich seit fünfzehn Jahren dem Schreiben. Nachdem er sich zunächst vorwiegend mit der Lyrik beschäftigte, hat er sich in seinen letzten Büchern der erzählenden Literatur zugewandt. Nach mehreren Bänden mit Kurzgeschichten ist mit "Tatort Schule" sein erster Roman erschienen.
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Buchvorschau
Das Klassenbuch - Hans-Werner Lücker
Das Klassenbuch
Albert Kohl inspiziert über die Gläser seiner Brille hinweg die im Klassenraum stehend versammelte Schülerschar, während er das auf seinem linken Unterarm ruhende Klassenbuch behäbig mit der rechten Hand Seite für Seite umblättert.
Es scheint wieder einmal keine Ruhe unter den dreißig Jungs aufkommen zu wollen. Wie er es hasst – dieses morgendliche Ritual!
Und wie es die Neuntklässler hassen! Jetzt stehen sie sich schon minutenlang die Beine in den Bauch und ihr Englischlehrer hat nichts Besseres zu tun, als sie anzuglotzen und sich dabei von der ersten Seite des Klassenbuchs in Richtung der aktuellen durchzublättern. Das kann heute – kurz vor dem Schuljahresende 1968 – noch ewig lange dauern.
Die Uraufführung dieses Schauspiels fand am ersten Schultag statt, als Herr Kohl die Klasse – ohne sich weiter als ihr neuer Englischlehrer vorzustellen – mit einem gegähnten „Get up!" anwies, gefälligst aufzustehen.
Er hielt das geöffnete Klassenbuch in seinen sehnigen Händen und musterte mit einem langsam durch den Raum streifenden Blick jeden einzelnen seiner neuen Schüler.
Und diese musterten zurück. Zwar kannten sie ihn schon von der Pausenaufsicht, doch hatten sein viel zu langer Trenchcoat und die übergroße pechschwarze Baskenmütze ihnen die Details vorenthalten, die sie jetzt wahrnehmen konnten.
Die dunkelbraune Feincordhose hielt an der großen, aber dünnen Gestalt nur mit Hilfe eines breiten Kunstledergürtels, der – irgendwo hoch zwischen Bauchnabel und Brustwarzen – den schmächtigen Leib zusammenschnürte. Das spärliche, fettige Haar verlor sich – nach hinten gekämmt – auf dem für die Körpergröße zu klein geratenen Schädel und durch die randlose Brille schauten zwei zu Spalten verkniffene Augen. Oder waren es etwa Schlitzaugen?
„Who is absent today?". Albert Kohl beendete sein stummes Durchmustern der Jungs, die sich verwundert ansahen. Wer fehlt denn schon am ersten Schultag nach den Sommerferien?
Weil niemand antwortete, verkündete ihr neuer Englischlehrer das Ende der Premiere seines Kontrollstückes: „Sit down!".
Alle Englischstunden sollten nun auf die gleiche Weise beginnen. Der restliche Unterricht erschöpfte sich in einem Vorlesemonolog des Lehrers, einer kurzen auf Englisch geführten Frage-Antwort-Unterhaltung – Herr Kohl übernahm darin beide Parts – und einer endlosen Litanei über Gott und die Welt in akzentfreiem Deutsch.
„Ihr seid so schlecht! Meine Frau unterrichtet am Mädchengymnasium und hat dort ein um Welten besseres Publikum", schimpfte er nicht nur einmal. Nein – es war kein Schimpfen – er jammerte und verzog dabei seinen Mund, als hätte er an einem Glas Essig genippt.
Die Folgen solcher Äußerungen für die Mitarbeit seiner Schüler waren das Gegenteil dessen, was er sich – wenn überhaupt – davon erhoffte.
Albert Kohl mochte seinen Beruf nicht. Er schien zu leiden – auch körperlich. Wenn er wieder mal über seine Magenschmerzen klagte, machte das ihn und seinen dürftigen Unterricht allerdings für die Neuntklässler nicht gerade interessanter.
