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Selbstvergebung durch Schuldkompetenz
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eBook530 Seiten4 Stunden

Selbstvergebung durch Schuldkompetenz

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Über dieses E-Book

Schuldempfinden ist für diejenigen, die sich schuldig fühlen, eine schwere Last, die man jedoch nicht so ohne Weiteres los wird, denn Schuld sitzt mitunter sehr tief. Doch was genau ist Schuld, wie entsteht sie und wie kann man sie verarbeiten?
Dieser Frage widmet sich der erfahrene Psychotherapeut Dr. Konrad Stauss und zeigt unter anderem, dass Schuld individuell empfunden wird, eingebildet sein kann oder aufoktroyiert. Die Last der Schuld kann man durch Vergebung ablegen, aber wenn es niemanden gibt, der einem vergeben kann, außer einem selbst, wird es schwierig.
Das Erleben von Schuld und deren Bewältigung werden vor dem Hintergrund des Verständnisses der jüdisch-christlichen Spiritualität, der Ergebnisse der modernen Moralforschung, der Bindungsforschung, der neurobiologischen Forschung und der Selbstvergebungsforschung beschrieben. Aus diesen Grundlagen werden konkrete Interventionen abgeleitet und mit zahlreichen Fallbeispielen anschaulich dargestellt. Die spannende Frage ist: wie ist die Ökonomie der Schuld? Das heißt, wie kann man Schuld kompetent so bewältigen und zum Ausgleich bringen, dass man seinen inneren Seelenfrieden trotz der Schuld wiedererlangen kann? Das vorliegende Buch versucht auf diese Frage eine Antwort zu geben.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum8. Juli 2015
ISBN9783732348923
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    Buchvorschau

    Selbstvergebung durch Schuldkompetenz - Konrad Stauss

    Kapitel I:

    Schuld- und Vergebungskompetenz

    Schuld und Vergebungskompetenz münden in die Versöhnungskompetenz. Versöhnungskompetenz ist aus meiner Sicht die höchste Form der emotional-sozialen Kompetenz. Die Grundlage der emotional-sozialen Kompetenz ist die Fähigkeit zur Wahrnehmung der eigenen Gefühle und der der anderen, verbunden mit der Fähigkeit zur Empathie. Mithilfe der Empathie ist man in der Lage, einen Wechsel der Perspektive vorzunehmen, in dem man probeweise nachempfinden kann, wie der andere sich selbst erleben könnte.

    Zurecht kann man fragen, ob der Begriff der Schuldkompetenz nicht irreführend ist. Er suggeriert, dass man Schuld aufarbeiten oder gar kompetent bewältigen kann. Schuld kann weder aufgearbeitet noch bewältigt werden, sie muss getragen werden. Um sie tragen zu können, muss sie anerkannt und angenommen werden.²¹ Bevor man in der Lage ist, in die Tiefe seiner Schuld zu schauen und diese ohne Wenn und Aber unter Verzicht auf alle Neutralisierungsstrategien und Abwehrmanöver anzunehmen und die Verantwortung dafür zu übernehmen, ist oft ein langer und mühsamer Weg der inneren Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld notwendig. Wenn in diesem Zusammenhang von Schuldbewältigung oder Schuldkompetenz die Rede sein soll, dann ist damit der Weg gemeint, der einen dazu führt, die Wahrheit zu sagen und die Verantwortung für die eigene Schuld zu übernehmen. Versöhnung setzt Wahrheit voraus. Die Vorbedingung zur Versöhnung ist die Bereitschaft des Täters, die Verantwortung für seine Tat zu übernehmen, und die Bereitschaft des Opfers zur Vergebung. Ohne Vergebung keine Zukunft für Täter und Opfer. Deshalb der Leitspruch der Truth and Reconciliation Comission unter der Führung von Bischof Tutu in Südafrika: No Future without Forgiveness²²

    Die Geschichte der Entwicklung der emotional-sozialen Kompetenz soll im Folgenden dargestellt werden und die Verbindungslinien dieser Kompetenz zur Vergebungs- und Schuldkompetenz aufgezeigt werden.

