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DEPRESSIONEN: 50 Tage in der Psychiatrie: Cluburlaub ist anders
DEPRESSIONEN: 50 Tage in der Psychiatrie: Cluburlaub ist anders
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eBook287 Seiten4 Stunden

DEPRESSIONEN: 50 Tage in der Psychiatrie: Cluburlaub ist anders

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Über dieses E-Book

Millionen Deutsche leiden unter einer Depression, Tausende von ihnen suchen Jahr für Jahr Hilfe in psychiatrischen Fachkliniken, ohne genau zu wissen, was sie dort erwartet.
Markus, ein 58-jähriger Schauspieler aus Frankfurt a. M., war im Sommer 2015 einer dieser verzweifelten Menschen, der sich nach einem filmreifen, aber dennoch gescheiterten Suizidversuch für einen wochenlangen Klinikaufenthalt entschieden hat. Hier wird er mit den verschiedensten Therapien konfrontiert und kann sich zunächst nur schwer mit ihnen anfreunden, sind es in seinen Augen doch nur "ganz normale Freizeitaktivitäten". Schnell vergleicht er das Leben auf der Psychiatrie mit einem All-Inklusive-Cluburlaub, in dem die Ärzte und Therapeuten lediglich die Rolle von Animateuren einnehmen. Dennoch gelingt es ihnen langsam, Markus´ Leben wieder einen Sinn zu geben, bis ihn das Schicksal, kurz vor seiner Entlassung, durch einen tragischen Zwischenfall fast wieder in seine anfängliche Lethargie stürzt.
Das Buch entstand auf der Basis der Tagebuchaufzeichnungen von Markus und unzähligen Gesprächen zwischen ihm und dem Autor dieses Werks. Es beschreibt nicht nur seinen Klinikaufenthalt, die Therapien, die sechs Stufen einer Depression, das Zusammenleben mit den anderen Patienten und wie es überhaupt zu seinem Suizid kommen konnte, sondern auch, wie es der Klinik gelang, Markus Schritt für Schritt aus der Depression heraus und ins Alltagsleben zurück zu führen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum18. Juli 2018
ISBN9783734592003
DEPRESSIONEN: 50 Tage in der Psychiatrie: Cluburlaub ist anders

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    Buchvorschau

    DEPRESSIONEN - Peter Granzow

    Und der Clown, der muss lachen …

    Markus hatte seinen Suizid perfekt geplant und vorbereitet. Dreißig Tabletten Paracetamol, kombiniert mit viel Alkohol, sollten in der Nacht zum 31.Mai 2015 dafür sorgen, dass er sich still und schmerzfrei aus einem Leben verabschieden konnte, welches für ihn inzwischen unerträglich geworden war.

    Für den Fall, dass er die Tablettenmenge zu gering berechnet und dosiert haben sollte, stach er sich zusätzlich eine Infusionsnadel in seine linke Armvene. So wollte er sichergehen, dass sein Körper über einen Verbindungsschlauch ausbluten konnte.

    Auch die Auflösung seiner Wohnung war bis ins Detail vorbereitet. Um seinen Angehörigen so wenig Arbeit wie möglich zu machen, hatte er sein Hab und Gut bereits in Umzugskisten verpackt und auch ein Nachmieter war bereits gefunden. Siebenundzwanzig Abschiedsbriefe, inklusive Kündigungen an Stromversorger, Versicherungen und Sportvereine lagen in frankierten Briefumschlägen versandfertig bereit, lediglich eine Kopie des Totenscheins musste noch hinzugefügt werden.

    Einer der vielen Abschiedsbriefe war an Markus´ Grafiker adressiert, der sich schon seit Jahren um die Gestaltung seiner Website gekümmert hatte. In diesem Brief bat Markus darum, seine Website stillzulegen. Statt der gewohnten Inhalte sollten künftige Besucher nur noch eine schlichte Todesanzeige zu sehen bekommen, welche Markus ebenfalls vorbereitet hatte. Auf einer komplett weißen Seite sollte in schwarzer Schrift nur sein Vorname, Geburts- und Todestag zu lesen sein. Abgerundet durch eine Textzeile aus dem Lied Theater von Katja Ebstein, welche eine letzte Botschaft für ihn symbolisierte und seine Entscheidung für alle verständlich machen sollte.

