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Der Prinz unter dem Meer: Epische und bittersüße Unterwasser-Romantasy
Der Prinz unter dem Meer: Epische und bittersüße Unterwasser-Romantasy
Der Prinz unter dem Meer: Epische und bittersüße Unterwasser-Romantasy
eBook367 Seiten5 Stunden

Der Prinz unter dem Meer: Epische und bittersüße Unterwasser-Romantasy

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Über dieses E-Book

Das Märchen von Kaiphas und Simonea ist eine Geschichte über Liebe, die Bedeutung einer Familie und wahre Freundschaft, gesetzt vor dem Hintergrund einer atemberaubenden Unterwasserwelt.
Als Simonea, die Thronerbin des Farnreiches, den geheimnisvollen und dunklen Kaiphas trifft, entfaltet sich die gesamte Wucht der Vorhersehung: Die verbotene Liebschaft wird entdeckt, der Feuerprinz unter das Meer verbannt. Dort folgt ihm bald ein düsteres Wispern. Was wird mit den beiden Liebenden geschehen? Was hat es mit der Seehexe auf sich und was hat der Älteste der Unterseeleute, der ehrwürdige Afantarius, zu verbergen?

Ein Unterwassermärchen für junge Erwachsene ab 16 Jahren.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Jan. 2021
ISBN9783347166783
Der Prinz unter dem Meer: Epische und bittersüße Unterwasser-Romantasy

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    Buchvorschau

    Der Prinz unter dem Meer - Karin S. Heigl

    Das Märchen beginnt

    Hier beginnt das Märchen von Kaiphas und Simonea, die Geschichte einer unsterblichen Liebe.

    Es war einmal eine Seegöttin, jung und schön wie die Welt in alten Tagen, weise wie das weite Meer. Sie hieß Sianda und sie ließ sich treiben durch Strömungen und Tange, schwamm mit Fischen und Walen, und sie war mächtig, oh so mächtig. Sie behütete die Tiere und Pflanzen der See, sie schützte Fischersleute und Menschen an den Küsten vor Untiefen und Seegewittern. Tag um Tag, Jahr um Jahr, viele Jahrhunderte und Jahrtausende, und niemals wurde sie müde, niemals alt. Sie saß oft auf Klippen und Steinen und sang mit den Sternen. Eines Tages sah sie einen jungen Burschen in seinem Boot, sein Haar schimmerte so seiden im Mondlicht, seine Augen so klar. Sie verliebte sich unsterblich in ihn.

    Sianda folgte ihm viele Tage bei seinen Fischzügen. Eines Tages sprach sie ihn an. Von diesem Tage ab waren sie unzertrennlich, verbrachten jeden Tag zusammen, jede Nacht. Der junge Fischersmann aber wusste um ihren magischen Kuss, den sie nur einmal geben konnte. Er schenkte endloses Leben.

    Und schließlich, eines Nachts, gelang es ihm. Sie schenkte ihm das Kostbarste, was sie besaß: Den magischen Kuss, der ihr die Unsterblichkeit nehmen und ihm geben würde. Sie liebte ihn so sehr, dass er niemals sterben sollte, gleich, was das für sie bedeutete. Im Augenblick, als sie ihn küsste, wusste sie, es war ein Fehler. Jedoch, es war zu spät.

    Der Jüngling nahm sich das ewige Leben und ließ sie zurück, gebrochen, sterblich, ohne die Macht des unendlichen Lebens. Ihre Magie aber war ungebrochen. Sie lag viele Nächte am Strand, sie lag auf den Klippen vor den Küsten der Welt, und die Fische und Wale, alle Schildkröten und Wesen des Meeres besuchten sie. Sie umspielten und streichelten sie, sangen ihr zauberhafte Gesänge vor, indes sie blieb untröstlich. Sie weinte so viele Tränen ins Meer, dass die Seewesen sich keinen Rat mehr wussten, liebten sie sie doch so sehr und wollten ihr helfen, aber sie ertrugen ihren Schmerz nicht mehr und wandten sich ab. Sianda weinte noch viele Tränen, bis der Meeresspiegel stieg, die Wellen zunahmen und die Welt untersee in Ungleichgewicht geriet. Dann wandelte sie sich, die schöne Göttin; in den vielen Nächten alleine im Schmerz. Sie wurde dunkler und tiefer, ihr Herz schwerer und schwärzer, und schließlich, eines Nachts schloss sie die Augen, öffnete sie wieder und ward Sianda, die schrecklichste Kraft, die die Seewelt je gesehen.