    Rationale Kompetenz

    Die Frage, wie man ein gelungenes, sinnerfülltes und glückliches Leben führen kann, bedarf einer Antwort solange es Menschen gibt. Religionen versuchen, auf diese Frage eine Antwort zu geben, aber auch die Psychologie hat sich dieser Frage gewidmet. Binet versuchte Anfang des 20. Jahrhunderts, diese Frage zu beantworten. Er wollte herausfinden, welche Eigenschaften eines Menschen seinen beruflichen und privaten Erfolg voraussagen könnten. Seine Hypothese war: Je höher die Fähigkeit zur logischen Abstraktion und zum flexiblen Umgang mit logischen Informationen ausgeprägt ist, umso höher der berufliche und private Erfolg. Um diese rationale Kompetenz, wie er es nannte, messen zu können, entwickelte er einen Intelligenztest, der den sogenannten Intelligenzquotienten (IQ) als Maß der Intelligenz erfasste. Die Überprüfung der Hypothese von Binet ergab allerdings, dass nur 20 Prozent des Erfolges auf den Intelligenzquotienten zurückgeführt werden konnten. 80 Prozent des Erfolges waren von anderen Faktoren abhängig.²³

    Emotional-soziale Kompetenz

    Man machte sich auf die Suche, welche Kompetenz den Löwenanteil von 80 Prozent besser als die rationale Kompetenz erklären könnte. Wenn es nicht die rationale Kompetenz ist, so die weitere Hypothese, dann könnte es die emotionale Kompetenz sein. Unter emotionaler Kompetenz verstand man die Fähigkeit, eigene Gefühle und die der anderen wahrnehmen und mit ihnen kompetent in Beziehungen umgehen zu können. Also nicht der Kopf sondern das Herz war jetzt gefragt. Es zeigte sich, dass die emotionale Kompetenz den beruflichen und privaten Erfolg besser voraussagte als die rationale Kompetenz. Zunehmend mehr wurde der Begriff der emotionalen Kompetenz mit der sozialen Kompetenz gleichgesetzt.²⁴ Aus diesem Grund versuchte Bar-On²⁵ ein Modell zu entwickeln, in dem er die emotionale und soziale Intelligenz als emotional-soziale Intelligenz (ESI) zusammenfasste. In diesem Modell beschrieb er fünf Fähigkeiten, die für die emotionale und soziale Kompetenz kennzeichnend waren:

    Die Fähigkeit zu emotionaler Selbstwahrnehmung und Selbstausdruck.

    Die Fähigkeit zur Wahrnehmung von zwischenmenschlichen Beziehungen.

    Die Fähigkeit zum Stress-Management und zur Regulierung von Emotionen.

    Die Fähigkeit zum Management von Veränderungen.

    Die Fähigkeit zur Selbstmotivation.

    Mithilfe dieser fünf Fähigkeiten erforschte er deren Einfluss auf die menschliche Lebensgestaltung. Unter anderem ergaben sich folgende empirischen Befunde:

    Emotional-soziale Kompetenz korreliert positiv mit:

    körperlicher Gesundheit

    seelischer Gesundheit

    besserer schulischen Leistungen und Leistungen im Studium

    besseren Arbeitsleistungen

    Führungsfähigkeit

    Selbstverwirklichung eigener Fähigkeiten und gesetzter Ziele

    subjektives Wohlbefinden

    Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse formulierte Bar-On folgende Aussage über emotional-soziale Kompetenz:

    Die Fähigkeit zur Wahrnehmung der eigenen Emotionen und die Fähigkeit zur Empathie sind die wichtigsten Fähigkeiten zum Erwerb von emotionaler-sozialer Kompetenz. Diese beiden Fähigkeiten verschränken die emotionale innerseelische Wahrnehmung mit der zwischenmenschlichen Wahrnehmung in Form der Empathie.