    Einleitung

    Liebe Leserin,

    Lieber Leser,

    die Depression zählt zu den größten Volkskrankheiten, allein in Deutschland leiden circa vier Millionen Menschen im Alter zwischen 18-65 Jahren daran. Die meisten der Betroffenen haben keinen Spaß mehr am Leben und empfinden dieses oft als sinnlos. Persönliche Probleme sind für sie in einem schleichenden Prozess häufig einfach zu groß und scheinbar unlösbar geworden. Wahre Glücksmomente oder ausgelassene Freude kennen viele von ihnen schon lange nicht mehr. Oft wird das Leben nur noch als reine Qual empfunden, die Aussicht auf Besserung scheint unvorstellbar zu sein.

    Viele Betroffene wissen nicht einmal, dass sie an einer Depression leiden, vor allem Männer sind oft ahnungslos. Laut WHO-Kriterien ist der Anteil der Frauen, die an einer Depression leiden, doppelt so hoch wie der der Männer. Auch geht man davon aus, dass Depressionen bei Männern oft unerkannt bleiben. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Nicht nur, dass Männer seltener zum Arzt gehen, auch sucht das sogenannte „starke Geschlecht" weniger oft Hilfe. Und selbst wenn ihnen Hilfe angeboten wird, so heißt das noch lange nicht, dass sie diese auch annehmen. Diese Verweigerung kann auf lange Sicht fatale Folgen haben, denn bei einigen Männern äußern sich Depressionen mitunter in Aggressionen und Feindseligkeit, andere wiederum kapseln sich gänzlich von ihrem sozialen Umfeld ab. Immer öfter spricht man hier von einer typischen Männerdepression.

    Bei Frauen tritt eine depressive Verstimmung nicht selten nach der Geburt eines Kindes ein, geht es mit den Hormonen in dieser Zeit doch ordentlich auf und ab.

    Andere Thesen besagen, dass einige Frauen von ihren Müttern gerade in den sechziger und siebziger Jahren passives Verhalten anerzogen bekommen haben, um so dem klassischen Frauenbild zu entsprechen. Männer dagegen wurden mehr zur aktiven Problemlösung erzogen, getreu dem Motto: Die Frau erkennt zwar das Problem, der Mann aber hat die Lösung!

    Heute, im 21.Jahrhundert, ist dieser Unterschied in der Erziehung sicherlich weit weniger ausgeprägt. Trotzdem gibt es Fälle, in denen Frauen stärker als Männer dazu neigen, mit Schuldgefühlen und Depressionen auf Probleme zu reagieren. Diese bewusst anzugehen oder gar nach unbequemen Lösungen zu suchen, wird aber oft vermieden.

    Unabhängig vom Geschlecht können auch belastende Lebensereignisse wie zum Beispiel Mobbing am Arbeitsplatz, die Trennung vom Lebenspartner oder der Tod eines geliebten Menschen eine Depression auslösen.

    Studien besagen, dass auch biologische Faktoren eine Rolle spielen können. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder, deren Mutter oder Vater depressiv ist, im Laufe ihres Lebens ebenfalls an einer Depression erkranken, liegt bei 10 bis 15 Prozent.

    Depressionen entstehen in vielen Fällen aber auch durch ganz normalen Alltagsstress, sei es nun im Privat- oder Berufsleben. Der feine Unterschied liegt hier jedoch in der Bezeichnung. Wird bei der Kassiererin im Supermarkt mit großer Wahrscheinlichkeit eher eine Depression diagnostiziert, so umschreibt man diese bei beruflich höher gestellten Mitarbeitern, wie zum Beispiel dem Leiter einer Marketingagentur oder dem Manager eines großen Unternehmens, eher mit dem Modewort „Burnout"!

    Fakt ist aber, dass ein Großteil der Menschen, die wegen eines Burnouts eine längere Auszeit vom Berufsleben nehmen müssen, schlicht an einer depressiven Erkrankung leidet. Alle für die Diagnose einer Depression nötigen Krankheitszeichen liegen in den meisten Fällen vor.

