Perry Rhodan 166: Tarkan (Silberband): 8. Band des Zyklus "Die Gänger des Netzes"
Von Perry Rhodan
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Nach und nach kommen die letzten Geheimnisse der Ewigen Krieger ans Licht. Perry Rhodan und den anderen Gängern des Netzes werden Zusammenhänge von kosmischer Bedeutung bewusst.
Doch längst gibt es neue Schwierigkeiten: Das kosmische Gebilde namens DORIFER brütet etwas aus, von dem niemand weiß, was es bedeutet. Es öffnet sich eine Pforte in ein anderes Universum – und Perry Rhodan ist dort auf sich allein gestellt. Der Terraner wird in einen größeren Konflikt hineingezogen, als er erwartet hat …
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Buchvorschau
Perry Rhodan 166 - Perry Rhodan
Nr. 166
Tarkan
Heinrich Bauer Verlag KG, Hamburg
Cover
Klappentext
1. Verschollen
2. Ein Chronist berichtet
3. Vielerlei Informationen
4. Die ESTARTU-Saga
5. Aufklärungsarbeit
6. Chronik der Kartanin
7. Das Buch Hexameron
8. Im sterbenden Universum
9. Gast der Hauri
10. Im Bann der Psionik
11. Das Anklam-Projekt
12. Transmitter ins Unbekannte
13. Ränke auf Gangha
14. Beodu, der Träumer
15. Abstecher nach Ylon
16. Der Sonnensucher
17. Ein blinder Passagier
18. Auf den Spuren ESTARTUS
19. Die Astrologen von Hangay
20. Ein Traum wird wahr
Nachwort
Zeittafel
Impressum
PERRY RHODAN – die Serie
Die Macht der Ewigen Krieger in der Milchstraße ist gebrochen, die Völker der Galaxis sind wieder frei. Auch in der fernen Mächtigkeitsballung Estartu neigt sich die Zeit der Tyrannen ihrem Ende zu.
Nach und nach kommen die letzten Geheimnisse der Ewigen Krieger ans Licht. Perry Rhodan und den anderen Gängern des Netzes werden Zusammenhänge von kosmischer Bedeutung bewusst.
Doch längst gibt es neue Schwierigkeiten: Das kosmische Gebilde namens DORIFER brütet etwas aus, von dem niemand weiß, was es bedeutet. Es öffnet sich eine Pforte in ein anderes Universum – und Perry Rhodan ist dort auf sich allein gestellt. Der Terraner wird in einen größeren Konflikt hineingezogen, als er erwartet hat ...
1. Verschollen
Er erstarrte vor Schreck.
Bis vor Sekunden war das Treiben der Psiqs zwar hektisch, aber ohne jegliche Ordnung gewesen. Dann hatten sie sich formiert und jagten von allen Seiten auf ihn zu: bunte, wahllos geformte Leuchterscheinungen, deren Strahlung umso greller wurde, je näher sie ihm kamen. Es waren Hunderttausende, Millionen. Sie drängten sich so dicht zusammen, dass der grüne Schimmer im Hintergrund des Kosmonukleotids verschwand.
Er spürte, wie sich ein fremder Druck auf sein Bewusstsein legte. Ein metallenes Band schien um seinen Schädel gespannt, und eine feindliche Kraft zog daran und schnürte es immer enger. Das Denken fiel ihm schwer. Er erinnerte sich, wie er in das Kosmonukleotid eingeflogen war. Im Innern DORIFERS war es hektisch zugegangen, wie man es aufgrund der letzten Messungen von DORIFER-Station aus erwartet hatte. Die psionischen Informationsquanten tanzten einen wirren Reigen, verschmolzen miteinander und trennten sich wieder – viel schneller, als es das Auge eines Netzgängers je beobachtet hatte.
Die Bewegung der Psiqs hatte plötzlich aufgehört. Für eine Sekunde war es im Innern DORIFERS völlig ruhig gewesen. Dann hatten sich die bunten Quanten auf ihn gestürzt, von allen Seiten, mit wahnwitziger Geschwindigkeit – als sei er der Mittelpunkt des Universums. Sie kamen von überallher, in unübersehbaren Scharen.
Jemand rief. »Perry Rhodan ...«
Das bin ich, dachte er verwundert. Wer rief?
»LEDA.«
Der Name war ihm vertraut. Aber die Gedanken kämpften sich wie durch zähen Schlamm, um zu der Stelle seines Gedächtnisses zu gelangen, an der er die Information gespeichert hatte.
LEDA! Das war die Kapsel, mit der er den Flug nach DORIFER unternommen hatte.
»Ich bin hier, LEDA«, sagte er mit matter Stimme. Schmerz wühlte in seinem Gehirn. Der Druck war unerträglich.
»Es hat eine Explosion gegeben«, sagte die Kapsel. »Ein Schwall psionischer Energie ist durch DORIFER-Tor eingedrungen. DORIFER wehrt sich. Es kommt zu Verschiebungen in der Struktur des Hyperraums.«
»Umkehren!« Die Zunge war ihm schwer.
»Ich kann nicht umkehren«, erklärte LEDA. »Ich habe die Orientierung verloren.«
»Was ... geschieht jetzt?«
»Wir sind nicht in unmittelbarer Gefahr«, sagte die Kapsel. »Es gibt keine strukturellen Einflüsse. Wir müssen warten, bis DORIFER sich beruhigt.«
»Mein Kopf ...«, ächzte er.
