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Nornenfäden: Die Suche nach dem Muspelfunken
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Nornenfäden: Die Suche nach dem Muspelfunken
eBook611 Seiten8 Stunden

Nornenfäden: Die Suche nach dem Muspelfunken

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Über dieses E-Book

"Die Suche nach dem Muspelfunken" ist der Roman einer abenteuerlichen Wanderung durch die nordeuropäische Mythologie an der Seite der Geschwister Röskva und Thjalfi, die, gemeinsam mit ihrem Freund Kuno, versuchen, ihren Vater von den Eisriesen zu befreien und Kunos Volk vor einem furchtbaren Fluch zu retten. Dabei stellen sie sich den Bewohnern aller neun Welten und müssen begreifen, dass diese nicht so einfach in Gut und Böse geschieden werden können.
Die Reisenden und die Leser erfahren, was nötig ist, um Mögliches wahr werden zu lassen, warum Buchstaben, in Buchenstäbe geritzt, den richtigen Weg anzeigen und warum niemand immerzu nur Glück haben kann. Auf ihrem Weg durch die innere und äußere Welt machen sie Bekanntschaft mit weisen Frauen und starken Kriegern und ebenso mit Berserkern, Dunkelalfen, Schwanenjungfrauen, Werwölfen und vielen anderen mythologischen Wesen.

"Nornenfäden - Die Suche nach dem Muspelfunken" ist ein spannender Abenteuerroman für Jugendliche ab 12 Jahren und interessierte Erwachsene, der den Leser in die Mythen- und Sagenwelt des vorchristlichen Nordeuropa entführt. Er nimmt ihn, ausgehend von den Ufern der Alba - Elbe, mit zu heiligen Steinkreisen, in Hügelgräber, sagenumwobene Wälder und mystische Brunnen bis hinauf nach Norwegens Jotunheim hinter dem Nordmeer, dort wo die Grenze der menschlichen Welt von Jörmungand, der Mitgardschlange, bewacht wird.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum20. März 2019
ISBN9783748230854
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    Buchvorschau

    Nornenfäden - Johanna Jorun

    I

    DIE WILDE JAGD

    ES TOBTE, ES KRACHTE UND KNISTERTE, ES STÜRMTE, als ob die Welt neu erschaffen werden sollte. Zischend wie heißes Eisen flammten die Blitze aus dem nachtschwarzen Himmel und schlugen in die dicken Buchen, die alten Eichen und die hohen Birken ein. Dazu stürzte ein kalter Regen hernieder, wie schon lange nicht mehr. Die Windböen trieben das fallende Wasser vor sich her, bergab, bergab ins Tal hinein und die Fluten rissen Astwerk und Steine mit sich in die Tiefe.

    Wölfe, Füchse und sogar die Bären hatten sich in ihrem Bau verkrochen und die Vögel duckten sich tief in ihre Nester und hofften, dass der Sturm diese nicht davontrug. Das Wasser des weißen Flusses Alba kräuselte sich und schwappte über die Ufer und die Dachse flüchteten in ihre Löcher.

    Immer wieder flog der Blitz am Himmel entlang wie ein glühender Hammer und erhellte die Felsen und die Flussaue, in der dann, klein und verloren, einige Langhäuser mit tief gezogenen Dächern und flatternden Dachrinden zu sehen waren, die sich an den Hang duckten.

    Thruhild mühte sich, einen großen Stein, der herunter geweht war, wieder auf ihr Dach zu hieven. Sie fürchtete die Holzschindeln flögen allesamt davon und ihre Kinder wären den rasenden Elementen ausgesetzt. Doch der Stein, der die laweden Rindenscheiben halten sollte, wog schwer, kaum dass sie ihn bis zur Brust heben konnte. Da griffen von oben, vom Dach her, zwei hilfreiche Hände herab und von unten kamen zwei weitere, kleinere Hände dazu. Zu dritt hoben sie keuchend den Stein hinauf.

    Thjalfi sprang grinsend vom First herunter und schrie durch das Heulen des Windes: »Du hättest uns wecken sollen Mutter, wir können doch helfen.« Thruhild schob ihn und Röskva, seine Schwester, schnell in die Hütte zurück. Schwer atmend hängte sie ihren Kindern ein großes Fell um die Schultern: »Jetzt seid ihr ganz nass, wenn ihr nur nicht krank werdet und der Fieberwurm in eure Bäuche kriecht!« Sie versuchte das Feuer in Gang zu bekommen, doch der Sturm fuhr auch ins Feuerloch und blies die Flammen aus. Röskva wrang sich das triefende Haar aus und Thjalfi schüttelte die Wassertropfen aus dem Gesicht.

    Zu dritt schlüpften sie nun unter die warme Decke zu der kleinen Thurid, die trotz des ohrenbetäubenden Krachens friedlich schlief. Im Traum lutschte sie an einem blank geleckten Markknochen. Die Kinder kuschelten sich an die Mutter.

    »Donar treibt es heute aber besonders wild!«

    »Ja, es sind die Frühjahrsstürme, ich will hoffen, dass der Fluss nicht bis ins Dorf kommt«, sorgte sich diese. »Wenn Vater und die Männer nur wieder da wären!«

    »Aber Mutter, ich bin doch auch schon fast ein Mann, ich kann das Haus und die Tiere beschützen!«, ereiferte sich Thjalfi und seine Schwester nickte wichtig. Und sie hatten ja auch recht, war doch Thjalfi bei eben so einem Sturm schon vor dreizehn Lenzen zur Welt gekommen und würde noch in diesem Jahr, wenn die Sommeräpfel reifen, seine Mannesweihe erhalten. Nein, die Mutter sorgte sich wirklich umsonst, wo sie doch so große und starke Kinder hatte.

    An Schlaf war allerdings nicht mehr zu denken, denn es schien, als ob das Gewitter noch an Kraft zunähme. Die Kinder baten ihre Mutter um eine Geschichte.

    »Jedes Jahr, wenn der Schnee taut, blasen die wilden Jäger zur Jagd. Sie springen auf ihre Pferde und kommen aus den Bergen herab, sie durchstreifen die Wälder und jagen auch durch die Dörfer in den Flussauen.

    Donar, der Donnergott, führt sie an und auch Wodan ist mit seinem achtbeinigen Pferd dabei. Viele Gespenster, Geister und Wesen schließen sich den Göttern an. Hört ihr, wie sie heulen und jaulen?

    Man sagt gar, auch die Ahnen, unsere verstorbenen Großeltern und deren Eltern, würden herbeieilen, um mit den wilden Jägern gemeinsam den Winter zu verjagen und dem Land die Fruchtbarkeit zurückzugeben. Die wilde Jagd treibt den Winter aus, auf dass der Frühling nun endlich kommen kann. Sie jagt die Schneewolken davon und der eisige Nordwind nimmt Reißaus.

    Alle Tiere, aber auch die Feen und Elfen fürchten die wilde Jagd jedoch, denn sie ist unbändig stark und nicht zu zügeln. Sie fegt durch das Land, reißt Bäume um und stürzt Felsbrocken herab.

