Leonardos dritte Haut
Von Tobias Meyer
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Über dieses E-Book
Während sich bei uns die jungen Erwachsenen auf in die grossen Abenteuer des Lebens machen, legt Leonardo sich auf einen Operationstisch und lässt sich erweitern - so ist es zukünftig üblich in Europas Mittelland.
Nach der Erweiterung verfügt der junge Leonardo über einen implantierten Quantencomputer, der mit seinem eigenen Nervensystem verwächst - seine zweite Haut.
Damit liegt ihm die Welt zu Füssen. Doch das Ausloten der unbegrenzten Möglichkeiten birgt auch in der Zukunft Gefahren. Leonardo begibt sich auf eine Reise und erkennt, dass er eine Entscheidung treffen muss: Verzicht bedeutet Mensch bleiben; die Möglichkeiten der Haut ausreizen, heisst alles zu bekommen - mit dem Risiko sich in eine Hülle zu verwandeln
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Buchvorschau
Leonardos dritte Haut - Tobias Meyer
Die Operation
Seine Nervosität ist verschwunden. Eingebettet in warme Tücher liegt der nackte junge Mann auf der Bahre. Grünbekittelte Operateure huschen herum. An diesem Morgen herrscht Hochbetrieb im Erweiterungszentrum.
Mit der Erweiterung wird aus dem jungen Mann eine erwach– sene Person. Die Menschen dieser Zeit bedürfen einer Metamorphose, um sich der Komplexität des Alltags stellen zu können.
«Hallo, mein junger Freund, du heißt Leonardo, nicht wahr?»
«Ja», antwortet er, «Leonardo …»
«Dann nenn ich dich Leo», unterbricht ihn der Operateur, «ich werde dich erweitern, freust du dich?»
«Ich weiß nicht, da kann doch nichts passieren, oder?»
«Es kann immer etwas passieren», meint er lakonisch und fährt fort: «Doch unser Erweiterungszentrum ist Goldstandard. Wir werden dir deine zweite Haut optimal auf den Körper übertragen. Außerdem bekommst du die neuesten, hochwertigsten Folien. Stell dir vor, nach der Erweiterung wirst du die aktuellste Generation sein, dein gespeichertes Wissen, deine Rechenfähigkeit, deine Sinnesleistungen, all das wird so umfassend und gut sein, schnell und fehlerlos …»
Während der Operateur Leonardo die Vorzüge der Erweiterung erläutert, nesteln unzählige Menschen an seinen nackten Gliedern herum. Sie bereiten den jungen Körper auf die Strapaze vor. Im Verlauf der letzten paar Monate hatte sich Leonardo fast täglich medizinischen Kontrollen unterzogen. Die Operateure prüften seine Körperfunktionen wie ein Gourmetkoch, der einen Fugofisch zubereiten will. Mit teuren Maschinen und akribisch wurde sein Inneres nach potenziellen Abnormitäten durchforstet. Leonardo ist gesund. Sämtliche sportlichen Tests hat er bestanden, die Schule ist abgeschlossen. Auch Leonardos Klon hat seine Häutung, die den Operateuren vor einigen Tagen Leonardos zweite Haut lieferte, toleriert. Momentan verharrt das hüllenlose Wesen in einem Flüssigkeitstank zur Zwischenlagerung. Dem Klon wird man Leonardos Originalhaut verpassen und ihn dann wieder zurück in sein Umfeld schicken. Dort wird er leben, bis Leonardo vielleicht einmal eines seiner Organe benötigt.
Noch immer spricht der Operateur zu Leonardo, während die Vorbereitungen zur Erweiterung auf Hochtouren laufen.
«Nach der Replantation verwächst das Nervengeflecht deiner Haut mit den Folien. Der intensive Kontakt ermöglicht dir die Erschließung aller Folienprogramme, aller Dateien, sämtlicher Kontakte zu allen anderen Erweiterten! Willkommen im Klub!»
Dann taucht Leonardo ab in die Welt der Narkotika. Stundenlang geistern die grünen Gestalten um ihn herum, berühren ihn wie durch Schichten heller, durchsichtiger Gazen hindurch, füllen die grell beleuchtete Stätte der Erweiterung. Sie sind tätig, gehetzt und konzentriert. Die sterile grüne Verpackung schluckt ihre Persönlichkeit und ihre automatisierten Gedanken sind in der verantwortungsvollen Aufgabe versunken und gefangen. So präzise und routiniert wie möglich, nach bestem Wissen und mit größtmöglicher Sorgfalt gehen die Operateure vor und hantieren mit glänzenden, metallisch riechenden Geräten an Leonardos Körper herum. Sie sind der Frühling, der seine Verwandlung bewirkt, sie sind die Götter, die seine neue Gestalt prägen. Sie vollziehen an ihm einen tausendfach geübten Vorgang, die Erweiterung.
Wenn erst einmal der Klon geschält und damit begonnen wird, seine Haut mit den Folien zu versetzen, gibt es kein Zurück mehr. Die Gesellschaft von Europa braucht ihre Erweiterten. Sie braucht sie, damit das eigene Erweitertsein einen Sinn macht, und die Menschen brauchen die zweite Haut zur Arbeit, in der Freizeit, in den Reisebars. Ohne den Nachwuchs an Erweiterten wäre die gesamte Entwicklung der heutigen Technologie gefährdet. Das Wissen um die Herstellung und den Unterhalt der EVA2-Organismen ginge verloren und damit fast die gesamte infrastrukturelle Grundlage der modernen Zivilisation.