»Ich weiß. Du bist der eigentliche Leidtragende. Ich kann dir helfen; aber ich muss warten ...«
Die sanfte Stimme der Kapsel ertrank in dröhnendem Rauschen. Es trieb ihm die Augen aus den Höhlen. Die Umrisse der unmittelbaren Umgebung verschwanden. Er sah nur noch das bunte, wimmelnde Heer der Psiqs, das ihn unter sich begraben wollte.
In den Augenblicken des schwindenden Bewusstseins hatte er eine Vision. Das Leuchten der psionischen Informationsquanten wurde schwächer. Im Vordergrund erschien eine ungewöhnliche Sternenkonstellation. Sie bestand aus fünf Sonnen, die in hellem Rubinrot leuchteten, einer blauen Sonne und zwei grünen. Das Bild prägte sich ihm ein, obwohl sein Verstand in diesen Sekunden kaum noch funktionierte.
Die Vision verblasste. Ein Stich fuhr ihm durch den Schädel, als hätte ihm jemand eine glühende Lanze ins Gehirn gerammt. Danach war Dunkelheit.
Er fühlte sich merkwürdig leicht, als er wieder zu sich kam. Er hatte keine Schmerzen. Es war ihm ausgesprochen wohl zumute. Er lag in seinem Gliedersessel, der fast horizontal ausgefahren war. Vor ihm schwebte eine große Bildfläche. Darauf war ein Heer von Sternen zu sehen. Im Hintergrund glomm es düsterrot. Wasserstoff-Alpha, dachte er beiläufig: das Leuchten ionisierter interstellarer Gasmassen.
Er spannte die Bauchmuskeln an. Die physiosensiblen Mechanismen des Sessels reagierten sofort. Das Beinpolster sank ab, die Rückenlehne hob sich zu normaler Sitzstellung. Perry Rhodan warf einen Blick in Richtung des Chronometers. 15.43 Uhr. Er stutzte. Es war 20.25 Uhr gewesen, als LEDA DORIFER-Tor passierte. Hatte er fast 20 Stunden bewusstlos gelegen?
»Willkommen daheim in der Welt der Wirklichkeit«, meldete sich die freundliche Stimme der Kapsel. »Ich hoffe, du fühlst dich wohl.«
»Danke der Nachfrage«, antwortete er. »Ich nehme an, mein Wohlbefinden ist nicht zuletzt dir zu verdanken.«
»Ich habe mich um dich gekümmert«, antwortete LEDA. »Der Psi-Sturm im Innern von DORIFER hat dir erheblich zugesetzt.«
»Das muss wohl so sein«, sagte er. »Etwas über neunzehn Stunden bewusstlos ...«
»Einundneunzig Stunden«, korrigierte die Kapsel.
Er fuhr auf. Ein zweites Mal sah er das Chronometer an. Diesmal achtete er auf das Datum: 4. Februar 447! Er war fast vier Tage lang ohne Bewusstsein gewesen.
LEDA war ein Produkt querionischer Technik. Sie verfügte über eine autarke, synthetische Intelligenz. Wer sie für ein Nutzfahrzeug hielt, das dem Gänger des Netzes dazu diente, ins Innere des Kosmonukleotids DORIFER zu gelangen, schätzte sie weit unter Wert ein. Sie war der Partner des Netzgängers, ein Helfer in der Gefahr, jemand, mit dem man sich unterhalten konnte, und im Notfall Sanitäter, Arzt und Psychiater. LEDAS Repertoire an medo- und psychotechnischen Hilfsmitteln war auf die Person und die Beschaffenheit ihres Passagiers abgestimmt. Perry Rhodan versuchte sich auszumalen, wie LEDA ihn behandelt hatte, während er bewusstlos lag. Vermutlich hatte sie ihm Medikamente in gasförmigem Zustand verabreicht. Er hatte sie eingeatmet, und seine Schmerzen waren gewichen, die Schäden, die der Psi-Sturm in seinem Gehirn angerichtet hatte, beseitigt.
»Vier Tage«, staunte er. »Wo sind wir?«
»In einem fremden Universum«, antwortete LEDA. »Die elektrische Elementarladung beträgt null Komma eins fünf acht Attocoulomb. Nicht allzu viel Strangeness, aber immerhin.«
Nicht einmal die Eröffnung, dass er das Standarduniversum verlassen hatte und sich in einem unbekannten Kosmos befand, konnte ihn erschüttern. Es war, als hätte er in den letzten Sekunden der Ohnmacht mit einer solchen Entwicklung gerechnet.
»Vier Tage Ohnmacht, war das der Strangeness-Schock?«
»Ja«, bestätigte die Kapsel. »Es ist mir gelungen, ihn zu mildern. In diesem Zusammenhang muss ich eine Warnung aussprechen. Du bist, was deine Reaktion auf Strangeness anbelangt, auf meinen Schutz angewiesen. Mein Einflussbereich ist gering und erstreckt sich nur wenig über die physikalischen Abmessungen dieser Kapsel hinaus.«
»Keine Angst«, sagte Perry Rhodan. »Ich habe nicht die Absicht, ins Vakuum des interstellaren Raumes hinauszuspringen. Obwohl die Netzkombination mich natürlich schützen würde. Das tut sie doch in diesem fremden Universum, nicht wahr, LEDA?«
»Auf die Kombination ist Verlass«, antwortete LEDA. »Etwas anderes mag dir zu denken geben. Es gibt in diesem Universum kein Psionisches Netz – wenigstens keines, das ich wahrnehmen kann.«
Das überraschte ihn. Er hatte gelernt, dass das Netz, das aus Strängen psionischer Energie bestand, ein natürliches Produkt der Schöpfung war und als solches einen ebenso selbstverständlichen Bestandteil des Kosmos darstellte wie die Sterne, die Galaxien, das Vakuum, die interstellaren Materiewolken und die Hintergrundstrahlung, die letztes Zeugnis von dem vor langer Zeit erfolgten Urknall ablegte. In diesem Zusammenhang spielte keine Rolle, dass das, was die Gänger des Netzes das Psionische Netz nannten, von DORIFER erst vor kurzer Zeit erschaffen worden war. DORIFER hatte vor rund 50.000 Jahren innerhalb seines Einflussbereichs die Psi-Konstante aufgeschaukelt und damit bewirkt, dass die Fäden des Netzes zu Straßen wurden, die Raumschiffe mit Enerpsi-Antrieb und Netzgänger mit dem Abdruck des Einverständnisses als Verkehrswege benutzen konnten.