    Es ist eine schwere Arbeit, den Winter zu vertreiben. Der Lärm und die Wucht des Sturmes lässt das kleine Volk und die Tiere erschrecken. Sie erwachen aus ihrem Winterschlaf und verstecken sich in den Bäumen und Graskuhlen. Selbst die Nixen und Wassermänner tauchen tief auf den Grund des Flusses hinab, um nicht von den wilden Jägern gesehen zu werden. Denn die Jäger um Donar treiben viel Schabernack und leicht kann es sein, dass ein unvorsichtiger Elf unter die trabenden Hufe der Pferde gerät oder von den knallenden Peitschen der Gespenster getroffen wird.

    Auch wir Menschen sollten lieber in den Häusern bleiben. Schon manchen unvorsichtigen Wanderer hat der Anblick der wilden Jäger so erschreckt, dass er den Verstand verlor oder vor Angst in den Fluss sprang.

    Aber dennoch brauchen wir die wilde Jagd, denn sie führt den Lenz herbei und treibt den Winter aus dem Land. Doch wir fürchten sie auch in ihrer Gewalt und Kraft. Deshalb opfern wir den Jägern um Donar Ähren und Obst in den Frühlingsnächten.«

    Die Mutter unterbrach, denn durch das Toben des Windes hörten sie nun ein Quieken und Schreien, als ob sich alle Gespenster um ihr Haus tummeln würden. Im Stallraum meckerten die Ziegen nervös und der Hund kroch ängstlich unter die grob gezimmerte Bank.

    Röskva verzog sich noch mehr unter ihre Decke. »Die wilden Jäger, sie sind ins Dorf gekommen …« Sogar Thurid erwachte und begann zu weinen und Thruhild nahm ihre Kleinste in den Arm. Angespannt lauschten sie alle.

    Höchst beunruhigende Geräusche klangen von außen zu ihnen herein.

    Da sprang Thjalfi aus dem Bett und lief zur Tür. »Bleib doch hier!«, rief die Mutter, doch der Junge wollte wissen, wer da draußen so entsetzlich schrie, dass einem das Blut in den Adern stehen blieb.

    Er riss die Tür auf und stemmte sich gegen den Wind. Im Licht eines Blitzes sah er einen Moment lang das nächtliche, vom Sturm gepeitschte Dorf vor sich liegen. Als es gleich darauf donnerte, als hätte Donars Hammer nun in einen besonders großen Felsen eingeschlagen, rannte er in die Nacht hinaus.

    Gegen die Böen ankämpfend, lief er bergab in die Richtung, aus der das schrille Quieken kam, nämlich aus der Richtung des Flusses. Als er über die Flechtzäune des Gemüsegartens sprang, sah er im gleißenden Strahl eines erneuten Blitzes, was geschehen war.

    Eine Wand des Schweinekobens hatte der Sturm umgedrückt und die Tiere waren, schreiend und voller Angst, eingeklemmt unter den behauenen Balken. Sie grunzten und quiekten um Hilfe. Obwohl er sich kaum auf den Beinen halten konnte, atmete er erleichtert auf. Da war kein Gespensterheer, welches schrie und heulte, nur die Schweine waren in Not.

    Aber es galt nicht lange zu zaudern, denn seine Füße standen bereits bis zu den Knöcheln im Wasser. Das hieß, dass der große Fluss Alba sein Bett verlassen hatte und die Wiesen und die zu dieser Zeit noch brachen Felder des Dorfes überflutete. Auch in die Koppeln und Ställe der Tiere strömte er hinein.

    Die Schweine und Ziegen waren der ganze Reichtum der Menschen aus Thjalfis Dorf. Wenn ihnen etwas zustieß, drohte allen Hunger und Not. Thjalfi wollte zurück zu den Hütten laufen, wollte die Frauen holen, doch das Schreien der Schweine hielt ihn zurück. Es war keine Zeit zu verlieren.

    Bis zu den Knien stand er nun im Wasser und klammerte sich an den zerborstenen Holzbalken des zerstörten Stalls fest. Hörte denn kein anderer, was hier geschehen war?

    Thjalfi zerrte und schob und löste schließlich einen Querholm aus der Umgrenzung des Kobens, der die Tür versperrte. Er ächzte vor Anstrengung und zog die umgestürzten Bretter und Leisten zur Seite. Endlich hatte er in der Dunkelheit das Tor freigelegt. Schnell wickelte er den Lederriemen ab und öffnete das Gatter. Die Säue rannten laut grunzend zur Tür hinaus. Thjalfi sah sie hügelan die Wiesen hinauf flüchten, dorthin, wo noch kein Wasser stand.

    Doch wo war der große Eber? Dieser bewohnte innerhalb des Stalls einen extra Verschlag, da er so wild war, dass er sonst die Säue zu Schanden trieb. Im ganzen Dorf gab es nur diesen einen Eber, der der Vater aller Ferkel und von besonders mächtiger Statur war. Er war ungestüm und gefährlich. Wenn er zu den Säuen gebracht wurde, mussten ihn zwei Männer an Stricken halten, so stark war er. Alle Kinder und auch Thjalfi fürchteten ihn ein wenig und vermieden es, in seine Nähe zu kommen, denn aus seinem Maul schauten zwei ellenlange, kräftige Hauer.

    Schon einmal hatte einer der Männer, der nicht recht Acht gegeben hatte beim Austrieb, diese Hauer zu spüren bekommen und musste wochenlang mit verbundenem Bein das Bett hüten. Der Eber war das stärkste Tier, welches bei den Menschen lebte, er war wertvoll, aber gefährlich.

    Thjalfi hörte ihn schreien und zischen; ja, das mächtige Tier war unter der umgestürzten Wand und konnte nicht fliehen. Wenn der Eber in den ansteigenden Fluten starb, konnten im Dorf keine neuen Ferkel geboren werden.

    Was war zu tun? Wenn Thjalfi sich dem Tier näherte, das blindwütig vor Angst und Schmerz unter den Stallbalken tobte, konnte es leicht geschehen, dass ihn das Tier verletzte.

    Guter Rat war teuer und das Wasser stieg. Der Junge musste handeln.

    Immer wieder erhellten Blitze den Stall, das Unwetter wütete unvermindert. Thjalfi watete an die Stelle, wo er das Schwein unter den Balken rumoren hörte und zerrte an dem größten der Hölzer. Er riss einige kleinere Leisten heraus, doch er kam an den Eber nicht heran. Dafür fuhren auf einmal, nahe bei ihm, die Stoßzähne des Ebers durch den Bretterhaufen. Schnell erweiterte Thjalfi das Loch, der Kopf des Tieres erschien. Der Junge sah die kleinen roten Augen und das geöffnete Maul. Wenn das Tier ihn nur nicht angreifen würde, so verschreckt wie es war! Jedes Kind im Dorf wusste, dass selbst das zahmste Tier in der Angst die Menschen angreifen konnte, sei es ein Hund oder selbst ein Hahn.