    Vergebungs- und Schuldkompetenz

    Diese Forschungsergebnisse legen den Schluss nahe, dass wir diese Fähigkeiten bis zur Perfektion üben sollten, damit wir ein beruflich und privat erfolgreiches Leben führen können und damit die Basis für ein gelungenes und geglücktes Leben legen. Gleichzeitig ist uns aber auch klar, dass dies eine utopische Forderung ist, denn wo Menschen sind werden Fehler gemacht. Nur Götter machen keine Fehler und können nicht scheitern, das können nur Sterbliche. Tieferes Wissen und innere Reifung sind für Menschen nicht ohne Fehler und Scheitern zu haben.²⁶ Wer Fehler macht und scheitert und im Scheitern schuldig wird, ist auf die Vergebung anderer angewiesen. Um aus unseren Fehlern und Scheitern lernen zu können, müssen wir uns und den anderen vergeben können.

    Schuldlos schuldig

    Hanna Arendt²⁷ macht darauf aufmerksam, dass wir sterblichen Menschen unschuldig schuldig werden, weil wir permanent handeln müssen. Dieses Handelnmüssen ist unweigerlich mit Fehlermachen und Scheitern verbunden. Durch dieses Scheitern werden wir am anderen schuldig, denn in unser Handeln sind die Mitmenschen miteinbezogen. Für Arendt ist der Mensch nicht der autonome und souveräne Mensch, sondern er ist auf die Bindung an andere Menschen angewiesen. Dies ist als seine Stärke und nicht als seine Schwäche zu sehen. Nur vor dem Hintergrund der zwischenmenschlichen Bindung gewinnt das Vergeben seine Verbindlichkeit. Kein Mensch der handelt, kann bis in die letzte Konsequenz abschätzen was er tut und welche Folgen es für ihn und andere haben wird. Im Scheitern wird er schuldlos schuldig. Aus diesem Grund müssen wir uns gegenseitig vergeben, damit wir uns von den Folgen unseres Handelns entbinden können. Würden wir nicht vergeben, dann wären wir bis an unser Lebensende an die Folgen einer einzigen schuldhaften Tat gebunden. Unser Leben würde auf die Folgen einer einzigen schuldhaften Tat reduziert. Die Tat kann nicht rückgängig gemacht werden, aber wir können uns durch gegenseitiges Vergeben von den Folgen der Tat entbinden und uns so gegenseitig die Zukunft offen halten. Wir brauchen die Mitmenschen, die uns vergeben, um uns von der Unwiderruflichkeit der Vergangenheit und des Scheiterns zu befreien. Der Mensch heißt Mensch, weil er vergibt formuliert Frettlöh.²⁸

    Max Weber machte diesbezüglich darauf aufmerksam, dass der Mensch das einzige Wesen ist, das bereuen kann. Reue bedeutet, dass man nachempfinden kann was man dem anderen angetan hat und sich wünscht, es nicht getan zu haben. Die Reue des Täters und die Vergebung des Opfers öffnen die Tür zur Versöhnung.

    Die Aussage von Frettlöh können wir dementsprechend erweitern: Der Mensch heißt Mensch, weil er scheitern und schuldig werden, Reue empfinden, vergeben und sich versöhnen kann.

    Weil wir schuldlos schuldig werden können und uns damit die Möglichkeit des schuldhaften Scheiterns des Menschen vergegenwärtigen, stellt sich die Frage: Wie können wir mit der erlittenen Schuld durch andere und unserer eigenen begangenen Schuld sozialkompetent so umgehen, dass unsere Lebensplanung hin zu einem beruflich und privat erfolgreichen und geglückten Leben trotzdem gelingen kann? Eine mögliche Antwort auf diese Frage wäre: Die Fähigkeit zur Vergebungs- und Schuldkompetenz muss erworben werden.