Schon lange vor DORIFERS Eingreifen waren die Querionen in der Lage gewesen, entlang psionischer Energiebahnen zu reisen. Für sie war das Psionische Netz immer da gewesen – jenes Netz, das natürlicher Bestandteil eines jeden Universums war. LEDA war ein Erzeugnis der querionischen Technik. Aber sie war nicht in der Lage, das Vorhandensein psionischer Feldlinien in diesem Universum zu erkennen?
Er musste eine Zeit lang nachdenken; schließlich hatte er seine Frage formuliert und sprach sie aus.
»In deinen Augen, Perry Rhodan«, antwortete LEDA, »mag ich ein wundersames Gebilde sein. Aber in mir steckt nur ein kleiner Teil des Wissens, das die Querionen besitzen. Ich kann ein Psionisches Netz nur erkennen, wenn es genauso oder ähnlich beschaffen ist wie jenes im Einflussbereich DORIFERS. Ich bin nur ein querionisches Produkt, kein Ersatz für einen Querionen.«
»Das heißt, dass wir hier festsitzen?«, fragte er verblüfft.
»Nein, das heißt es nicht. Ich besitze ein zweites Triebwerk. Ich kann dich überlichtschnell an jeden Ort bringen, nach dem dein Herz verlangt.«
»Wie wär's mit zurück nach Hause?«, fragte er.
»Tut mir leid. Ich wurde ebenso gegen meinen Willen in dieses fremde Universum geschleudert wie du. Ich weiß nicht, wo der Ausgang ist.«
Er dachte darüber nach. Er war in einem fremden Universum gefangen. Er empfand Trauer, wenn er an Gesil dachte. Sie würde sich Sorgen um ihn machen. Es gab keine Möglichkeit, sie darüber zu informieren, dass er körperlich und seelisch wohlauf war.
Um sich hatte er keinerlei Bedenken. Er empfand Wissbegierde. Es war ihm nicht die Gelegenheit gegeben worden, ein fremdes Universum zu sehen, ohne dass er sie bis zur Neige auskosten würde. Er würde das Meer der Sterne erforschen, das sich lockend vor ihm ausbreitete, und mit Kenntnissen nach Hause zurückkehren, wie sie kein Mensch vor ihm erworben hatte.
Dass es eine Heimkehr geben würde, stand für ihn fest. Ungewissheit gab es nur bezüglich des Zeitpunkts. Er fühlte eine Selbstsicherheit wie selten zuvor. Er glaubte zu spüren, dass er nicht durch Zufall in den fremden Kosmos versetzt worden war. Es war seine Bestimmung, der erste Vertreter der Spezies Homo sapiens sapiens terrestris zu sein, der diesem Universum einen Besuch abstattete.
»Ich weiß nicht, wie ich die Frage formulieren soll«, sagte er zu LEDA. »Bei der nahezu unendlichen Zahl von Universen scheint sie sinnlos. Doch gibt es einen Hinweis darauf, in welchem wir uns befinden?«
»Tarkan«, antwortete LEDA sofort.
Seine Gedanken gingen zurück in die Vergangenheit. Am Morgen des 24. Januar 447 war er von Hubei aufgebrochen, nachdem ihn die Nachricht erreicht hatte, dass DORIFER sich in einen Zustand hektischer Aktivität hineingesteigert habe, der das Schlimmste befürchten lasse.
In DORIFER-Station hatte Rhodan sich überzeugen können, dass das Nukleotid tatsächlich in ein kritisches Stadium getreten war. Einer der Spezialisten, die in der Station tätig waren, formulierte es so: »Es sieht aus, als wollte DORIFER verzweifelt einen Messenger anfordern; aber es kommt keiner.«
Messengers waren die Werkzeuge der kosmischen Enzymierung. Auf ein Signal hin kopierten sie Informationen der kosmischen Entwicklung aus einem Kosmogen, das wiederum aus mehreren Kosmonukleotiden bestand, und generierten entwicklungsmechanische Einflüsse, die zur Evolution des Kosmos in der von den kopierten Informationen vorgeschriebenen Weise beitrugen. Die Aktivität des Kosmonukleotids wies tatsächlich darauf hin, dass im Innern psionische Informationsquanten zur Kopierung aufgereiht wurden. Indes war ein Messenger – ein konzentriertes Feld aus ultrahochfrequenter Hyperenergie – nirgendwo in Sicht.
Eine Stunde lang beschäftigte sich Perry Rhodan mit den Daten, die im Lauf der vergangenen Tage aufgezeichnet worden waren. Danach stand für ihn fest, dass nur ein Inspektionsflug ins Innere DORIFERS die gewünschte Klarheit bringen werde. Man riet ihm ab. Man wies ihn auf die Gefahren hin, die ein solcher Flug bei den gegenwärtigen tumultuösen Verhältnissen im Innern des Nukleotids mit sich brachte. Perry Rhodan führte daraufhin eine Unterhaltung mit LEDA.