    Der Eber aber war nun wirklich das wildeste und stärkste Geschöpf von allen.

    Der Wind zerrte an Thjalfis Haaren und riss ihn am Ohr. Der Junge hörte das Gebälk des Stalls im Wind und den steigenden Wasserfluten knarren. Es klang ihm, als kicherten die Gespenster der wilden Jagd in den Hölzern des Daches. Er hob den Kopf und hatte eine Idee.

    An der Seitenwand verlief ein Balken, wenn er da hinauf klettern würde, konnte ihn der Eber nicht erreichen. Von der Seite kletterte der Junge nun auf die umgestürzte Wand, erklomm den vorstehenden Balken. Dann hebelte er von oben ein weiteres Brett heraus. Wenn er Glück hatte, würde das starke Tier ihn nicht sehen und davon rennen.

    Der Eber richtete sich auf, keuchte und grunzte und spürte, dass er frei war.

    Mit einem Satz sprang er hervor und raste im Schweinsgalopp zur Tür hinaus.

    Es war geschafft. Zwar würden die Frauen morgen in den Wäldern die Schweine suchen müssen, zwar würden sie bei Tageslicht, wenn das Wetter ruhiger wäre, mit Seilen den Eber fangen müssen, aber die Tiere würden nicht ertrinken.

    Das Dorf würde von Hunger und Not verschont bleiben.

    Wieder riss ihn der Wind an den Haaren und es kicherte an seinem Ohr.

    Verblüfft sah er sich um.

    Als es wiederum blitzte, sah er noch weiter oben im Gebälk eine kleine Figur, krumm und verwachsen, mit strubbeligem braunem Haar, welches eine rote Kappe bedeckte, mit einer Rübennase mitten im Gesicht.

    Dieser Jemand kicherte und tänzelte hin und her:

    »Fein gemacht, junger Mann! Fein gemacht! Du hast der wilden Jagd getrotzt. Mutig, sehr mutig bist du.« Thjalfi traute seinen Augen kaum.

    »Bist du ein Kobold?« fragte er.

    Der verwachsene Kleine deutete eine komische Verbeugung an, fiel dabei fast hinunter und kicherte erneut. »Withelin, mein Name ist Withelin. Ich bin der Kobold des Dorfes! Hast du noch nie von mir gehört?« klang es aus der Dunkelheit.

    »Doch, das habe ich schon, aber Egila sagt, du zeigst dich uns Menschen nicht. Nur wenn ein Mensch in großer Gefahr ist, würdest du manchmal erscheinen.«

    Der Kobold sprang hinunter zu Thjalfi und sagte trocken:

    »Du bist in großer Gefahr!«

    Nun erst nahm der Junge das Brausen und Gluckern des Wassers wahr und ahnte, dass die Flut so hoch gestiegen war, dass er selber, anders als die Schweine, den rettenden Hang nicht mehr erreichen konnte. Er hörte, wie die Wände des Stalls knarrten. Er spürte, wie sie sich bewegten, als wollte der Fluss Alba nun den ganzen Stall einreißen und mit sich nehmen.

    Ein großer Schreck durchfuhr ihn. Zwar badeten die Menschen mitunter nahe des Ufers, doch schließlich waren sie keine Enten und konnten nicht schwimmen. Niemand, der je von den Fischerbooten in den Fluss gefallen war, war zurückgekehrt. Alle hatte der Wassermann zu sich in die kalten nassen Tiefen gezogen. Sie lebten nun bei den Nixen am Grund der Alba. Immer wieder waren die Kinder vor dem Wassermann in den Flusstiefen gewarnt worden.

    Thjalfi wurde ganz schwach vor Angst. Nun hatte er die Schweine und sogar den großen Eber gerettet, um selbst in den dunklen Fluten zu ertrinken und für immer und ewig am Grund bei dem grausigen Wassermann zu leben.

    Withelin zupfte ihn am Hosenbein und wisperte: »Wenn du weißt, dass ich nur erscheine, wenn jemand in großer Gefahr ist, dann bedeutet dies, dass ich gekommen bin, um dir beizustehen, so wie ich auch den anderen aus der Not geholfen habe.«

    Thjalfi schauderte, ja wie sollte denn dieser kleine Kerl ihm helfen?

    Ringsum tobte noch immer das Gewitter, die Fluten des Flusses rauschten und das Ufer war weit.

    Der Kobold griff unter seine rote Kappe und zog eine kleine Nussschale hervor. »Damit wirst du an Land kommen, mein mutiger Freund!«, sagte er, warf Thjalfi das Nüsschen zu, und war, hast du nicht gesehen, verschwunden.

    Der Junge sah zweifelnd die winzige harte Schale an. Kobolde scherzen gern, das hatte er schon immer gehört, aber das hier war ein gar zu schlechter Scherz. Musste dieser kleine Mann ihn noch in seiner Todesstunde verlachen! Niemals kann man in einer Nussschale über einen Fluss fahren, gleich gar nicht in diesem Wellen schlagenden Unwetter.

    Traurig und verzweifelt legte er die Schale auf den Balken, auf dem er nun schon so lange hockte. Das Wasser stieg und stieg, bald würde es seine Füße erreichen, wenn der Stall nicht schon vorher gänzlich zusammenbrach.

    Thjalfi dachte an seine Mutter, an seinen Vater Alvin und an Röskva und Thurid, seine Schwestern. Nie würde er sie wieder sehen. Und obwohl er wirklich ein mutiger Junge war, traten ihm die Tränen in die Augen. Nun bereute er, dass er so allein in die stürmische Nacht hinaus gelaufen war. Ach, hätte er doch nur die Schweine im Fluss gelassen, wäre er doch nur bei Thruhild unter der Decke geblieben in dem windgebeutelten, aber sicheren Haus! Nun war es zu spät!

    Die ersten Wellen schwappten bereits auf den Balken. Sie benetzten seine Füße und die kleine Nussschale. Als aber das Wasser die Nuss berührte, fing diese auf einmal an zu wachsen. Sie wurde größer und größer, war bald so groß wie eine Schüssel, dann größer, wie ein Zuber, und zuletzt so groß wie eine Wanne.

    Sie schaukelte auf den Wellen und rutschte vom Balken ins Wasser. Die Strömung trieb sie fort.

    »Halt!« schrie Thjalfi und er zögerte nicht. Mit einem weiten Satz sprang er gerade noch rechtzeitig in das Nussschifflein hinein.

    Schon hatte der Wind das Boot erfasst und mit sich gerissen. Hinter sich hörte der Knabe splitternd den Stall zusammenbrechen. Die Balken und Hölzer schossen kreuz und quer um sein kleines Schifflein in der schäumenden Flut.

    Thjalfi klammerte sich fest und sah, dass sein Boot ihn zum Ufer trug. Wie von Geisterhand gezogen kehrte sich die Nussschale gegen den Strom. Sie fuhr schaukelnd und schütternd dem Ufer zu, das jetzt zwischen den Apfelbäumen am überfluteten Hang lag.