    Um bei dem Beispiel der Kassiererin und des Manager zu bleiben, so hat die Kassiererin nun den Nachteil, dass sie in ihrem Umfeld mit einer Depression in Verbindung gebracht wird, also vermutlich häusliche Probleme hat oder einfach nur zu sensibel ist, was meist als negativ wahrgenommen und mit Schwäche in Verbindung gebracht wird. Der Manager hingegen, der unter einem Burnout leidet, was, wie bereits beschrieben mit denselben Symptomen wie denen einer Depression verbunden ist, hat einfach zu viel gearbeitet. Dies wiederum wird oftmals mit einem erfolgreichen und leistungsorientierten Leben assoziiert und positiv wahrgenommen.

    Aber ganz egal, ob die Krankheit nun als Depression oder Burnout bezeichnet wird, die meisten Patienten fühlen sich schwach, ausgelaugt, sind mit sich und der Welt unzufrieden und sehen oft keinen Ausweg mehr aus ihrer Situation. Die Folge sind oft Suizidgedanken. Die Internationale Vereinigung für Suizidprävention, sowie die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzen, dass sich 15 Prozent der Menschen, die an einer schweren Depression leiden, das Leben nehmen und ein noch wesentlich höherer Prozentsatz Suizidgedanken hat.

    Zur letzteren Gruppe gehörte im Sommer 2015 auch Markus, ein in Frankfurt lebender 58-jähriger Schauspieler, der seinem Beruf seit über 35 Jahren nachging. Bedingt durch einen erfolgreichen Kinofilm genoss er Anfang der neunziger Jahre einen hohen Bekanntheitsgrad, den er auch danach durch mehrere große Rollen in Fernsehfilmen weiter ausbauen konnte. Keine zehn Jahre später wurden seine Engagements jedoch immer weniger, bis sie schließlich über Wochen und Monate gänzlich ausbleiben sollten.

    Nachdem Markus seine finanziellen Reserven, die er extra für schlechte Zeiten angespart hatte, aufgebraucht waren und sich durch von Freunden und Familie geliehenes Geld sogar noch ein Schuldenberg von nahezu achtzigtausend Euro angehäuft hatte, sollte sein Geld nun nicht einmal mehr für die nächste Monatsmiete reichen. Finanziell in die Enge getrieben und zu stolz, um nach weiterer Hilfe zu fragen, sah auch Markus im Sommer 2015 keinen anderen Ausweg mehr, als sich das Leben zu nehmen. Seiner Meinung nach war sein letzter Vorhang schon lange gefallen.

    Obwohl sein Suizid perfekt geplant, organisiert und dreifach abgesichert war, scheiterte dieser. Markus überlebte und fand sich nur wenige Stunden später in der geschlossenen Psychiatrie einer Frankfurter Klinik wieder. Erst drei Wochen später wurde für ihn ein Platz auf der offenen Station frei, die Zeit dazwischen verbrachte er auf einer Station für Suchtpatienten.

    Seine ganz persönlichen und bewegenden Erlebnisse in der Psychiatrie hielt Markus in einem Tagebuch fest, zunächst nur in Stichworten, später immer detaillierter.

    Aus genau diesen Aufzeichnungen, seinen persönlichen Erzählungen während mehrerer Treffen mit mir, dem Autoren, und unzähligen Telefonaten ist dieses Buch innerhalb von zwei Jahren entstanden, welches weder als Ratgeber noch als „Problemlöser" zu verstehen ist. Jedoch gewährt es einen sehr tiefen und sehr persönlichen Blick in Markus´ Leben und wie es zu seinem Suizid kommen konnte. Darüber hinaus zeigt und erklärt es den Tagesablauf in einer psychiatrischen Klinik. Außerdem wird deutlich, dass Markus erst während der vielen Therapien die er machen musste, anfängt zu begreifen und zu akzeptieren, dass er krank ist und dringend Hilfe benötigt.

    Die Reise beginnt

    Beunruhigt und zugleich wie von Sinnen, fuhr Henning am Sonntag, den 31.Mai gegen 18.00 Uhr mit seinem Fahrrad von Frankfurt-Ostend kommend in Richtung Sachsenhausen, um bei seinem besten Freund Markus nach dem Rechten zu sehen. Zwar hatte für den Notfall jeder einen Schlüssel für die Wohnung des anderen, doch einen Notfall hatte es im klassischen Sinne in all den zurückliegenden Jahren, in denen sie sich kannten und befreundet waren, bislang noch nie gegeben. Doch heute war alles anders. Weder war Markus über sein Handy noch auf seinem Festnetz zu erreichen, beim letzteren sprang noch nicht einmal der Anrufbeantworter an. Zu allem Überfluss konnte man auch das Facebook-Profil von Markus nicht mehr öffnen. Gab man seinen Namen in der Suchmaschine ein, gab es keinerlei Treffer. Es schien, als sei Markus´ Profil über Nacht deaktiviert oder gelöscht worden.