    Von da ab, war sie doch ihrer Unsterblichkeit beraubt, begann sie, Fischersleute und Seemänner zu rauben. Sie lockte sie in die Tiefen der See, betörte sie mit ihren schwarzen Gesängen, und behielt ihre Seelen, von denen sie zehrte und lebte, viele Jahrhunderte lang. Auch Frauen nahm sie, aber sie bevorzugte junge, kräftige Männer.

    Eines Tages kam ein ganz besonderer zu ihr. Sie spürte, er war stark, stärker als die anderen und sie wusste, er hatte ein besonderes Schicksal zu erfüllen. In der Zwischenzeit hatten die Menschen von oben auch die Tiefe See besiedelt und er war einer von ihnen, hatte aber noch die Welt droben erlebt. Ein Sohn zweier Welten war er, Markutius der Herrschersohn. Starke Lebenskraft floss in seinen Adern. Ihn musste sie haben. Sie zog ihn zu sich in ihrer dunklen, rätselhaften Macht, sie betörte ihn, brachte ihn dazu, sich ihr zu ergeben. Nehmen wollte sie ihn nicht, sollte seine außergewöhnliche Lebenskraft ihr lange dienlich sein, sich mit ihrer verweben. Einsam war sie nämlich geworden in den Jahrhunderten; in all seiner Schwärze hatte ihr Herz nicht die schönen Nächte vergessen, die Liebe, die es genossen, vor so langer Zeit.

    Und zusammen, sein Herz nun so schwarz wie ihres, zogen sie in den Krieg, Sianda und Markutius. In den Krieg gegen alles Leben, das sich ihr nicht fügen wollte. Sie hatte vergessen, wie es gewesen war, eine lebenspendende Göttin zu sein. Sie wollten Land und Wasser einen und als dunkles, entsetzliches Siegespaar darüber herrschen und sich Seelen nehmen, wie sie wollten. Längst schon war der junge Herrscher ihr verfallen, längst schon hing sie an seiner Lebenskraft. Sie waren schön und schrecklich und alles Leben floh vor ihnen.

    Außer einem. Einer, der noch mächtiger als ihr Auserwählter, einer, der Sianda beinahe ebenbürtig war.

    Er kam und er kam mit vielen Heerscharen, der mächtige Kriegsherr aus der Oberwelt. Und er und seine Krieger fochten mit den Wesen, die Sianda unterjocht: Aus den tiefsten Tiefen des Meeres hatte sie Leben gehoben, Leben, das ungestört bleiben wollte. Ihr Heer war schrecklich und der Mantadon, ein gewaltiges Raubtier der Tiefe, nicht Wurm, nicht Fisch, nicht Drache, führte sie an.

    Der feindliche Kriegsherr lenkte Sianda mit einer List ab, und focht in einem entsetzlichen Zweikampf mit dem Markutius – jenem, den Sianda betört, jenem, der an ihrer Seite herrschte.

    Am Ende erschlug er ihn. Und als er starb, verließ den Markutius die böse Macht der Seehexe, der größten Knechterin des Lebens, seit die Welt erstand.

    Mit Markutius starb auch der Kampfeswille der Seehexe und sie ward verbannt in eine ferne Höhle; aber als dies geschah, stieß sie einen schrecklichen Fluch aus:

    Das Feuer der Meerleute sollte sterben, der Lebensfunke, den sie von oben gebracht. Niemals wieder sollten sie Kinder bekommen, zu keiner Zeit, in der sie, Sianda die Schreckliche, lebte.

    Dann schwand sie in die Höhle, zufrieden in dem Wissen, dass sie die Unterseeleute zum Sterben verurteilt hatte.