    Die Vergebungs- und Schuldkompetenz setzt die Fähigkeit zur Metakognition voraus. Unter Metakognition wird die Fähigkeit verstanden, einen Perspektivenwechsel durchzuführen. Damit verlassen wir die naive Benutzerillusion unserer eigenen subjektiven Wirklichkeitskonstruktion und können mithilfe der Metakognitionen unser Erleben und Verhalten aus verschiedenen Perspektiven reflektieren. Wir sind in der Lage zwischen der eigenen Erlebensperspektive und anderen Erlebensperspektiven hin und her zu wechseln.²⁹

    Eine dieser möglichen Perspektiven ist die Perspektive der Empathie und der Barmherzigkeit. Barmherzigkeit geht über die Fähigkeit der Empathie hinaus. Durch die Empathie können wir uns in den anderen emotional einfühlen. Mithilfe der Barmherzigkeit können wir uns nicht nur in den anderen einfühlen, sondern uns soweit mit ihm identifizieren, dass wir sagen können: Unter vergleichbaren Bedingungen hätte ich mich auch so verhalten können: Ich könnte auch Du sein. Barmherzigkeit lässt den anderen nicht aus der Beziehung herausfallen, aber sie rechtfertigt das Unrecht auch nicht. Barmherzigkeit steht in einem dialektischen Verhältnis zur Gerechtigkeit: Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit und Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist Schwäche.

    Innerseelisch können wir Schuld durch Schuldgefühle wahrnehmen. Die Fähigkeit zu Empathie ermöglicht es uns, die zwischenmenschliche Auswirkung unserer schuldhaften Tat emotional zu erspüren. Diese innerseelische und zwischenmenschliche Wahrnehmung und Reflexion der Schuld und deren Kommunikation befähigt uns, die beschädigte Beziehung zu reparieren. Zu dieser Reparatur der beschädigten Beziehung gehört das Angebot einer Wiedergutmachung zum Ausgleich des Schadens. Das ist die zwischenmenschliche Währung, mit der wir unsere Schuld begleichen können.

    Abb. 1: Pyramide der vier Kompetenzen und deren gemeinsames Fundament

    Der Geschädigte hat wiederum die Möglichkeit, sich durch das Erlernen der Vergebungskompetenz von der Last der Nichtvergebung (in Form von Hass, Bitterkeit und Schmerz) zu befreien, um wieder offen zu sein für das Angebot der Entschuldigung des Täters. Dies immer in dem Bewusstsein, dass wir einmal schuldfähige Täter und ein anderes Mal vergebungsfähige Opfer sein können. So kann man Schuld- und Vergebungskompetenz als die beiden Voraussetzungen verstehen, die die Grundlage für Versöhnung bilden.

    Wie wir gesehen haben sind bei der emotional-sozialen Kompetenz die Fähigkeit zu Wahrnehmung der eigenen Emotionen und die der anderen, die Fähigkeit zur Empathie und Perspektivenwechsel das Fundament zu einem emotional-sozial-kompetenten Verhalten. Vergebungs- und Schuldkompetenz bauen auf diesen beiden Basisfähigkeiten auf und können so ihre Kraft zur Heilung von beschädigten Beziehungen entfalten.

    Sein als Beziehungssein

    Warum ist es seelisch so bedeutsam, beschädigte Beziehungen durch Vergebungs- und Schuldarbeit wieder zu heilen? Die neuere Säuglings-, Bindungs- und neurobiologische Forschung hat ein neues Licht auf die existenzielle Bedeutsamkeit von gelungenen Beziehungen geworfen.

    Vor dem Hintergrund dieser Forschungsergebnisse zeichnet sich in der psychodynamischen Psychotherapie ein Paradigmenwechsel ab, der die Bedeutsamkeit der Beziehung der Menschen untereinander für die seelische Gesundheit hervorhebt. Dieser soll kurz dargestellt werden:

    Noch für Freud war der Mensch eine Monade, eine in sich abgeschlossene Insel. Das Subjekt stand dem Objekt als getrennte Einheit gegenüber. Eine Veränderung konnte nur in der Monade, metaphorisch gesprochen nur auf der Insel selber stattfinden, indem man die Strukturen der Insel veränderte. Bezogen auf die Psychotherapie bedeutet diese Metapher: Veränderung ist gleichbedeutend mit Veränderung der intrapsychischen Struktur. Vor dem Hintergrund dieser Vorstellung entwickelte Freud sein Drei-Instanzen-Modell (Es-Ich/Über-Ich). Diese monadische Sichtweise des Menschen hat vor dem Hintergrund der Ergebnisse der modernen Säuglings-³⁰, Bindungs- und neurobiologischen Forschung³¹ eine radikale Veränderung erfahren. Diese Veränderung wurde von Altmeyer und Thomä³² als ein Paradigmenwechsel³³ bezeichnet, der einen Relational Turn beinhaltet: Die monadische Sicht des Menschen, wurde durch eine interpersonelle oder relationale Sicht ersetzt.