    All diese Umstände ließen in Henning eine große Sorge um seinen besten Freund aufkommen, also beschloss er kurzerhand, bei Markus vorbeizufahren. Auf dem Weg dorthin hoffte er inständig, dass sich alles als ein großes Missverständnis herausstellen würde und er Markus wie in einem schlechten Film, mit der Eroberung der letzten Nacht im Bett vorfinden würde, auch wenn es dafür um diese Uhrzeit schon recht spät war.

    Am Haus von Markus angekommen, schloss er sein Fahrrad am Zaun davor ab, überwand die sieben Treppenstufen bis zur Haustür mit zwei großen Sprüngen und drückte sofort auf Markus´ Klingelknopf. Ohne eine Reaktion abzuwarten, schloss er zeitgleich die Haustür auf und hechtete zu Fuß, ohne auf den Fahrstuhl zu warten, in den 3.Stock. Hier stand er nun vor Markus´ Wohnungstür, ein erneutes Klingeln ersparte er sich, stattdessen schloss er sofort die Tür auf und noch während er den Wohnungsflur betrat, rief er den Namen seines besten Freundes, der ungewöhnlich hallig klang.

    Die Veränderungen in Markus´ Flur hatte Henning zwar sofort wahrgenommen, doch erst als er ins Wohnzimmer schaute und es zögernd betrat, überkam ihn eine schreckliche Vorahnung. Irgendetwas war hier passiert, nur konnte Henning dies alles noch nicht richtig zuordnen. In der Wohnung sah es aus, als wollte Markus am nächsten Tag ausziehen. An der Wohnzimmerwand, wo sonst seit Jahren eine Schrankwand ihren Platz hatte, standen nun große und kleine Umzugskartons, von der Schrankwand selbst gab es keine Spur. Nur flüchtig nahm Henning die fein säuberlich gedruckten DINA4 Blätter auf den Kartons wahr, auf denen zu lesen war, was sich in ihnen befand.

    Noch einmal rief Henning Markus´ Namen und ging weiter in Richtung Küche, in der es aussah, als habe die Person, die hier für gewöhnlich lebte, bereits vor Tagen oder Wochen, alle Zelte abgebrochen. Die Kühlschranktüren standen offen und er konnte sehen, dass der Kühlschrank nicht nur leer, sondern bereits abgetaut und gesäubert war. Auch die Schiebetüren der drei Hängeschränke waren geöffnet und ließen erkennen, dass die Schränke leer waren. Nichts, aber auch gar nichts in der Küche erinnerte daran, dass dies einmal der Ort gewesen war, an dem Markus mit seinen Freunden so viele nette und gesellige Kochabende veranstaltet hatte.

    Dann sah Henning die drei DINA4 Blätter, die per Computer beschriftet waren und in Klarsichthüllen an der Wand über dem Herd klebten. Wie gelähmt begann er, einen nach dem anderen zu lesen. Auf dem ersten waren zwei Termine für den Frankfurter Sperrmüll notiert. Des Weiteren der Hinweis, wieviel Kubikmeter man bei jedem der Termine vor die Tür stellen durfte. Henning konnte nur ahnen, was dies alles zu bedeuten hatte und ohne daran zu denken, was er in den nächsten Minuten noch alles zu Gesicht bekommen würde, las er die Notiz auf dem zweiten Zettel. Hier war das Alter der Einbauküche zu lesen und wie man mit dem Vermieter und den Nachmietern einen Deal machen konnte, um sich bei der Übergabe der Wohnung das Streichen zu ersparen. Demnach sollte der Nachmieter die Küche kostenlos übernehmen können, sofern er diese selber streichen würde. Auch konnte Henning lesen, dass sich in dem Ordner auf dem Wohnzimmertisch eine Liste mit zehn potenziellen Nachmietern befinde. Gedanklich weigerte sich Henning, diese Information richtig zuzuordnen. Es gab also eine Liste mit Interessenten an Nachmietern für die Wohnung in der er gerade stand? Henning versuchte zu begreifen, was hier geschah. Doch zum Nachdenken blieb kaum Zeit, wie unter Zwang musste oder vielmehr wollte er nun auch das lesen, was auf dem dritten Zettel stand.