    Dort stieß sie an und begann zu schrumpfen. Sogleich war sie nur so groß wie eine Wanne, dann wie ein Zuber, schließlich so klein wie eine Schüssel und plötzlich stand Thjalfi mit den Füßen im Wasser und die Nussschale war verschwunden.

    Gerade nun legte sich auch der Sturm und der Regen hörte auf. Hinter den Bergen schimmerte es rosa, denn dort ging die Sonne auf.

    Thjalfi hörte Stimmen, und da kamen sie gerannt, die Mutter und die Schwestern, die voller Angst ihn in der ersten Dämmerung suchen wollten. Auch die Nachbarn kamen heran, die Frauen und Kinder seines Dorfes.

    Röskva fiel ihm um den Hals und die Mutter schluchzte erleichtert:

    »Ich hatte solche Angst, dass du zu den Ställen läufst und dass dich der Wassermann holt. Nie wieder, versprich es mir, nie wieder gehst du in der Nacht der wilden Jagd ins Unwetter hinaus!«

    Nachbarin Gerfriede kam herangestürmt und stotternd vor Aufregung berichtete sie, die Schweineherde sei oben am Waldrand, alle Tiere seien da, keines sei ersoffen. Und als alle sagten, das könne nur durch einen Zauber geschehen sein, denn der Stall sei ja verschlossen gewesen und die Tiere hätten nicht heraus gekonnt, flüsterte Thjalfi »Danke, Withelin!«

    Denn die Wesen des kleinen Volkes mögen es nicht, wenn man von ihnen spricht.

    Mühselig war es, die zerstörten Ställe und Koppelzäune wieder zu reparieren.

    Die Frauen hatten den Kindern erklärt, dass so ein Frühlingshochwasser auch etwas Gutes hatte, denn auf den überfluteten Feldern blieb danach reichlich fruchtbarer Schlamm liegen, den der Fluss herangetragen hatte. So würden in diesem Jahr die Pflanzen besonders gut wachsen. Dennoch, die Zerstörung durch das Unwetter war erheblich.

    Bei Nachbarin Gerfriede musste fast das ganz Dach ersetzt werden, denn der Sturm hatte es mit sich gerissen. Die Hütte von Egila, der Heilerin, die zuunterst am Hang gestanden hatte, war ein einziger Schlammpfuhl. Die Kinder halfen der alten Frau, ihre hübsch verzierten Tontöpfe und Schüsseln, ihre Kräutersäcklein und ihre Pfannen abzuspülen.

    Auch das Haus von Thruhild war beschädigt. Bei jedem weiteren Regen, und es regnete noch immer oft, tropfte es durch die Dachstreben und nässte die Felle und Betten. Die Frauen und Kinder hatten alle Hände voll zu tun, denn die Väter waren noch immer nicht von ihrer Handelsfahrt zu den runden Hügel im Westen zurückgekehrt. Den ganzen Winter waren sie nun schon fort und Röskva spürte, wie ihre Mutter unruhig wurde. Nur die Greise, die uralten Männer, waren daheim geblieben. Die Weißbärte konnte man jedoch schlecht auf die Dächer schicken.

    So blieb die ganze Mannesarbeit an Thjalfi und seiner Mutter hängen, während Röskva allein die Hausarbeit erledigte. Sie molk die Ziegen, spann, wusch, machte Käse, kochte und musste zudem noch Thurid betreuen. Da blieb nicht viel Zeit zum Spielen und Herumstrolchen.

    Zwar mussten im Auendorf alle Kinder von kleinauf mitarbeiten und natürlich hatte Röskva auch im letzten Jahr der Mutter schon beim Weben, beim Töpfern und in den Gärten geholfen, aber nach diesem Unwetter und ohne den Vater war die Last der Frühjahrsarbeiten besonders groß. Da blieb keinem, weder Kind noch Erwachsenem, Zeit zur Erholung.

    Röskva trug ihre kleine Schwester durch den Wald. Sie sammelte die ersten grünen Spitzen des Bärlauchs, die hier und da schon aus der Erde schauten. Die letzten Tage hatte die Sonne mit großer Kraft geschienen und das Mädchen schaute, ob sie etwas frisches Grün finden könne. Auch wenn Röskva erst vor zwölf Jahren geboren war, so wusste sie doch, wie wichtig das erste Grün der Natur war. Gerade Lauch, so betonte Egila immer, würde verhindern, dass das Frühjahrsfieber über die Menschen kam.

    Fröhlich stieg sie den Berg hinauf und lauschte dem Gesang der Vögel. Endlich einmal konnte sie eine angenehmere Arbeit tun, als den Garten mit der schweren dunklen nassen Erde umzugraben oder zu kochen. Sie ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen und spürte Wärme durch ihr Kleid dringen.

    Ja, nun würde der Frühling kommen. Bald würden die Männer zurückkehren und alles würde wieder leichter und schöner werden. Sie sehnte sich nach dem Vater. Ohne seine spannenden Geschichten und fröhlichen Späße war ihr die dunkle Jahreszeit doppelt lang erschienen. Doch nun endlich war der harte Winter vorbei.

    Röskva schaute sich um. Noch war kein Blättchen an den Bäumen zu sehen. Die Vögel aber, die Meisen und Amseln bemerkten die lauere Luft und sangen den Frühling herbei. »Trii Trii Trii« zwitscherte der kleine Kohlmeisenmann und reckte sein sc hwarzes Köpfchen »Trii ich bin allhi!« sang er und lockte das Weibchen zu sich. Röskva setzte Thurid zwischen die kahlen Heidelbeersträucher und zeigte ihr die balzenden Vögel.

    Neben dem Lauch sah sie einige kleine Löwenzahnblätter. Gierig leckte sie sich die Lippen und steckte Thurid und sich je eins in den Mund. Köstliches frisches Grün, wie hatte sie es vermisst.

    Als sie sich aufrichtete und in die Sonne blinzelte, bemerkte sie etwas Großes auf dem Fluss. Sie beugte sich ein wenig vor und schaute auf die Flussbiegung. Was war denn da?

    Weit hinten, dort wo der Fluss Alba um den großen Berg, der keinen Gipfel mehr hat, floss, kam ein Schiff. Noch sah es recht klein aus, aber das Mädchen erkannte, dass es ein großes Schiff sein musste, welches langsam stromaufwärts kam. Solch ein großes Schiff besaßen die Menschen aus Röskvas Dorf nicht.

    Waren es Gäste? Waren es vielleicht Feinde? Wer konnte das wissen. Auf jeden Fall war die Ankunft eines Schiffes beunruhigend und die Bauern im Auendorf mussten es erfahren.

    Röskva nahm Thurid huckepack und rannte den Weg bergab zu ihrem Dorf. Sogar den Korb mit den Blättern ließ sie stehen, denn sie war sehr aufgeregt.

    Wenn es doch nur keine Feinde wären! Noch nie hatte sie erlebt, dass ein so großes fremdes Schiff hier bei ihnen die Alba hinaufgefahren kam.