»Ich errechne achtzig Prozent Wahrscheinlichkeit, dass wir mit heiler Haut davonkommen«, sagte die Kapsel. »Chaotisch ist es in DORIFER des Öfteren zugegangen. Aber es gibt Möglichkeiten, die Gefahr rechtzeitig zu erkennen. Im Notfall bleibt uns die Flucht.«
Damit stand sein Entschluss fest. Am 25. Januar würde er zum Inspektionsflug aufbrechen. Bis dorthin blieben ihm noch 20 Stunden Zeit. Die wollte er auf Sabhal verbringen.
Einen halben Tag verbrachte er zu Hause. Gesil war erst vor zwei Tagen von einem Einsatz auf Al-Makhdub in der Galaxis Urumbar zurückgekehrt. Dort hatte sich ein Streit zwischen dem Ewigen Krieger Shargk und seinem Animateur Griek entsponnen. Es ging um das estartische Wunder von Urumbar, die Heliophilen Goldregenmacher. Die Netzgänger hatten auf Shargks Seite eingegriffen und die Goldregenmacher an die moralische Verpflichtung ihrem Schöpfer gegenüber erinnert. Denn schließlich hatte der Ewige Krieger das Wunder mit eigener Hand erschaffen. Als die Gänger des Netzes sich aus Urumbar absetzten, schien festzustehen, dass Griek in der Auseinandersetzung mit Shargk unterliegen würde.
Gesils Schilderung des Einsatzes war lebendig und farbenfroh. Perry Rhodan hatte die Stunden der Entspannung, des Gesprächs und der Liebe genossen, und als er Gesil in den Armen hielt, kam ihm der wehmütige Gedanke, warum es nicht immer so sein könne.
Er hing der Frage nicht lange nach. Im Lauf von zwei Jahrtausenden hatte er sie sich Hunderte von Malen gestellt. Es gab darauf keine Antwort. Er hatte seine Laufbahn selbst gewählt und dabei bewusst auf Ruhe und Beschaulichkeit verzichtet. Die Rolle des Mannes, der in geregelter Arbeitszeit seiner Beschäftigung nachging und sich im Übrigen seiner Familie widmete, hätte ihm auf Dauer kaum behagt. Wer sich dafür entschied, eine Rolle im Drama der kosmischen Gewalten zu spielen, verlor seinen Anspruch auf Freizeit und Privatleben. Was ihn beruhigte, war, dass niemand dies besser verstand als Gesil.
Am Morgen des Tages, an dem er zu seiner Inspektionsfahrt aufbrechen wollte, suchte er Geoffry Waringer in einem Forschungskomplex am Fuß der Berge im Norden der Stadt Hagon auf. Die Begrüßung war herzlich, und doch spürte Rhodan eine Spur Verdruss in Waringers Verhalten.
»Ich höre, dass du dich in letzter Zeit ziemlich rarmachst«, sagte er leichthin. »Gesil verwendet Ausdrücke wie Einzelgänger, Eigenbrötler, wenn sie über dich spricht.«
Ein mattes Lächeln huschte über Geoffry Waringers schlankes Gesicht. Er sieht älter aus, dachte Perry Rhodan. Er macht sich Sorgen.
»Gesil kann man nichts vormachen«, antwortete der Wissenschaftler. »Sie schaut glatt durch mich hindurch.«
»Was ist es also?«, fragte Rhodan. »Was bedrückt dich?«
»Die Ungewissheit«, antwortete Waringer. »Die Welt ringsum ist so durcheinander, dass ich mich auf nichts mehr konzentrieren kann. DORIFER spinnt, wenn du die Plattheit des Ausdrucks verzeihst. Drastische Ereignisse, wie sie nur von einem Bestandteil des Moralischen Codes des Universums ausgelöst werden können, stehen unmittelbar bevor. Aber wir haben nicht die geringste Ahnung, was auf uns zukommt. Irgendwie muss ein Sinn hinter dem Ganzen stecken, Perry. Es muss möglich sein, DORIFERS Aktivität zu analysieren und zu verstehen. Alles in der Natur unterliegt gewissen Gesetzmäßigkeiten, und der Moralische Code ist Bestandteil der Natur. Warum gelingt es uns nicht, DORIFER zu begreifen? Warum stehen wir ihm immer noch so hilflos gegenüber wie der Steinzeitmensch dem Blitz, dem Sturm und dem Nordlicht, die er sich auch nicht erklären konnte?«
»Dein Vergleich enthält die Antwort, wie mir scheint«, antwortete Perry Rhodan nachdenklich. »Es gibt Stufen der Erkenntnis, die wir eine nach der anderen erklimmen müssen, bevor wir den Moralischen Code verstehen können. Der Steinzeitmensch wuchs allmählich heran, lernte den Gebrauch von Metallen und entwickelte erst viel später die Theorien der Thermodynamik, des Elektromagnetismus und der Partikelphysik. Als er das getan hatte, waren Blitz, Sturm und Nordlicht keine Rätsel mehr für ihn.«
»Die Querionen«, knirschte Geoffry Waringer. »Sie wissen mehr, als sie zugeben wollen. Aber sie rücken mit ihren Kenntnissen nicht heraus. Sie sitzen auf ihnen wie die Glucke auf dem Ei.«
Der Vergleich entlockte Perry Rhodan ein Grinsen. »Vergiss DORIFER für den Augenblick«, riet er dem Mann, der in ferner Vergangenheit sein Schwiegersohn gewesen war. »Auf anderen Gebieten hast du beachtliche Erfolge erzielt. Denk nur an deine Interuniversalsonden. Was wüssten wir über den KLOTZ, wenn nicht deine Sonden gewesen wären?«
Waringer winkte ab. »Hör mir auf mit den Sonden. Sie waren dazu gedacht, ein fremdes Universum anzusteuern. Was taten sie stattdessen? Sie materialisierten an Bord eines Großraumschiffs ...«
»... das aufgrund seiner Strangeness als Bestandteil eines fremden Universums betrachtet werden musste«, fiel ihm Perry Rhodan ins Wort.