    Hier bekam er die Information, dass das Fahrrad auf dem Balkon bereits 12 Jahre alt sei, sicherlich keinen großen Wert mehr habe und dass es am besten die Person bekommen solle, die sich um die Wohnungsauflösung kümmern würde. Was Henning tief im Innern geahnt hatte, stand nun fein säuberlich, wie eine Regieanweisung, schwarz auf weiß vor ihm.

    Nach Markus´ Plänen sollte also irgendjemand dessen Wohnung auflösen. Doch wo war Markus? War er über Nacht ausgewandert und hatte das Land verlassen? Eher nicht! Alles deutete vielmehr darauf hin, dass Henning seinen besten Freund jeden Moment in einem der Zimmer finden würde, in denen er bislang noch nicht geschaut hatte, dies waren das Bade- und das Schlafzimmer. Wie ferngesteuert ging er wieder aus der Küche zurück in Richtung Wohnzimmer, erst jetzt, beim zweiten Betreten nahm er die vielen Zettel an den Kisten wahr. Auf einem Stand mit einem Smiley versehen Mein gutes Thomas-Geschirr, auf einem anderen Töpfe & Pfannen. Kiste für Kiste war so mit einem Zettel versehen.

    Als Henning wieder im Flur angekommen war, trennten ihn nur noch wenige Schritte von der Schlafzimmer- und der gegenüberliegenden Badezimmertür. Irgendein Gefühl sagte ihm, dass er zuerst die Schlafzimmertür öffnen müsse und dass vorfinden würde, was er nicht finden wollte. Henning atmete noch einmal tief durch und drückte dann mit seiner rechten Hand langsam gegen die nur angelehnte Tür. Bevor diese sich ganz geöffnet hatte, rief er noch einmal vorsichtig Markus´ Namen, wusste aber sofort, dass er keine Antwort bekommen würde. Kaum dass die Tür weit aufstand, schaltete Henning das Licht an und konnte Markus in seinem Bett liegen sehen. Geschockt stand er sekundenlang im Türrahmen und musste erst einmal sortieren und verarbeiten, was er dort sah.

    Mit geschlossenen Augen lag Markus auf seinem Bett, den Kopf nach links gedreht, seine rechte Körperhälfte war nur notdürftig mit einer Bettdecke zugedeckt. Henning erkannte sofort, dass Markus ohne T-Shirt in seinem Bett lag, neben dem ein großer blauer Wäschekorb aus Plastik stand und irgendetwas langes, das an Markus´ linken Arm befestigt war, wurde in den Wäschekorb geleitet. Erst als er sich traute, näher auf Markus zuzugehen, konnte er erkennen, dass Markus in seiner linken Armbeuge eine Nadel stecken hatte, die mit einem dünnen Schlauch verbunden war, welcher wiederum in die Plastikwanne geleitet wurde, auf deren Boden Spuren von getrocknetem Blut zu erkennen waren. Danach sah er, dass die komplette linke Körperhälfte vom Oberarm an bis hinunter zum Fuß übersäht war mit kleinen roten Einstichlöchern, auf denen sich bereits Schorf gebildet hatte. Es war unübersehbar: Markus hatte versucht, sich sein Blut aus dem Körper laufen zu lassen, um sich auf diese Weise das Leben zu nehmen. Erst jetzt bemerkte Henning den roten Bademantelgürtel, mit dem Markus seinen linken Arm am Bettrahmen fixiert hatte. Offenbar wollte er so verhindern, dass die Nadel bei ungewollten Bewegungen aus der Vene gezogen wurde und es somit nicht mehr möglich war, das Blut aus dem Körper laufen zu lassen. Doch warum waren es so viele Einstichlöcher? Und warum war kaum Blut in der Wanne zu sehen, sondern nur vereinzelte kleine Lachen?