    Der Mensch wird im Rahmen dieses Paradigmenwechsels in seiner Conditio Humana als ein soziales Wesen verstanden. Sein Selbst entsteht in der Beziehung zu den anderen. Er wird am Du zum Ich. Er braucht die anderen und die Beziehung zu ihnen, um er selber zu werden. Er ist ein dialogisches Wesen (Buber). Nur im Dialog, in der Beziehung mit den anderen, kann er sein Selbst entfalten. Das Bedürfnis nach Bindung ist ein Grundbedürfnis, das zu seiner biologischen Ausstattung gehört. Aus diesem Grund bringt der Säugling die freudige Erwartung mit auf die Welt, dass er von anderen mit offenen Armen begrüßt und willkommen geheißen wird.³⁴

    Der Mensch ist von Anfang an mit Kompetenzen ausgestattet, aktiv einen Dialog und eine Beziehung zu seiner mitmenschlichen Umwelt aufzubauen. Seine ontologische Identität kann man auf die Formel bringen: Menschliches Sein ist Beziehungssein.

    Das menschliche Selbst entwickelt sich also nicht monadisch aus sich heraus und tritt dann in Beziehung zu anderen, sondern es ist von Anfang an mit anderen unauflösbar verbunden. Nur in der Bindung zu anderen kann er sein Selbst entwickeln und entfalten.

    Hegel war der erste Philosoph, der diese Betrachtungsweise des Menschen ins Auge fasste. Nach ihm entwickelt der einzelne Mensch nur dann ein Bewusstsein von sich selber, wenn er von dem anderen gespiegelt und anerkannt wird.³⁵ Habermas hat diesen Sachverhalt mit folgenden Worten beschrieben:

    Werden wir uns nicht erst in den Blicken, die ein anderer auf uns wirft, unserer selbst bewusst? In den Blicken des Du, eine zweite Person, die mit mir als einer ersten Person spricht, werde ich meiner nicht nur als eines erlebenden Subjekts überhaupt, sondern zugleich als eines individuellen Ichs bewusst. Die subjektiven Blicke des anderen haben eine individuierende Kraft.³⁶

    Inzwischen gehen die meisten psychotherapeutischen Verfahren davon aus, dass die Ursache der meisten seelischen Störungen Beziehungsstörungen sind. Diese Beziehungsstörungen sind oft biografisch erworbene, chronifizierte, dysfunktionale oder als maladaptive bezeichnete Beziehungsmuster. Werden diese in den gegenwärtigen Beziehungen reinszeniert, dann können sie zu einer Beschädigung der jetzigen Beziehung führen.

    Vergebung gipfelt in der Versöhnung. Um Versöhnung zu erreichen, sollte das Opfer sich durch einen kompetenten Vergebungsprozess von der Last der Nichtvergebung in Form von Hass, Groll und Bitterkeit befreien. Dieser Vergebungsprozess ist ein innerseelischer Prozess, dem sich der Vergebende unterzieht, um sein inneres emotionales Gleichgewicht und seinen inneren Frieden wiederzuerlangen.

    Der Täter kann seinen Beitrag zur Versöhnung leisten, indem er sich in einem innerseelischen Prozess mit seiner Schuld auseinandersetzt, durch Reue empathisch nachempfindet, was er dem Opfer angetan hat, und die Verantwortung für seine Tat übernimmt.

    Schlüsselbegriffe für den inneren Prozess sowohl des Täters als auch des Opfers sind die Fähigkeit zur Selbsterforschung, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, die Fähigkeit zur Empathie und die Fähigkeit zur Barmherzigkeit. Erst wenn beide Opfer und Täter sich jeweils dem innerseelischen Prozess der Vergebungs- und Schuldarbeit unterzogen haben, sind die Vorbedingungen geschaffen, dass Versöhnung gelingen kann.