Geoffry Waringer ließ sich nicht überzeugen. »Warum kehrten sie beschädigt zurück, Perry?«, klagte er. »Keine einzige Sonde kam zurück, an der nicht das eine oder andere Gerät ausgefallen war. Wie soll man fremde Universen erforschen, wenn man laufend unvollständige Daten erhält?«
»Hast du darüber nachgedacht«, fragte Perry Rhodan, »dass es sich bei der Beschädigung der Interuniversalsonden um einen natürlichen Vorgang handeln könnte? Dass es ein Gesetz gibt, wonach ein Gegenstand beschädigt werden muss, wenn er in ein anderes Universum vordringt?«
»Strangeness-Schock auf mechanischer Basis, gewiss«, antwortete Waringer. »Er passt in meine Theorie.«
»Eine andere Frage macht mir weitaus mehr zu schaffen«, fuhr Rhodan fort. »Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass wir mit interuniversalen Transitionen zu tun haben. Wir unternahmen Vorstöße ins Universum der Druuf. Wir waren in jenem Parallelkosmos, in dem Anti-Rhodan herrschte. Warum haben wir damals keinen Strangeness-Schock gespürt?«
Geoffry Waringer verzog das Gesicht. »Manchmal wünsche ich mir, du interessiertest dich für weniger komplizierte Dinge«, brummte er verdrießlich. »Ich bin ein bescheidener Mensch; aber auch ich lasse mich nicht gerne zu dem Eingeständnis zwingen, dass ich in Bezug auf gewisse kritische Fragen völlig im Dunkeln tappe.«
»Völlig?«
»Ich habe ein paar Gedanken. Aber bevor ich sie auf ihre Richtigkeit überprüfen kann, muss die Theorie komplett sein. Von den beiden Fällen scheint mir der mit dem Druuf-Universum der einfachere zu sein. Ich glaube nicht, dass es sich damals wirklich um Übergänge von einem Universum in ein anderes handelte. Es war vielmehr so, dass die beiden Universen einander überlappten. Man befand sich im Universum der Druuf, gewiss, aber man hatte ein Stück des Standarduniversums an sich hängen – war mit ihm wie durch eine Nabelschnur verbunden, wenn du so willst. Dass es unter solchen Umständen nicht zur Entwicklung von Strangeness-Schocks kommen kann, erscheint einleuchtend. Wie gesagt, das ist Spekulation.«
»Und im Fall des Paralleluniversums?«
Waringer hob die Schultern. »Erinnere dich daran, wie der Übergang damals zustande kam«, sagte er. »Es gab eine Explosion, die so gewaltig war, dass ihre zerstörerische Kraft sich nicht mehr im Einstein-Raum austoben konnte, sondern das Gefüge der Raum-Zeit selbst angriff. Die Wand der vierdimensionalen Raum-Zeit wurde aufgerissen, und durch das Loch stürzten wir in ein anderes Universum. Der Strangeness-Schock ist ein energetischer Vorgang oder vielmehr das Resultat eines solchen. Es kann sein, dass die Energie des Effekts von der gewaltigen Explosion absorbiert wurde oder neben deren Energieentwicklung nicht mehr zur Wirkung kam. Aber das ist keine Methode für Interuniversalreisen. Nein, es muss anders gehen. Es muss uns gelingen, mit dem Strangeness-Schock fertigzuwerden, wenn wir jemals gezielt zwischen Universen hin und her pendeln wollen. Wie ist der Schirm beschaffen, der den Strangeness-Schock verhindert? Das ist die Frage, auf die wir eine Antwort finden müssen.«
»Eines Tages wirst du es wissen«, tröstete Perry Rhodan den Unzufriedenen. »Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.«
»Das fehlte mir noch«, seufzte Geoffry Waringer. »Trost per antiquarisches Sprichwort.«
»Im Übrigen besteht die Möglichkeit, dass du bald neue Informationen über die Vorgänge im Innern DORIFERS erhältst.«
Waringer sah auf. »Du machst einen Inspektionsflug, nicht wahr?«
»So ganz von der Welt abgeschlossen scheinst du doch nicht zu sein.«
»Man hört hin und wieder etwas«, gab Waringer zu. »Viele halten dich für einen Narren. DORIFER ist zu gefährlich.«
»Willst du mich vom Flug abhalten?«
»Dich?« Waringer lachte. »Eher brächte ich Gold zum Rosten als dich von einem Entschluss ab. Aber ich habe Angst, das gestehe ich dir ehrlich.«
»Angst, wovor?«
Waringer schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Etwas Ungeheuerliches wird geschehen, und du wirst mittendrin stecken.«
Daraufhin herrschte eine Zeit lang Schweigen. Als Perry Rhodan schließlich wieder sprach, tat er es zögernd und stockend, als wüsste er nicht genau, wie er sich ausdrücken sollte.