    Die Stromschnellen und Wasserfälle am großen Berg erlaubten keine Schifffahrt.

    Das Mädchen erinnerte sich an die Geschichten der Alten, die im Winter an den Feuern erzählt wurden. Röskva wusste, dass hinter den Bergen und Felsen eine große Ebene begann, durch die ihr Fluss Alba dann floss, und dass nicht immer alle Menschen in der Ebene friedlich waren. In Jahren des Hungers überfielen die Fremden die Dörfer und plünderten, was sie erbeuten konnten.

    Einmal, ihre Mutter war noch ein junges Mädchen gewesen, waren Fremde auch tatsächlich bis in ihr Dorf gekommen und hatten geraubt und gebrandschatzt. Sie hatten die Häuser angezündet und die Tiere auf ihr Schiff getrieben und mit sich genommen. Auch hatten sie einige junge Mädchen entführt und niemand, so sagten es die Alten immer wieder, hatte je wieder etwas von ihnen gehört.

    Sie waren verschwunden, so wie auch die Fremden seitdem verschwunden geblieben waren.

    Röskva rannte jetzt und die kleine Schwester begann zu weinen. Endlich hatte sie die Flussaue erreicht und stürzte ins Dorf hinein. Ihre Mutter bestrich gerade das löchrige Dach mit Birkenpech und Nachbarin Gerfriede half ihr dabei.

    II

    DER ÜBERFALL

    »MUTTER, MUTTER, DA HINTEN VOM BERG OHNE GIPFEL kommt ein Schiff den Fluss herauf, ein großes Schiff!«

    Die Mutter richtete sich auf. »Was sagst du? Ein Schiff?«

    »Ja, ein Schiff, es muss von den Fremden sein!«

    Schnell eilten die Frauen zum Ufer hinab. Auch Egila humpelte herbei und der alte Sworthard. Tatsächlich, das Mädchen hatte die Wahrheit gesprochen. Schon konnte man den Steven des Schiffes sehen, der von einem mächtigen hölzernen Drachenkopf geziert wurde.

    »Sie rudern den Fluss hinauf!« rief Egila erschrocken und Sworthard sagte:

    »Das sind die Fremden aus der Ebene. Die Männer die vor Jahr und Tag unsere Mädchen und all unsere bewegliche Habe stahlen, hatten eben so ein Schiff. Schnell, schnell ihr Frauen und Kinder, versteckt euch in den Bergen! Schnell, flieht, denn diese Fremden kommen wohl kaum als Freunde!«

    Nun schrien alle durcheinander. Jeder versuchte zu fliehen und noch etwas aus den Hütten mitzunehmen. Thruhild wollte die Schweine freilassen, in der Hoffnung, die Tiere würden dann den Räubern nicht in die Hände fallen. Nachbarin Gerfriede griff nach ihrer besten Henne und schulterte einen Sack Getreide.

    »Thjalfi, Thjalfi!« schrie Röskva: »Wir müssen uns verstecken!« Sie wollte auf und davon.

    Doch Thjalfi stellte sich neben Sworthard und sagte: »Wir Männer müssen das Dorf verteidigen. Wenn die Räuber alles stehlen und niederbrennen, werden wir danach Hungers sterben. Wir müssen versuchen, sie abzuwehren, sonst ergeht es uns allen schlecht. Denn bis die Felder neue Früchte tragen, werden noch einige Monde vergehen.«

    Thruhild sah verzweifelt auf ihren Jungen. Zwar war er kein Kind mehr, aber dennoch war er nur ein junger Mann, ohne jede Erfahrung im Kampf. Sie sah ihn da stehen, mit trotzigen Augen und stolz gerecktem Kinn, bereit, sich wie ein Mann zu schlagen und, wenn die Götter wollten, das Dorf zu verteidigen. Andernfalls aber würde er zu Göttervater Wodan in die große Halle Walhalla eingehen, in der die Ahnen, die gefallenen Krieger, lebten.

    Neben ihm stand, mit krummem Buckel, zahnlos und weißbärtig, Sworthard und, ebenso alt und krank noch dazu, Hartvig der Kahle, der Älteste des Dorfes.

    Das waren nun die Männer, die die Häuser, Ställe und Vorratsgruben verteidigen wollten?

    Niemals würden diese drei, so mutig sie auch seien, die Räuber vertreiben können. Es lag auf der Hand, dass die Männer auf dem Schiff die Alten töten und den Jungen mit sich nehmen würden, um ihn für sich als Sklaven arbeiten zu lassen.

    Thruhild weinte. »Wir müssen das Dorf aufgeben, es nützt ja nichts! Ach, wenn doch Alvin und die anderen Männer schon wieder da wären, die könnten für unser Dorf kämpfen.«

    Doch Thjalfis und Röskvas Vater war mit den anderen Männer schon im letzten Herbst aufgebrochen, um dahin zu wandern, wo ihre Vorfahren vor einigen Generationen gelebt hatten. Dort bei den runden Bergen wohnten noch Verwandte, sagten die Alten. Diese gruben aus dem Berg Erz, aus dem sie Metall schmolzen. Daraus fertigten sie scharfe Messer und Pfeilspitzen, ja sogar Schwerter.

    Auch Thjalfis Vater Alvin war ein Schmied. Hier aber beim Auendorf gab es keine Erzsteine, die man aus dem Berg holen konnte, also gab es auch kein Eisen. Nun war es für ihn und für alle im Dorf notwendig geworden, Metall zu holen, um neue Werkzeuge, Dolche und Messer zu schmieden.

    Deshalb hatte er weiche, wertvolle Luchsfelle, kunstvolle gelbe Schüsseln und Trockenfische, die er gegen das Metall zu tauschen gedachte, eingepackt und war mit drei Gefährten davon gewandert. So hatten die Männer das Dorf, die Frauen, Kinder und Alten zurückgelassen. Nur zwei von Ihnen waren zum Schutz der Gemeinschaft an der Alba geblieben.

    Einer von ihnen jedoch war gleich, wenige Wochen nachdem die anderen Männer aufgebrochen waren, an einem entsetzlichen Fieber erkrankt und noch vor dem ersten Schnee gestorben. Der andere, Liutbold, hatte bei der Jagd einen Bären aufgestöbert, den er nicht überwältigen konnte. Der Bär hatte den Mann angegriffen und schließlich gefressen.

    Seitdem waren die Frauen und Kinder schutzlos in ihrem Dorf. Sie hofften, dass die Männer im Frühjahr zurückkämen und dass bis dahin keine Gefahr das Dorf bedrohte.

    Doch nun sahen sie das große Schiff den Strom hinauf kommen.

    Schon hörten sie das Klatschen der Ruder. Es war klar, das sie sich selber helfen mussten.