    Im Gegensatz zur Vergebungs- und Schuldarbeit als innerseelischer Prozess ist die Versöhnung ein zwischenmenschlicher Prozess. Beide Täter und Opfer gehen aufeinander zu und versuchen, in einem Dialog miteinander Versöhnung zu ermöglichen. Der Täter kann sich für seine Tat entschuldigen und einen Ausgleich für den von ihm zugefügten Schaden anbieten. Das Opfer kann sich entscheiden, ob es die Entschuldigung annimmt oder nicht. Hier zeigt sich das Paradox, dass der Täter während der Tat Macht über das Opfer hatte, bei der Versöhnung dagegen hat das Opfer die Macht der Vergebung. Der Täter kann sich die Vergebung und die Annahme seiner Entschuldigung zwar wünschen, aber nicht erzwingen. Nur das Opfer kann vergeben und Versöhnung anbieten.

    Zusammenfassung

    Schuld- und Vergebungskompetenz sind psycho-soziospirituelle Kompetenzen, die auf der Fähigkeit zur emotionalen und sozialen Kompetenz aufbauen. Diese Kompetenzen erfordern drei Basisfähigkeiten:

    Jeder wird beim besten Wollen schuldlos oder schuldig schuldig.

    Um die durch die begangene Schuld beschädigte Beziehung zu dem anderen zu heilen, bedarf es der Vergebungs- und Schuldkompetenz.

    Vergebungskompetenz ermöglicht es dem Opfer, sich von der emotionalen Last der Nichtvergebung, und Schuldkompetenz ermöglicht es dem Täter, sich von der emotionalen Last seiner Schuldgefühle zu befreien.

    Der Erwerb beider Kompetenzen ist notwendig, um Versöhnung zu ermöglichen.

    Der Heilung beschädigter Beziehungen durch Versöhnung kommt aus biologischer, seelischer, sozialer und spiritueller Sicht seit Jahrtausenden eine große Bedeutung zu.

    Relevanz auf der Interventionsebene:

    Vergebungs- und Schuldkompetenz sind die Voraussetzung zur Versöhnung. Diese Kompetenzen beruhen auf einem Menschenbild, das besagt, dass jeder Mensch schuldhaft oder schuldlos schuldig werden kann.

    Die Vergebungs- und Schuldkompetenz ist die höchste Form der sozio-emotionalen Kompetenz.

    Diese Kompetenzen erfordern folgende Basisfertigkeiten: emotionale und soziale Selbst- und Fremdwahrnehmung, Fähigkeiten zur Empathie, Barmherzigkeit und Perspektivenwechsel.

    ²¹ Ebach, J. (2007): Genesis 37-50. S. 378 f. Herders Theologischer Kommentar im Alten Testament, Hrsg. Erich Zenger

    ²² Ebach, J. (2007): Genesis 37-50. S. 379f. Herders Theologischer Kommentar im Alten Testament, Hrsg. Erich Zenger

    ²³ Goleman, D. (1996). Emotionale Intelligenz. München: Hanser. Siehe auch: Goleman, D. (2006): Soziale Intelligenz. Droemer Verlag: München

    ²⁴ Goleman, D. (1996). Emotionale Intelligenz. München: Hanser. Siehe auch: Goleman, D. (2006): Soziale Intelligenz. Droemer Verlag: München

    ²⁵ Bar-On, R. (2005): The Bar-On model of emotional-social intelligence, in P. Fernandez-Berrocal and N. Extremera (Guest Editor), Special Issue on Emotional Intelligence. Psicothema, 17

    ²⁶ Rohrhirsch, F. (2009): Führung und Scheitern. Über Werte und den Wert des Scheiterns im Führungsalltag – Wie Führung glückt. S. 108 ff. Wiesbaden: Gabler/ GWV Fachverlag