Anfangs hätten sie noch Mitleid empfinden können, doch sie meinten bald Grund genug zu haben, ihn nur noch ihre Ablehnung spüren zu lassen.
„Sie werden uns überrollen, unsere Kultur zerstören und die Weltherrschaft übernehmen", prophezeite Herr Kohl eines Tages seiner Klasse. Die Schüler schauten sich ungläubig an.
„Wer kriegt denn in Deutschland noch annähernd so viele Kinder wie die?", schob ihr Englischlehrer nach.
Von wem sprach dieser Mann? Doch der fuhr fort: „Heute sind es schon fast eine Milliarde und bald wird es auf der Erde nur noch Chinesen geben. Dann spricht niemand mehr Englisch."
Die jungen Männer – mitten in der Pubertät – grinsten. Sie konnten und wollten ihren Lehrer nicht mehr ernst nehmen.
Seit diesem Tag war die „Gelbe Gefahr allwöchentlich in Herrn Kohls Stundenpredigt präsent. Vielleicht litt er ja unter einer China-Phobie. Für die Jungs war er jedenfalls nur noch ein lächerlicher Kauz, dem sie den Spitznamen „Chinakohl
gaben.
Die Stunden, in denen Englisch gelehrt und gelernt werden sollte, gerieten im Laufe des Schuljahres für Lehrer und Schüler zu einem Martyrium.
Neben dem auf beiden Seiten verhassten Anfangsritual erwies sich für die Neuntklässler ihr „Chinakohl" einfach als ungenießbar.
Erst gestern hatte er wieder lamentiert: „Die Chinesen stehen schon vor der Tür."
Endlich hat Albert Kohl für heute das Klassenbuch durchgeblättert. Die Unruhe unter den Schülern hält an.
Der Lehrer schlitzt mit seinen verkniffenen Augen die Jungengruppe förmlich auf und hebt an: „Who is absent ...?".
Ein fürchterlicher Knall lässt ihn jäh verstummen und das Klassenbuch quer über die Schülerköpfe hinweg durch den Raum schleudern.
Christian – der stillste unter den Jungs – hat sich getraut, den König unter den Feuerwerkskrachern zu zünden: Die Reste eines Kanonenschlags schweigen betreten auf dem Fußboden.
Und „Chinakohl ringt nach Luft: „Jetzt sind sie da!
.
Der Klassenprimus
Die Kirche füllt sich langsam. Wir haben uns schon frühzeitig hier eingefunden, weil meine Frau unserem Auto noch ein Stelle freien Asphaltes auf dem alten, direkt vor dem Gotteshaus gelegenen Marktplatz gönnen wollte.
Dass wir jetzt – an einem kühlen Februarabend – auf harten Holzbänken hocken, könnte uns als eingefleischte Kirchgänger erscheinen lassen. Aber nein – ein Gottesdienst sieht uns allenfalls mal an Weihnachten.
Heute ist ein Orgel- und Chorkonzert angesagt, obwohl wir auch nicht wirklich Anhänger barocker Kirchenmusik sind. Trotzdem habe ich eben die zwei Eintrittskarten am Eingang vorgezeigt, die ich einige Tage zuvor mit einem Glas Champagner zu meiner Pensionierung geschenkt bekam.
Es liegt einzig und allein am Hauptdarsteller des Konzertes, dass wir jetzt hier sitzen und ihn erwarten – den weltweit renommierten Professor für Orgelmusik und ehemaligen Klassenkameraden aus meiner Schulzeit.
Während ich das Programm studiere, in dem neben einem Jugendkammerchor auch die Tochter des Professors als Klarinettistin angekündigt wird, strömen immer noch Besucher in das Gotteshaus.
Örtliche Prominenz vom Sparkassendirektor bis zum Oberbürgermeister und solche, die sich für mindestens genauso