»Geoffry, glaubst du ... an eine ... ich meine ... an eine kosmische Bestimmung der Menschheit?«
»Ooh!«, machte Waringer und sah einen Augenblick lang recht erschreckt drein. »Das ist die Frage des Jahrhunderts, nicht wahr? Lass mal sehen.« Er lehnte sich bequem zurück und schlug ein Bein über das andere. »Das, was von den Philosophen als Bestimmung betrachtet wird, interpretiert einer wie ich als die Realisierung von Ereignissen mit geringer A-priori-Wahrscheinlichkeit. Eine Serie von unwahrscheinlichen Zufällen erscheint dem Philosophen als Bestimmung. Für mich ist sie Statistik, im Fall der Menschheit allerdings eine höchst seltsame Statistik, die erstaunlich oft ausgerechnet das unwahrscheinlichste Ereignis produziert.«
»Danke!«, lachte Perry Rhodan. »Ich hätte mir denken können, dass von dir keine vernünftige Antwort zu bekommen ist.«
»Einen Augenblick«, protestierte Geoffry Waringer, scheinbar gekränkt, »ich bin noch nicht fertig. Deine Frage läuft darauf hinaus, ob ich glaube, dass einer von oben an der Menschheitsstatistik dreht.«
»Ja, und?«
»Diese Frage kann ich nicht beantworten. Das wäre Wahrsagerei. Damit befasse ich mich nicht. Eines erscheint mir unvermeidlich. Es wird geschehen, ob du es willst oder nicht. Ob du daraus den Glauben an eine kosmische Bestimmung der Menschheit ableiten willst, bleibt dir überlassen.«
»Was ist das?«, wollte Perry Rhodan wissen.
»Es ist dasselbe, was für meine schlechte Laune verantwortlich ist«, sagte Waringer. Er war außerordentlich ernst. »Weil ich übel gelaunt bin – und nicht nur ich allein, sondern auch andere, die sich mit solchen Dingen befassen –, ebendeswegen weiß ich, dass es uns eines Tages gelingen wird, das Geheimnis des Moralischen Codes zu enträtseln.«
»So«, machte Perry Rhodan, ein wenig überrascht.
»Jawohl! Damit hätten wir die Antwort auf die Frage: Wer hat das GESETZ initiiert und was bewirkt es? Wenn ich mich, nur für den Augenblick, einmal deiner Ausdrucksweise bedienen darf, muss ich sagen: Es ist immer noch Teil der kosmischen Bestimmung der Menschheit, die Antwort auf die dritte Ultimate Frage zu finden.«
Perry Rhodans Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Fand er die kosmische Bestimmung der Menschheit in diesem Universum? In Tarkan lag der Ursprung der jüngsten Ereignisse, das wusste er mittlerweile. Vor seinem Aufbruch hatte er den Bericht gehört, den Fellmer Lloyd und Gucky nach ihrer Rückkehr aus der Galaxis Pinwheel erstatteten. Ihre Informationen stammten von Oogh at Tarkan, dem legendären Attar Panish Panisha, der den Anhängern des Kriegerkodex als heilig gegolten hatte, bis es ihm in den Sinn gekommen war, durch die Münder seiner Statuen zu sprechen und den Kriegerkult als eine verderbliche Irrlehre zu brandmarken.
Das Geheimnis der Herkunft der Kartanin, der Nakken und der Zatara-Pflanzenwesen war enthüllt. Ein Panorama von wahrhaft interkosmischer Dimension tat sich auf ...
2. Ein Chronist berichtet
Ein Chronist hat eigentlich nichts zu reden, aber ich sage euch: »Missachtet mir die Kosmokraten nicht!«
Mein Wort hat tatsächlich kein besonderes Gewicht. Insofern nämlich nicht, da ich selbst keine Entscheidungen treffe und keine Taten setze, sondern nur notiere, was die Ergebnisse der Entscheidungen und Handlungen anderer sind.
Und ich habe nur ein Fenster in die Vergangenheit. Dagegen stehen mir unzählige Fenster zur Verfügung, durch die ich in die Zukunft blicken kann – in Myriaden mögliche Zukünfte, unter denen ich mir jene mit der größten Probabilität aussuchen kann. Aber da ist Vorsicht geboten, denn Zukünfte mit höchstem Wahrscheinlichkeitsgehalt mussten schon solchen mit vermeintlich geringsten Chancen zur Verwirklichung weichen. Kosmonukleotide wie DORIFER – und neuerdings wieder TRIICLE-9 – haben solche »Fenster«, von denen ich gerade gesprochen habe.
Ich bin also der Chronist der Mächtigkeitsballung von ES. Und während ich dies erzähle, ist alles, worüber zu berichten ist, längst gelaufen. Und es ist sogar genauso gekommen, wie es zu befürchten stand – und dennoch ist andererseits alles anders gekommen, als man hätte voraussagen können. Das Ergebnis ist zwar das gleiche, doch der Teufel steckt im Detail. Und über Details wird in meiner Chronik einiges stehen.
Dies ist ein geschichtsträchtiger Ort, an den ich mich zurückgezogen habe. »Ort« ist eigentlich nicht das richtige Wort, denn ich befinde mich im Nichts. Der Begriff »Nichts« ist natürlich irreführend. Was ich meine, ist: Der Ort ist zeit- und raumlos, einfach nichtdimensional.