    Egila hatte sich ans Ufer des Flusses begeben, dorthin wo die Holzpfähle, an denen die Menschen den Göttern opferten, standen. Die Pfähle waren verziert und beschnitzt. An der Spitze waren Gesichter in das Holz gearbeitet und auf dem Stamm befand sich ein Muster aus Zeichen und Strichen, den Runenbuchstaben. Egilas Vater hatte, als er die Götterpfähle gestaltet hatte, alle guten Wünsche, Frieden, Fruchtbarkeit, Gesundheit und Wohlstand mit Runen in die Pfähle geschrieben. Immer wenn im Auendorf ein Fest gefeiert wurde, schmückte Egila die Götterpfähle mit bunten Bändern und schrieb neue Wünsche dazu.

    Nun ging sie um den einen Pfahl herum. Sie malte mit etwas gelbem Lehm einige Zeichen auf den Stamm, gerade da, wo das Gesicht hineingeschnitzt war. Die Runen leuchteten hell auf dem dunklen Holz direkt über den Augen der Göttin. Egila legte noch einige Winteräpfel vor den Pfahl und sang leise.

    Weinend beobachteten die Frauen und Kinder, was sie tat.

    Die Zauberin befragte Wodan und Frea und auch Donar, den Donnergott, mit Hilfe der Runen, was zu tun sei. Ob denn die Götter einen Rat wussten?

    Schon konnte man von dem näher kommenden Schiff die Ruder erkennen. Es würde nicht mehr lange dauern und die Fremden hätten das Dorf erreicht.

    Endlich kam Egila zu den Wartenden zurück. »Nein, Flucht ist nicht der richtige Weg. Wenn wir unser Dorf, unsere Häuser und Ställe erhalten wollen, müssen wir gemeinsam die Räuber verjagen. Ich habe Frea, die Mutter der Götter gefragt und sie sagte mir, wenn es im Dorf nicht genug Männer zum Kämpfen gäbe, dann sollten eben die Frauen die Männer sein!«

    »Wie meint sie das? Wie meint Göttermutter Frea das? Wir Frauen können doch nicht wie Männer sein?« weinte Nachbarin Gerfriede und zeigte verzweifelt auf ihren Rock und ihre langen Zöpfe.

    Da hatte Röskva eine Idee. Flink öffnete sie ihr geflochtenes Haar, nahm die blonden Strähnen und hielt sie vor ihr Gesicht und ans Kinn. »Wenn wir uns die langen Haare ans Kinn binden, dann sehen wir aus wie langbärtige Männer. Schnell Mutter, zieh einen Kittel von Vater an, dann siehst du aus wie ein Mann!«

    Zaudernd hielt Thruhild ebenfalls ihre Zöpfe ans Kinn und auch Nachbarin Gerfriede machte aus ihren Locken einen mächtigen wallenden Bart. Mit einem Lederbändchen schnürte sie das Haar vor dem Gesicht zusammen. Tatsache, nun sah sie aus wie ihr Mann Runald, der einen ebenso lockigen braunen Bart hatte.

    Eine tolle Idee!

    »Danke Frea, du hast uns geraten!«, riefen sie und alle rannten in die Hütten.

    Die Frauen kramten Beinlinge und Kittel hervor und warfen die Röcke ab. Röskva sprang in ein Hemd von Thjalfi, das ihr zwar zu lang war, aber dennoch sah sie nun wie ein kleiner Mann mit blondem langen Bart aus. Egila wurde zu einem Weißbart, mit dem sich kaum der alte Sworthard messen konnte. So rannten die Frauen und Kinder wieder ans Ufer.

    »Aber wir haben keine Waffen!« rief Thruhild, doch Egila verteilte schon lange Stöcke, einige Messer und auch zwei Speere und eine Axt. Nachbarin Gerfriede brachte den alten Bogen ihres Mannes herbei und Thjalfi hatte sich seines Vaters Dolch gegriffen.

    Die Frauen und Kinder versteckten sich hinter dem Schweinestall.

    Thjalfi und die beiden Weißbärte jedoch standen direkt am Ufer.

    Die Alten hatten einen genialen Plan gefasst, denn waren sie auch schwach auf den Beinen und vermochten kaum noch die Streitaxt zu heben, so war doch ihr Rat immer hoch geachtet. Ihre Erfahrung und ihre Weisheit waren ebenso lebenswichtig für die Menschen im Auendorf wie die Kraft der Männer, die Fürsorge der Frauen oder die Phantasie der Kinder.

    Dieser Plan sollte nun bewirken, dass die Fremden, seien sie denn wirklich, wie befürchtet, Räuber, gar nicht erst an Land kämen.

    Hartvig schaute die Frauen und Kinder an und sagte: » Auf solch einem Schiff sind vielleicht zehn Männer, kaum mehr, vielleicht aber weniger. Wir können hoffen, dass die Fremden nicht alle ihre Krieger auf Beutezug geschickt haben. Wenn diese nun herangerudert kommen und nur Sworthard, Thjalfi und mich sehen, so glauben sie, wir seinen eine kleine Hut, die ein gerade verlassenes Dorf beschützt; so wie es ja auch ist. Aber das wissen sie schließlich nicht.

    Sie werden ihr Beiboot ins Wasser lassen und werden ohne große Bewaffnung an Land kommen, denn uns zwei alte Krauter können sie ja, das bilden sie sich ein, mit einer Schöpfkelle erschlagen. Thjalfi allein stellt auch keine große Gefahr dar. Sie werden sicher zu faul sein, fest zu ankern. Hoffen wir, dass sie nur drei oder vier Männer ans Ufer schicken, um uns zu überwältigen und zu schauen, ob es im Dorf etwas zu stehlen gibt.

    Wir drei werden uns natürlich aufführen, als ob wir wüssten, dass uns Wodan nun nach Walhalla holt und wir dennoch heldenhaft kämpfen wollen. Todesmutig und tollkühn werden wir sein, so dass gar keiner der Fremden erst auf die Idee kommt, wir hätten noch einen ganzen schrecklichen Haufen mutiger Kämpfer hinter dem Schweinestall lauern. Sworthard kicherte zufrieden und klopfte Egila auf die Schulter.

    »Wenn aber die drei oder vier Männer an Land waten und noch bis an die Büx im Wasser stehen, werden wir auf sie zulaufen und ihr werdet«, er nickte lachend den Frauen und Kindern zu, »hinter dem Stall hervorgestürmt kommen und ein so lautes und vor allem tiefes Gebrüll hören lassen, dass ihnen die Morgensuppe in die Hose geht. Schwenkt die Waffen und brüllt, was das Zeug hält. Wir müssen sie so erschrecken, dass sie flüchten, denn«, und wieder schaute der Alte den Frauen und Kindern der Reihe nach in die Augen, »wir dürfen es nicht auf einen Kampf ankommen lassen. Einen wirklichen Kampf könnten wir kaum gewinnen, schon weil wir nicht genügend Schwerter haben.«

    »Aber warum sollten sich die Männer der Fremden vor uns erschrecken?«, fragte Gerfriede ängstlich. »Nun«, schmunzelte Hartvig, »weil ihr so viele seid, so viele Männer.«

    Röskva drehte sich im Kreis. Da standen die Nachbarinnen in Hemden und Beinlingen, die Freundinnen und Freunde, die Kinder des Dorfes; alles in allem deutlich über zwanzig Menschen. Auch wenn Röskva, trotz ihrer Angst, kichern musste über die braunen, blonden und roten Bärte in den Gesichtern der Mütter und Kinder, so sah sie doch, dass sie aus der Ferne betrachtet ein erschreckend großer Haufen waren, mit dem sich zu schlagen einiges an Mut gehörte.