    Henning merkte, wie ihm plötzlich übel wurde und dass er kurz davor war sich zu übergeben. Mit der Hand vor dem Mund rannte er aus dem Zimmer hinaus in Richtung Badezimmer, wo er, kaum dass er vor der Toilette kniete, zu spucken begann.

    Der Brechreiz entpuppte sich schnell als falscher Alarm. Zweimal war Henning kurz davor, sich zu übergeben, so wie er es schon des Öfteren nach durchzechten Nächten getan hatte, doch heute konnte er es trotz des Ekels, den er verspürte, nicht. Nachdem er sich den Mund abgewischt hatte, griff er zum Abtrocknen in Richtung Handtuchhalter, doch schnell merkte er, dass es an der gewohnten Stelle keine Handtücher mehr gab. Erst als er sich etwas genauer im Bad umschaute, wurde ihm bewusst, dass auch dieses komplett leergeräumt war. Neben den fehlenden Handtüchern war auch der weiße Läufer vor dem Waschbecken verschwunden, sowie sämtliche Toilettenartikel. Auch hier erinnerte nichts mehr daran, dass die Wohnung bewohnt war, ganz im Gegenteil, die sterile Kühle passte zu der ganzen Situation.

    Plötzlich wurde Henning bewusst, dass er gar nicht kontrolliert hatte, wie der Zustand von Markus eigentlich war, zu groß war der Schockzustand, in dem er sich gerade befand. War Markus wirklich tot oder war er vielleicht noch bei Bewusstsein und konnte gerettet werden? Vielleicht zählte hier gerade jede Sekunde?

    Als Henning sich zurück in Richtung Badezimmertür drehte, sah er, dass auch über der Waschmaschine ein weißes DINA4 Blatt in einer Plastikfolie klebte. Auch darauf war, wie zuvor bei der Spülmaschine in der Küche, das Alter der Maschine zu lesen und dass sie der Nachmieter der Wohnung vielleicht ebenfalls übernehmen könne.

    Nun reichte es Henning, nach dem ersten Schock spürte er nun eine gewisse Wut. Was hatte Markus sich nur dabei gedacht? War ihm nicht bewusst gewesen, dass er, Henning, es sein würde, der ihn tot in seiner Wohnung finden würde?

    Verärgert, unsicher und ängstlich zugleich eilte er zurück ins Schlafzimmer, wo Markus immer noch regungslos in seinem Bett lag. Henning beugte sich über ihn, packte ihn bei den Schultern und begann sofort damit, ihn kräftig zu schütteln. Während er dies tat, wackelte der Körper von Markus schlaff hin und her und sein Kopf sah aus, als würde er nicken. Langsam merkte Henning, dass er Markus nur noch verschwommen wahrnehmen konnte, denn inzwischen hatten sich seine Augen längst mit Tränen gefüllt. Ein letztes Mal schüttelte Henning Markus an den Schultern, schrie hysterisch seinen Namen und dass er endlich aufwachen solle. Als ihm bewusst wurde, dass all das Schütteln keinen Sinn mehr machte, stieß er den schlaffen Körper mit aller Kraft zurück auf das Bett und noch bevor Markus´ Kopf auf dem Kissen aufkam, schlug ihm Henning panisch und wutentbrannt mit seiner rechten Hand ins Gesicht.

    Kraftlos stand er wieder auf und blickte auf Markus herab, noch immer war dessen linker Arm durch den Bademantelgürtel am Bettgestell fixiert, nur die Kanüle in seiner Oberarmvene hatte sich durch das Schütteln gelöst und lag nun neben seinem Körper.

    Henning wurde bewusst, dass er nichts anderes mehr tun konnte, als irgendwo anzurufen. Aber wen sollte er anrufen? Für einen Notarzt war es offenbar zu spät und ob man in solch einem Fall die Polizei anrufen sollte, das wusste er nicht. Völlig überfordert entschloss er sich dazu, ihre gemeinsame Freundin Franziska anzurufen und schaute nach der Kommode, die gleich neben der Tür stand. Darauf befand sich eigentlich Markus´ Telefonanlage, doch auch die gab es nicht mehr. Also begann er damit, in den Taschen seiner Sommerjacke, die er immer noch anhatte, nach seinem Handy zu suchen. Sofort wählte er die Nummer von Franziska und während er das Freizeichen hörte, ging er im Schlafzimmer auf und ab. Noch bevor Franziska das Gespräch annahm, stand Henning vor einem schwarzen Kleidersack, der am Türgriff der Balkontür hing und ebenfalls mit einem weißen DINA4 Blatt versehen war. Da sich Henning aber auf das folgende Telefonat mit Franziska konzentrierte und überlegte, was er ihr gleich sagen sollte, nahm er eher halbherzig wahr, was auf dem Zettel stand.