Genau hier, wo ich nun bin, hat das kosmische Schachspiel zwischen ES und Anti-ES stattgefunden, dessen Ausgang allgemein bekannt ist. Oder nicht? Nun, Anti-ES hat gegen die Spielregeln verstoßen und wurde von den Kosmokraten für zehn Relativ-Einheiten in die »Namenlose Zone« verbannt. Zehn Relativ-Einheiten, das ist eine so lange Zeit, dass es dafür nicht einmal brauchbare Probabilitäten in den Kosmonukleotiden gibt. Zehn Relativ-Einheiten, das ist auch das ungefähre Alter von ES ... könnte man sich vorstellen, aber man nehme mich nicht beim Wort, weil diese Einheiten eben etwas Relatives sind.
Die »Namenlose Zone« dagegen lässt sich mit jenem Bereich hinter den Materiequellen definieren. Mehr will ich dazu nicht sagen, weil ich von diesem Bereich nichts wissen will – mich zieht es nicht dorthin.
Nicht nur von höherer Warte aus war zu erkennen, wie schlecht es um die Mächtigkeitsballungen der Superintelligenzen ESTARTU und ES bestellt war. ESTARTU, die von ES gerne als »Schwester« bezeichnet wurde, lebte hier nicht mehr.
Der Orden der Ritter der Tiefe befand sich auf dem absteigenden Ast, denn die letzten Ritter rebellierten gegen ihre Auftraggeber, die Kosmokraten, und wollten von diesen keine Befehle mehr entgegennehmen. Es war eine ähnliche Situation wie einst in den letzten Jahren der Porleyter, und es wäre hoch an der Zeit gewesen, dass die Kosmokraten eine Nachfolgerorganisation initiierten. Die Gänger des Netzes hätten sich dafür angeboten, wenn nicht ...
Aber ich will nicht vorgreifen, als Chronist hat man sich an die strenge Abfolge der Ereignisse zu halten. Jedenfalls waren die Gänger des Netzes in den Augen der Kosmokraten eine wilde Organisation, die weder von ihnen noch von anderen höherrangigen Entitäten anerkannt wurde.
In jenen Tagen waren die sieben Mächtigen – Kemoauc, Bardioc, Partoc, Murcon, Ariolc, Lorvorc und Ganerc – nicht mehr. Wir, also ES und andere Superintelligenzen, wussten, dass der Ruf der Kosmokraten längst an andere sieben ergangen war und es Mächtige wie Kemoauc & Co. wieder gab. Nur hatte man bisher nichts von ihnen gehört, nicht einmal ihre Namen waren bekannt.
Genug auch davon.
Ich will damit beginnen, wie ich seinerzeit ebenfalls an diesem Ort war, um mich auf meinen Bericht über die Ereignisse mit den Chaotarchen vorzubereiten, die sich zwar große Mühe gegeben hatten, aber nicht eine derartige Katastrophe herbeiführen konnten wie andere Leute, die, im Gegensatz zu den Chaotarchen, eigentlich nichts Böses im Schilde führten.
Ich war gekommen, um meinen Pflichten nachzugehen, als ich merkte, dass ich nicht allein war. Ich hatte keinen Körper, einen solchen kann man hier nicht tragen, und auch das Unbekannte war körperlos, doch wir konnten einander spüren.
Ich wusste, dass jemand kommen würde, weil ein Besucher für ES angekündigt worden war.
Ich registrierte eine starke Persönlichkeit, selbstbewusst, zielstrebig, sich mächtig und schier unüberwindlich vorkommend, gewiss mit vielen Machtmitteln ausgestattet.
»Zu was für einem Duell treffen wir uns?«, eröffnete ich das Gespräch. »Hoffentlich gehen deine Erwartungen nicht über ein Wortgefecht hinaus, denn weder habe ich die Waffen für eine handfestere Auseinandersetzung, noch besitze ich deine Potenz.«
»Kein Kampf!«, sagte der andere scharf. »Ich bin hier, um von dir Rechenschaft zu fordern über einiges, was sich in deiner Mächtigkeitsballung zugetragen hat, das den Hohen Mächten nicht ins universelle Konzept passt. Und wenn wir Bilanz ziehen, wollen wir auch berücksichtigen, was alles hätte geschehen sollen und doch nicht geschah. Mir will scheinen, du verwaltest deine Mächtigkeitsballung nicht mit der nötigen Sorgfalt.«
»Oho!«, rief ich amüsiert. »Der Gesandte der Kosmokraten denkt, dass ich die Superintelligenz ES höchstpersönlich sei. Dem ist zu meinem größten Bedauern nicht so. Ich bin nur der Chronist von ES, ein völlig unbedeutender Geschichtsschreiber.«
»Erspar mir deine dummen Reden und spiele mir nicht den Narren vor«, herrschte mich der andere an. »Man hat mich gewarnt und darüber aufgeklärt, dass ES eine überaus exzentrische Superintelligenz sei, die sich an obskuren Spielchen erfreut und Schabernack mit allen und jedem treibt. Nicht mit mir! Entweder bist du ES, dann reden wir Fraktur. Bist du aber wirklich nur der Hofnarr dieser Mächtigkeitsballung, schicke mir die Superintelligenz. Es geht um Dinge von existenzieller Bedeutung, die ich nur mit der herrschenden Entität erörtern werde!«
»Ich bin so wenig ES, wie du ein Kosmokrat bist«, erwiderte ich, ohne mich einschüchtern zu lassen. »Ich kann für ES sprechen wie du für die Kosmokraten. Was hast du ES zu sagen?«
»Ich muss protestieren!«, sagte der Gesandte der Kosmokraten, aber schließlich legte er los.