    ²⁷ Arendt; H. (200): Freiheit und Politik, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hrsg. Von U. Ludz, 2. Auflage, München /Zürich, 201-226, 221. Zit nach: Frettlöh, M. L. (2004): Der Mensch heißt Mensch, weil er vergibt?, in: Hrsg. Jürgen Ebach, Hans-Martin Gutmann, Magdalene L. Frettlöh und Michael Weinrich: Wie? Auch wir vergeben unseren Schuldigern. Mit Schuld leben. S. 191 ff. Gütersloher Verlagshaus

    ²⁸ Frettlöh, M. L. (2004): Der Mensch heißt Mensch, weil er vergibt? in: Hrsg. Jürgen Ebach, Hans-Martin Gutmann, Magdalene L. Frettlöh und Michael Weinrich: „Wie? Auch wir vergeben unseren Schuldigern. Mit Schuld leben. S. 215. Gütersloher Verlagshaus

    ²⁹ Boessmann, U. (2013): Bewusstsein. Bd. I, S.322f. Berlin: Deutscher Psychologen Verlag, dpv,

    ³⁰ Stern, D. (1992): Die Lebenserfahrung des Säugling., Stuttgart: Klett-Cotta.

    ³¹ Bowlby, John (1975): Bindung, Frankfurt a. M.: Fischer. Bowlby, John (1976): Trennung. Frankfurt a. M.: Fischer.

    ³² Altmeyer, M. & Thomä, H. (2010): Einführung: Psychoanalyse und Intersubjektivität, in: Die vernetzte Seele, S. 7-31, 2. Auflage, Hrsg. Martin Altmeyer u. Helmut Thomä. Klett-Cotta

    ³³ Kuhn, T. S. (1962): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main: Suhrkamp

    ³⁴ Altmeyer, M. & Thomä, H. (2010): Einführung: Psychoanalyse und Intersubjektivität, in: Die vernetzte Seele, S. 17, 2. Auflage, Hrsg. Martin Altmeyer u. Helmut Thomä. Klett-Cotta

    ³⁵ Hegel, G.W.F. (1807) Phänomenologie des Geistes, Hamburg: Felix Meiner (1952). Zit. nach Fischer, Joachim (2000) Der Dritte. Zur Anthropologie der Intersubjektivität, in: Eßbach, v. W. (Hrsg.) Identität und Alterität in Theorie und Methode. Wir/Ihr/Sie: 127.

    ³⁶ Habermas, J. (2005): Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. (Suhrkamp). Zit. nach: Altmeyer, M. & Thomä, H. (2010): Einführung: Psychoanalyse und Intersubjektivität, in: Die vernetzte Seele, S. 27, 2. Auflage, Hrsg. Martin Altmeyer u. Helmut Thomä. Klett-Cotta

    I.

    Theologisch-spirituelle Grundlagen

    Kapitel II:

    Anthropologische Grundannahmen zum Wesen des Menschen

    Ist der Mensch in seinem innersten Wesen gut oder böse?

    In dem vorausgegangenen Kapitel haben wir uns mit der Schuldanfälligkeit des Menschen beschäftigt. Kein Mensch ist in der Lage, ohne Schuld sein Leben zu bewältigen. Wenn jemand einem anderen gegenüber zerstörerisch gehandelt hat, dann bezeichnen wir ihn oder seine Tat als destruktiv oder böse. In diesem Zusammenhang taucht die Frage auf, ob der Mensch von Natur aus destruktiv oder böse ist. Würden wir diese Frage mit einem Ja beantworten, dann wäre der Erwerb von Schuldkompetenz eine unsinnige Forderung, weil sie dem Wesen des Menschen zuwiderlaufen würde. Schuldgefühle zu entwickeln und seine schuldhafte Tat zu benennen und zu bekennen, verbunden mit dem Wunsch nach Wiedergutmachung und der Bitte um Vergebung des gesetzten Beziehungsschadens, ist nur denkbar, wenn man erkennt, dass dieses zerstörerische Verhalten dem eigenen Wesen widerspricht. Wäre der Mensch von Natur aus böse, dann könnte das Böse nur durch Bestrafung, Vergeltung und Disziplinierung in Schach gehalten

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