    Was sie allerdings nicht wusste: Es gab noch einen Funken, eben jenen Lebensfunken, den die Unterseeleute so dringend brauchten. Irgendwo in der Welt droben …

    Ein Fremder im Schatten

    Die Nacht spiegelte sich in den schimmernden, weißen Mondblüten. Simonea glitt zwischen ihnen hindurch, fühlte, wie sie in die Mondstrahlen hineintrat und aus ihnen heraus; sie strichen über ihre Haut, kühl und schön. Simonea liebte es, durch den nachtdunklen Wald zu streifen, den Tau auf ihren Armen zu spüren, die Gräser unter ihren Sohlen. Sie fühlte sich lebendig. Das Seidenkleid umspielte ihre Waden und die Sterne sangen ihr stummes, ewiges Lied, als Simonea über Blüten, Moose und Farne tanzte, zwischen Birkenstämmen und satten Tannen hindurchschlüpfte.

    Da sah sie eine Bewegung im Schatten.

    Simonea hielt inne, blickte um sich und glitt unter einen Farn. Sein Dunkelgrün hüllte sie ein wie Samt. Zwischen seinen Wedeln lugte sie hervor und zuckte zurück. Zwei große, tiefe Augen, dort vorne auf der Lichtung!

    Das Licht des Mondes glänzte in ihnen, sie waren dunkelblau.

    Ihr Herz setzte einmal aus. So etwas hatte sie noch nie gesehen! In ihrem Reich hatten alle grüne Augen, dunkelgrün, farngrün, moosgrün, hellgrün, braungrün, algengrün, oder eine Mischung aus allem. Aber diese Augen dort … sie waren so fremd, so gefährlich, so …

    Sie lockten sie.

    Sie musste sehen, was dort war. Sie schob sich wieder aus dem schützenden Schatten vorwärts, langsam, langsam, und äugte hinaus. Sie wusste, sie war gut getarnt, ihre Augen und Haare verschmolzen mit dem Wedel, mit dem Wald und den Gräsern, so war es immer gewesen. Aber die fremden Augen fanden sie und sahen sie an. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie wagte nicht zu blinzeln: Am Rande der Lichtung stand ein schlanker Mann! Simoneas Herz pumpte jetzt wildes Leben durch ihre Adern, in ihren Ohren rauschte es, irgendwo in ihr regte sich lustvolle Furcht. Wer war der Fremde? War er gefährlich? Seine dunklen, blauen Augen … Kam er aus dem Meer? Er schien schlank wie einer vom Tintenfischvolk, grausame Krieger und Seeräuber waren sie, das wusste jeder. Ihr war klar, sie sollte sich zurückziehen, aber ihre Neugier war zu stark. Er sah sie so schamlos an, dass ihr Körper zu prickeln begann.

    Sie lehnte sich weiter vor, während ihr Geist alte Warnungen raunte: Sprich nicht mit fremden Männern …

    Die Worte ihres Vaters hallten in ihr nach, zu oft hatte sie sie gehört, zu tief waren sie in ihrer Erinnerung verankert. Aber das waren Worte im Wind, keine echte Fürsorge; er beschäftigte sich lieber mit seinen Abgesandten, Beratern, Schriftrollen als mit ihr, seiner Tochter aus Fleisch und Blut, seinem einzigen Kind! König Meronius hatte sicher wichtige Dinge zu tun, er war stark und angesehen. Seit vielen Jahren herrschte er über das Farnland, und sogar die schrecklichen Tintenfischleute hatten ihm Gefolgschaft geschworen. Die Feuerleute hatte er zwar noch nicht erreichen können, denn die Feindschaft saß tief. Aber auch das war eine Frage der Zeit.

    Simonea besann sich und suchte nach den Augen, irgendetwas in ihr sehnte sich danach, in dem fremden Blick zu baden. Sie fand sie wieder, aber in dem Augenblick schlüpften sie davon. Sie erschrak und hielt die Luft an, schmolz wieder in die Schatten und suchte nach Geräuschen in der Nacht: Kam er zu ihr herüber? Wo war er? Ihr Herz raste. Ihr Vater hatte Recht gehabt. Sie war einfältig, allein durch den Wald zu schleichen.

    Rasch sank sie unter dem Farnwedel weg, schlüpfte zwischen den Birkenstämmen durch, tanzte lautlos durch die hohen Gräser und fort war sie, fort, fort, zurück nach Hause! Schnell!