Ich hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Es ging mir darum, die Anklagepunkte und Vorwürfe gegen ES anzuhören und mir ein Bild von dem Gesandten zu machen, herauszufinden, wer er war und in welche Kategorie er einzuordnen war. Er war nicht Carfesch, so viel stand fest, denn Carfesch hatte ein viel persönlicheres Verhältnis zu ES und hätte es nicht nötig gehabt, derart zu donnern.
Er war nicht so altgedient wie Carfesch, sondern wesentlich jünger und ohne Erfahrungen. Er wusste einfach nicht, wo's langging, wie man so sagt; er war ungehobelt und, was wohl seine sympathischste Eigenart war, geradeheraus, verzichtete auf jegliche diplomatischen Spitzfindigkeiten.
Er sprach, als sei er mit einer Superintelligenz gleichgestellt, dabei war er an Jahren sehr arm – er hätte ein Neugeborener sein können. So gesehen, war es durchaus möglich, dass er einer der von den Kosmokraten neu bestellten sieben Mächtigen war. Er wollte partout nicht seinen Namen nennen, und irgendwann gab ich es auf, über seine Identität zu grübeln.
Was er sagte, war nicht unwahr, die gegen ES gerichteten Vorwürfe waren, vom Standpunkt der Kosmokraten her, durchaus berechtigt. Aber wenn er dann in einem Atemzug sagte: »Es wird Zeit, dass ein neuer Wind durch diese Mächtigkeitsballung weht!«, gab er sich der Lächerlichkeit preis. Es war die Diskrepanz zwischen dem Wahrheitsgehalt und der Formulierung seiner Worte, die mich reizte. Solche Reden waren für ES geradezu eine Aufforderung zum Widerspruch.
Was soll man andererseits auf einen Vorwurf wie diesen erwidern?
»Es ist über die Maßen erschütternd und besorgniserregend, zu sehen, mit welcher Nonchalance ES sich über die elementarsten Pflichten hinwegsetzt und den natürlichen Gesetzmäßigkeiten entgegenarbeitet. Warum trägt ES nichts dazu bei, um so rasch wie möglich zur nächsthöheren Existenzebene aufzusteigen? Aber nein, statt die Entwicklung voranzutreiben, tritt ES auf der Stelle und tut sogar den Schritt zurück, um mit seinen Schützlingen zu kokettieren. Durch diese Einmischung in niedere Belange könnte ES es schaffen, statt zu einer Materiequelle zu einer Materiesenke zu werden. Das ist nicht, was sich die Kosmokraten als Beitrag einer Superintelligenz zur positiven Steuerung der Kosmologie vorstellen.«
Darauf gab es nichts zu sagen, denn der Grundgehalt der Anklage war wahr. Doch im selben Atemzug ES zu bezichtigen, es zuzulassen, sich zu einer Materiesenke zu entwickeln, war zu lächerlich, um darauf einzugehen. Der Gesandte spielte natürlich darauf an, dass Sotho Tyg Ian die technischen Einrichtungen geschaffen hatte, das Black Hole im Zentrum der Milchstraße in eine Materiesenke umzuwandeln – jenes Black Hole, das eigentlich dafür vorgesehen war, ES den Durchgang auf die nächsthöhere Existenzebene zu ermöglichen. Tyg Ians Chancen, seine Absicht durchzuführen, waren nicht besonders hoch – aber zum Zeitpunkt dieses Gesprächs war der Plan noch nicht vereitelt worden. Es war dennoch ein starkes Stück, ES daraus einen Strick drehen zu wollen.
Der Gesandte der Kosmokraten hatte jedoch weiteres Gift zu verspritzen, Gift, das leider mit Partikeln von großem Wahrheitsgehalt durchsetzt war.
ES, so meinte er, trage auch eine Teilschuld daran, dass das Kosmonukleotid DORIFER zu einem unberechenbaren Brüter geworden war und »seinerzeit« durch ESTARTUS unüberlegte Maßnahme die Psi-Konstante in diesem kosmischen Abschnitt unnatürlich hochgeschraubt habe.
Da es bei diesem Anklagepunkt nur sekundär um ES ging, konnte ich es mir leisten, für ESTARTU Partei zu ergreifen, der ja die Primärschuld angelastet wurde. Andere zu verteidigen ist immer edel. Darum fiel es mir nicht schwer, mich auf ESTARTUS Seite zu stellen.
Die Superintelligenz hatte ja nicht um der Sache willen am Moralischen Code gedreht, sondern die Beeinflussung des Kosmonukleotids DORIFER nur vorgenommen – oder zugelassen –, um bedrängten Völkern der unteren Existenzebene zu helfen. Und war es nicht eine der heiligsten Pflichten der Entitäten, das Leben in seiner ursprünglichsten Form zu erhalten? Das war letztlich auch im Sinn der Kosmokraten.
Der Gesandte der Kosmokraten tat die Angelegenheit damit ab, indem er erklärte, der ganze Schlamassel sei einzig und allein darauf zurückzuführen, dass ESTARTU auf dem Dritten Weg beharrte, sich also von den Kosmokraten abgekehrt hatte.
Und das war es wohl, worauf der Gesandte hinauswollte. Jetzt erst wurde mir klar, dass er ES in dem Auftrag aufgesucht hatte, die Superintelligenz zu einer Absage an den Dritten Weg zu veranlassen.
Wiewohl ich seine Absichten erkannte, stellte ich mich weiterhin dumm. »ES wird alles in seiner Macht Stehende tun, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen«, versprach ich. »ES