Leonardo schläft. Während des Schlummerns bemerkt er die Anwesenheit der Folien. Es ist ein leises Gemurmel, wie wenn viele, weit entfernte Menschen in einer fremden Sprache sanft durcheinander sprechen würden. Manchmal wehen Satzfetzen herüber, treten ein und ziehen endlose Schlaufen in seinem Gehirn. Die Spiralen beeinflussen seine fiebrigen Träume. Die gereizten Hautnerven feuern unzählige Signale und das überlastete Zentrum ächzt unter der Last der Reizflut. Durch zahlreiche Schläuche pumpen die Pfleger Nahrung und Medikamente hinein und saugen Wundwasser, Blut und Kot heraus. Leonardos Nerven haben mit der Kontaktaufnahme begonnen. Angeregt durch Wachstumshormone suchen sich die feinen Nervenausläufer den Weg zwischen den einzelnen Schichten der Folie. Dort wachsen sie fest und haben Zugang zu den unermesslichen Informationen der zweiten Haut. Nach der Verwandlung im Mutterleib vom Einzeller zum Kind und nach der körperlichen Reifung in der Pubertät zum Kindmenschen ist die Erweiterung die Fortsetzung und der Abschluss der menschlichen Entwicklung. Der erweiterte Mensch ist nun auch technologisch sozialisiert und kann endlich teilnehmen an Verkehr, Arbeitswelt, Konsum und Kommunikation.
Binnen einiger Tage sind die Folien verwachsen. Zwischen dem Gehirn und dem Folien-Nerven-Geflecht muss nun ein neues Gleichgewicht entstehen. Über die gesamte Länge von Leonardos Wirbelsäule bleibt eine feine, helle Narbe der einzig sichtbare Beweis für die Erweiterung. Leonardo hatte zum ersten Mal als Sechsjähriger eine solche Narbe bei seinem Adoptivvater gesehen. Sie waren auf dem Weg zum Born, einem freistehenden Hügel in Mittelland. Beim Aufstieg über die Tausender-Treppe waren sie ins Schwitzen gekommen und der Adoptivvater hatte sein Hemd ausgezogen. Dabei war Leonardo die Narbe aufgefallen und er hatte gefragt:
«Hat die Erweiterung eigentlich wehgetan?»
«Nein, Leo, das kann man so nicht sagen. Der Schmerz der Erweiterung ist weniger ein körperlicher. Mich schmerzte vielmehr mein Abschied von mir selbst als Kindmensch. Wenn man erweitert ist, dann geht nämlich eine wichtige, typisch kindliche Eigenschaft verloren. Sobald wir oben sind, werde ich dir etwas zeigen, und damit verstehst du vielleicht besser, was ich meine.»
Als Leonardo und sein Adoptivvater wenig später die herrliche Aussicht genossen, über knorrige Eichen und dunkle Tannen und über den Sonnenwald hinaus und bis weit in die südlich gelegenen Alpen hinein, kam der Adoptivvater auf die Kindmenschen zurück.
«Im nächsten oder auch übernächsten Sommer, wenn du alt genug bist, wirst du in diesen Bergen dort lernen, mit einer Sense die steilen Hänge der wilden Bergwiesen zu mähen. Mit meiner Frau werde ich die Heuballen schultern und ins Tal schleppen und wir werden schwitzen und lachen und unsere Nase wird gekitzelt mit mannigfaltigen Düften, die Grillen werden uns um die Ohren zirpen und die wolkenlosen Sonnentage besingen, um mit ihrem Lockgesang die Grillenbestände zu erhalten. Du wirst mutige Dolen beobachten, wie sie spielend in abgrundtiefe Schluchten stürzen, um unversehrt wieder aufzutauchen, und wir werden die Murmeltiere hören, wenn sie sich vor den Steinadlern gegenseitig warnen.»
In Leonardos Phantasie eröffnete sich eine idyllische Bergwelt. Der Adoptivvater fuhr fort:
«Bis dahin wird ein ganzes Jahr vergehen und du wirst noch Hunderte anderer Eindrücke gewinnen, bis es so weit ist. Dein Kinderkopf ist noch neugierig. Als älterer Mensch bekommt man immer mehr den Eindruck, die Zeit liefe schneller und schneller. Plötzlich erinnert man sich nicht mehr an den letzten Geburtstag, es hat ja schon so viele gegeben, man nimmt die Jahreszeiten erst wahr, nachdem sie schon fast vorbei sind, die Zeit zerrinnt förmlich. Die Jahre fließen davon.»
Es entstand eine kurze Pause.
«Was meinst du, wie alt der Fluss ist, der sich dort unten am Fuße des Borns entlang schlängelt?»
«Sehr alt», mutmaßte Leonardo.
«Wahrscheinlich, vielleicht auch sehr jung, wir beide können es nicht sagen. Dieser Fluss ist möglicherweise schon so alt, dass alles Wasser, das je auf der Erde existiert hat, in ihm geflossen ist. Das strömende Wasser gräbt eine Furche in die Landschaft, ufert aus, flutet, bewässert und erschließt sich neue Auen. Die am Ufer liegenden Weidenwälder bieten Generationen von Wasservögeln Schutz. Unzählige Frösche, Lurche und Kröten legen ihre empfindlichen Laichschnüre in die Wurzeln der Wasserlilien. Biber nagen sich durch aufgeworfene Dämme, Fische schnappen nach Eintagsfliegen und Wasserläufer drücken sanfte Wölbungen in unbewegte, spiegelglatte Flächen. Siehst du dort, dort unten in der steilen Kurve hat das Wasser begonnen, sich in den Berg hineinzufressen. Es sieht aus, als ob der Fluss den Berg anknabbern würde. Aber der Fluss ist noch zu jung. Niemand fürchtet sich heute oder in hundert Jahren vor der Gefahr, die