    Für das Bestattungsunternehmen war in fetter Überschrift zu lesen. Weiter hieß es, man solle den Kleidersack bei der Überführung bitte mitnehmen, weil sich darin die Garderobe für seine Beerdigung befände. Danach wurde der Inhalt wie folgt aufgelistet:

    1 Schwarzer Anzug mit Weste, 1 weißes Hemd, 1 Krawatte, 1 Paar Manschettenknöpfe, 1 Gürtel, 1Paar Schuhe und noch bevor Henning 1 Paar Socken lesen konnte, hörte er Franziskas Stimme in seinem Ohr.

    Immer noch aufgeregt, aber darauf bedacht, die richtigen Worte zu finden, erklärte Henning Franziska, wo er sich gerade befand und welche Situation er vorgefunden hatte. Völlig geschockt hörte sie Henning zu und bot an, sofort zu ihm zu kommen, um dann gemeinsam zu entscheiden, was sie tun konnten. Kaum hatte Henning das Telefonat beendet, bildete er sich ein, ein leichtes Stöhnen aus Markus´ Richtung zu hören und blickte sofort zu ihm herunter.

    Noch bevor er sein Handy wieder in der Jackentasche verstaut hatte, sah er, wie sich der Kopf von Markus bewegte, und erneut hörte er ein leises Stöhnen. Nun gab es keinen Zweifel mehr, Markus lebte, und sofort beugte sich Henning zu ihm herunter, sprach ihn mit lauter und zugleich fester Stimme an, fasste nach seinen Augenlidern und zog diese vorsichtig nach oben.

    Keine dreißig Minuten später konnte man einen Rettungswagen mit eingeschaltetem Blaulicht durch den frühabendlichen Straßenverkehr von Sachsenhausen fahren sehen.

    Willkommen auf der Geschlossenen

    Während der Fahrt im Rettungswagen kam Markus immer mehr zu Bewusstsein und konnte den Sanitätern auf deren Nachfrage erklären, dass er viel Alkohol getrunken, circa dreißig Tabletten Paracetamol geschluckt und vor zwei Tagen das letzte Mal feste Nahrung zu sich genommen hatte.

    Zeitgleich mit dem Rettungswagen trafen auch Henning und Franziska in der Notaufnahme der Klinik ein, wo Markus zunächst zu einem Erstgespräch mit der Klinikpsychologin gebracht wurde. In Anwesenheit von Henning und Franziska versuchte sie behutsam herauszubekommen, was der Grund für seinen Suizidversuch war und wie dieser genau abgelaufen war. Noch immer leicht benommen, erzählte er seine Geschichte erneut. Franziska, die bislang nur Hennings Ausführungen kannte, traute ihren Ohren nicht und wollte sofort wissen, ob es nicht sinnvoller wäre, zunächst einmal Markus´ Magen auszupumpen. Mit grimmiger Miene gab ihr die Psychologin, die sich offenbar in ihrer Kompetenz unterschätzt fühlte, zu verstehen, dass sie genau dies mit dem Gespräch herauszubekommen versuchte. Nach bisherigen Erkenntnissen sehe sie dafür aber keine Veranlassung. Vielmehr stelle sich für sie die Frage, wie es mit Markus weitergehen sollte. Ihrer Auffassung nach gebe es hier nur zwei Möglichkeiten, entweder die Aufnahme in die geschlossenen Psychiatrie oder aber die Entlassung nach Hause. Ersteres sollte sich zunächst aber nur auf eine Nacht beschränken.

    Markus schien dies alles nicht zu interessieren, er schaute die Psychologin nur gelangweilt an und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Henning und Franziska dagegen wollten nicht glauben, was sie da hörten. Die Psychologin zog tatsächlich in Betracht, Markus wieder nach Hause zu schicken?

    Selber

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