    »Ach, wenn es doch gut ginge!« barmte Nachbarin Gerfriede, »Ach, wenn der Plan nur gelänge!« Denn wenn die Fremden ihre List durchschauten oder genug Männer waren, um einen Kampf zu wagen, dann waren sie allesamt verloren.

    Egila drängte nun die Menge hinter den Stall, denn das Schiff kam näher und näher. Alle lauschten atemlos dem Klatschen der Ruder und spähten aus, wie viele Mann das Schiff wohl hätte.

    Bald war es mit dem Auendorf gleichauf und es geschah, wie die Alten es vermutet hatten. Auf den Planken des Schiffes standen Männer, große und starke zwar, doch es schienen nicht allzu viele zu sein. Sie riefen sich erfreut etwas zu und zeigten auf das verlassen wirkende Dorf.

    Als sie Thjalfi und die beiden Großväter entdeckten, die am Ufer in Kriegsgeschrei ausgebrochen waren und mit ihren Schwertern und dem Dolch drohend in die Luft hieben, begannen sie zu lachen.

    Sie hielten in der Mitte des Flusses. Eilig ließen sie ihr kleines Beiboot zu Wasser. Zwei Männer und ein noch bartloser Knabe mit feuerrotem Haar sprangen hinein. Der Knabe ruderte dem Ufer zu und die Männer begannen, die Alten zu verspotten. Sie lachten, bis ihnen die Tränen über beide Backen liefen, schlugen sich auf die Schenkel und ahmten die Hiebe mit den Schwertern nach.

    Dann stieß das Boot auf Grund und sie begannen, es ans Ufer zu schieben. Immer noch lachend und höhnend, des Sieges gewiss.

    »Jetzt!« flüsterte Egila.

    Wie die wilde Jagd stürmten die Frauen und Kinder hinter dem Stall hervor und schrien so laut und so tief sie konnten. Ihre Zopfbärte flatterten im Wind, ihre Speere und Messer wirbelten durch die Luft. Röskva hatte einige Steine aufgesammelt und warf sie in Richtung der Eindringlinge und Thruhild fuchtelte mit einer Heugabel.

    Thjalfi hatte dem hinkenden Hartvig das Schwert entrissen und rannte ins Wasser. »Withelin hilf!« flüsterte er und dann schrie er wieder aus Leibeskräften.

    Nachbarin Gerfriede aber schoss den ersten Pfeil ab und traf, zu ihrer eigenen Verwunderung, den größten der fremden Männer mitten in die Brust. Der nächste Pfeil blieb in den Planken des Bötleins stecken.

    Schreiend erreichten die Frauen und Kinder das Ufer. Einen Pfeil nach dem anderen schickte Gerfriede zu den Angreifern. Sie prasselten ins Wasser und bohrten sich ins Holz des Schiffes.

    Der getroffene Fremde war im Fluss zusammengesackt.

    Röskva glaubte schon, der Wassermann würde ihn in die Tiefe ziehen, aber sein Spießgeselle zerrte ihn hoch und stieß ihn ins Beiboot zurück. Mit vor Schreck geweiteten Augen sprang auch dieser hinein und ruderte so schnell er konnte zum Schiff zurück. »Lichtet den Anker, lichtet den Anker!« brüllte er, »es sind Langbärte, ganz viele Langbärte!« und er kletterte, den Verletzten über die Schulter geworfen, die Strickleiter hinauf, während ein anderer den Anker nach oben holte.

    Die Frauen und Mädchen, die Alten und Thjalfi stürzten mit den Füßen im Wasser nun dem Schiff nach, das steuerlos begann den Fluss hinab zu treiben.

    »An die Ruder! Schnell, es sind Langbärte!« und schon drehte sich das Schiff im Strom. Eilig nahm es Fahrt auf, floh den Fluss hinab, dahin, woher es gekommen war.

    Röskva schaute zur Seite und sah, wie der fremde Knabe im Wasser lag und mit etwas kämpfte, was braun und rot, verwachsen und krumm an seinem Fuß hing. Der Junge lag halb im Fluss und schluckte Wasser, er schrie und spuckte und bekam doch den Wicht, der ihm so zusetzte, weder zu fassen, noch konnte er seinen Fuß befreien.

    Nun hatten auch die anderen den zurückgebliebenen Jungen entdeckt. Thjalfi sprang herbei und setzte das Schwert auf seine Brust. »Wir haben einen Gefangenen!« rief er. Der Kobold Withelin aber verschwand vor seinen Augen, als die Erwachsenen heran kamen.

    Hartvig nahm Thjalfi das Schwert aus der Hand. »Es ist ja noch ein Knabe, lass ihn«, sagte er und Egila half dem fremden Jungen auf die Beine.

    Dieser schluchzte und keuchte. »Ihr Zauberer, ihr bösen Zauberer!«

    Als er sah, dass sich die Frauen und Mädchen die Bärte aus dem Gesicht banden und er sich, von zwei Weißköpfen einmal abgesehen, in der Gewalt von Frauen und Kindern befand, setzte er einen stolzen Blick auf und spuckte verächtlich aus.

    Doch sein Schiff war bereits weit ab, war ohne ihn den Fluss hinuntergeeilt. Seine Gefährten hatten ihn zurückgelassen und so wurde er ans Ufer geführt.

    Egila reichte ihm einen trockenen Kittel: »Von wo kommst du?« Doch der Junge spuckte ihr nur vor die Füße. »Bist du die böse Zauberin? Es waren doch so viele langbärtige Männer und jetzt sind hier nur noch Weiber und Kinder? Und wo ist dieses unheimliche, starke Wesen, das mich gehalten hat? Niemals hättet ihr mich gefangen, wenn dieses Wesen mich nicht unter Wasser gezogen hätte. Spuk ist das alles, Spuk und Hexerei.« Er schimpfte und höhnte. »Mit Zauberei zu kämpfen, wie feige! Wo sind denn eure vielen Männer jetzt? Sind sie ertrunken?«

    Egila lächelte ihn an. » Beruhige dich. Hier sind keine Männer, das waren wir.«

    Sie hielt sich kurz ihre weißen Haare ans Kinn. »Und ein starkes Wesen, welches dich unter Wasser ziehen will, gibt es wohl auch nicht. Es waren sicher nur einige kräftige Binsen, die dich gehalten haben.«

    Als der Junge den Zopfbart an der alten Frau Kinn sah, senkte er beschämt den Kopf. Da hatten sich die Männer seines Schiffes, die mutigen Krieger seines Volkes, also von einer Frauenlist in die Flucht schlagen lassen.

    Thjalfi aber wusste, dass sein Freund, der Kobold Withelin, wieder einmal erschienen war und ihnen in der Not geholfen hatte. Es schien, als ob er, Thjalfi, ihn nun, da er ihn einmal gesehen hatte, tatsächlich rufen konnte.

    Sworthard legte dem gefangenen Jungen eine Fessel um die Füße und alle zogen, froh über den glücklichen Ausgang der Schlacht, zu den Häusern hinauf.

    Als Röskva für alle die Abendsuppe gekocht hatte, wurde unter der dicken Eiche das große Feuer entzündet. Sie hockte sich zu Thjalfi zwischen die singenden Frauen. Flüsternd erzählte die Schwester dem Bruder, dass sie gesehen hatte, wie ein buckliges, rübennasiges Männlein den fremden Jungen festgehalten hatte.

    »Ich glaube, es war der Wassermann, der ihn in die Tiefe ziehen wollte! Stell dir vor, so nah am Ufer, wie leicht hätte er auch uns ergreifen und in sein Reich holen können.«

    Thjalfi beugte sich zu ihr. »Du darfst es keinem erzählen, aber ich habe ihn auch gesehen, er verschwand erst, als ich das Schwert auf die Brust des Gefangenen setzte. Es ist der Wassermann nicht gewesen; ein Kobold war's. Er heißt Withelin.«

    »Ein Kobold?«, staunte das Mädchen. »Woher weißt du das? Und wieso kennst du seinen Namen?«

    »Da du ihn nun auch gesehen hast, kann ich es dir erzählen«, antwortete Thjalfi. »Erinnerst du dich an die Nacht, in der die wilden Jäger aus den Bergen mit dem furchtbaren Gewitter kamen und der Fluss Alba über die Ufer trat?« Als Röskva nickte, erzählte er ihr, wie er aus dem Haus gelaufen und die Schweine gerettet hatte. Er berichtete, wie er verzweifelt auf dem wasserumtosten Balken gestanden und geglaubt hatte, sein letztes Stündlein hätte geschlagen. Röskva hörte atemlos zu. Und so berichtete er, wie in allerhöchster Not der kleine Kobold erschienen und ihm ein Nussbötlein gegeben hatte und wie er sich darin im letzten Augenblick vor dem Ertrinken retten konnte. »Daher kenne ich den Kobold und damals sagte er seinen Namen. Als wir heute auf die Räuber zurannten, rief ich leise: »Withelin! Wir sind in Gefahr!« Und es scheint, er hat mich gehört und kam, um mit uns zu kämpfen.«

    Röskva staunte. Einen richtigen Kobold gesehen zu haben, dessen konnten sich nicht viele rühmen.

    »Aber du darfst es keinem erzählen!«, raunte Thjalfi ihr ins Ohr. »Weißt du nicht mehr, was die alte Egila immer gesagt hat, wenn sie von den Wesen des kleinen Volkes erzählte? Diese, egal ob Kobold, Alf oder Nixe, mögen es nicht, wenn man mit ihnen prahlt. Behalte es für dich, dann wirst auch du ihn jetzt rufen können. Aber tue es nur in der Not und nicht im Spaß, sonst könnte er dir gram werden und seine derben Späße mit dir treiben.«

    Röskva seufzte: »Es ist ja gut, dass er uns geholfen hat, aber weißt du, mir tut der Junge leid. Sworthard hat ihn in seinen Schuppen gesperrt und er sitzt da nun ganz allein. Sicher hat er Angst und Hunger. Bestimmt friert er auch, denn er hat ja kein Feuer.« Der Bruder schaute sie streng an: »Aber Röskva, er ist ein Feind, er wollte unser Dorf plündern. Du darfst mit ihm kein Mitleid haben. Hätten die Fremden gesiegt, wärest vielleicht du mitgenommen und versklavt worden, so wie vor Jahren die jungen Mädchen, die Freundinnen unserer Mutter!«

    Doch Röskva seufzte wieder: »Aber er ist doch noch nicht ganz ein Mann, vielleicht ist er erst so alt wie wir. Sicherlich war es sein erster Raubzug. Es ist ungerecht, dass gerade er und nicht einer der erwachsen Männer gefangengenommen wurde. Wenn ich in Gefangenschaft wäre, wünschte ich auch, dass mir jemand etwas zu essen bringt und mit mir spricht.«

    Entschlossen stand sie auf, griff sich ihr Fell, den Wasserbecher und ein Stück Fladen und ging vom Feuer weg auf die Hütte des alten Sworthard zu.

    Thjalfi schüttelte den Kopf. Wie weichherzig diese Mädchen doch waren!

    Doch nach kurzer Zeit erhob er sich ebenfalls, nahm einen brennenden Kienspan aus dem Feuer und ging seiner Schwester nach.

    Am Schuppen holte er sie ein. Leise öffneten sie die Tür. »Hab keine Angst!« rief Röksva: »Wir bringen dir nur etwas zu essen und ein warmes Fell.« Aus der Ecke hörten sie es verächtlich schnauben.

    Röskva hockte sich neben den Jungen. »Hier ist Brot und etwas Wasser!«

    Gierig griff der Fremde danach und aß und trank, bis der Fladen alle und der Becher leer war. Dann nahm er das Fell und setzte sich darauf.

    »Wie heißt du?« wollte Röskva nun wissen.

    »Ich bin Kuno, Sohn des großen Stammesfürsten Frodi.« antwortete der Junge stolz. »Wer ist denn der Häuptling von eurem Lager? Denn da ihr nur Frauen und Kinder seid, muss es wohl einer der zahnlosen Alten sein?« Herausfordernd schaute er Thjalfi in die Augen, fast als hoffe er, sich nun endlich schlagen zu können und nicht von einem kleinen Wasserwesen zu Fall gebracht zu werden. Die Schmach, ohne einen Schwerthieb getan zu haben, nun in Fesseln zu liegen, schmerzte sehr. Aber Röskva legte ihm, als sehe sie seinen verachtenden Blick nicht, ihren Umhang über die Schultern, denn sie sah, dass er Mühe hatte, das Zittern zu unterdrücken.

    »Was genau ist ein Stammesfürst denn?«, fragte sie. »Unser Vater ist der Schmied hier in der Gegend. Alle Menschen aus den Flussdörfern und auch die Bergbauern kommen zu uns und geben für Vaters Messer und Pflugschare, seine Schwerter und Äxte, Nahrung, Gefäße oder Kleidung. Aber was ein Stammesfürst herstellt, das weiß ich nicht.«

    Kuno legte den Kopf schief: »Nun sagt bloß, ihr hier in den Bergen habt keine Stammesführer? Mein Vater ist der reichste Mann in unserer Gegend. Zu unserem Hof kommen viele, die mit meinem Vater kämpfen wollen, wenn Feinde in unser Land einfallen, aber auch viele, die ihre eigenen Höfe verloren haben und nun Hunger leiden. Mein Vater gibt ihnen Arbeit und versorgt sie. Die Krieger bekommen Brünnen und Schwerter, die landlosen Bauern zu essen und zu

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