    Das Herz schlug Simonea bis zum Hals, sie lauschte nach hinten und nach allen Seiten, während sie lief; aber sie hörte keinen fremden Schritt, keine feindlichen Sohlen, die über ihr Gras schritten. Simonea schlich durch die letzten Nebel und vor ihr wuchs die Mauer empor. Sie atmete aus. Die Burg.

    Sie glitt durch Büsche und Gräser und kam am Loch in der Mauer an. Niemand kannte den schmalen Spalt zwischen den Steinen, den sie als Kind schon entdeckt hatte. Glücklicherweise war sie zierlich geblieben und konnte noch immer, wenn sie die Luft anhielt, hindurchschlüpfen. Oft stahl sie sich nachts hinaus in ihren Wald; das Farnvolk kam von dort, er war ihre Urheimat. Und Simonea, die Prinzessin und Thronerbin des Farnreiches, schien er besonders stark zu rufen, als mächtige Eingebung, der man sich schwer entziehen konnte. Er war ihr Herz, ihr Leben. Sie musste hinaus. Der Wald, er war unermesslich alt. Er barg Geheimnisse. Aber er war innerhalb der Grenzen des Reiches, und diese Grenzen wurden streng bewacht, was sollte also geschehen? Dennoch war dieser Fremde in ihrem Wald! Sie fühlte sich immer noch beobachtet. Mit zittrigen Gliedern wandte sie sich um, musterte Waldrand und Gräser, fühlte aber nichts als die Nacht und das ewige Atmen des Waldes.

    Niemand folgte ihr und die Anspannung verblasste in feine Enttäuschung, die in den Fingerspitzen pochte. Sie blickte zum Himmel: Noch schlief der Morgen weit in der Ferne, noch sangen die Sterne, aber sie begannen, schwächer zu werden. Simonea seufzte. Der Tag würde anstrengend werden. Sitzungen über Sitzungen, zeremonielle Mahlzeiten mit den Gesandten … Die Prinzessin schüttelte den Gedanken ab. Hinein. Vielleicht konnte sie noch ein paar Stunden Schlaf erhaschen, bevor Parenia sie weckte. Insgeheim hoffte sie, den geheimnisvollen Fremden wieder zu sehen; aber kaum wagte sie es zu denken, es war mehr ein untergründiges Gefühl, das aus ihrer Magengrube aufstieg.

    Simonea zog den Bauch ein, hielt die Luft an und schob sich Stück für Stück durch den Spalt. Als sie die andere Seite erreichte, kam der vertraute leichte Schwindel. Sie atmete ein und wartete, bis er nachließ. Dann spähte vorsichtig aus dem Mauerspalt heraus.

    Niemand da. Entfernt nahm sie die Wache auf dem Mauergang wahr, aber diese schritt gerade in die entgegengesetzte Richtung. Warum ihr Vater die Liebe zum Wald nicht teilte, verstand Simonea bis heute nicht. Schon ihre Mutter hatte den Wald verehrt. Die sanften Nebel, die zarten Mondblumen, die Rehe, die auf der Lichtung ästen, die Schwäne im See … Wie konnte man diesen Ruf nicht erhören? Einmal hatte Simonea gar eine weiße Wildstute gesehen; die dunklen Augen, ihre geschmeidigen Glieder und Muskeln, die unter der Haut spielten, ein Einhorn? Seit langer Zeit hatte man keines der Zauberwesen mehr gesichtet. Es hatte ausgesehen, als sei die Stute das Mondlicht herabgelaufen, aber zu schnell war sie wieder verschwunden, um sicher zu sein.

    Simonea glitt aus dem Spalt wie ein Schatten, holte Luft und huschte über den Innenhof. Sie fühlte hinter sich die schwere, alte Mauer, den Steinboden unter ihren Sohlen. So anders als der Wald, dachte sie, so hart und kalt, nicht weich wie die Moose, schmeichelnd wie der Nachttau. Und die dunkelblauen Augen … Sie hatten gelbe Sprenkel gehabt, jedenfalls hatte es so ausgesehen. Es hatte geschimmert in diesen Sprenkeln, als schiene eine Nachtsonne in den Augen wie tiefe Wasser. So völlig anders als das, was sie kannte.

    Sie schüttelte den Kopf. Zurück in die Gemächer! Wahrscheinlich wartete ihr Vater längst auf sie. Wahrscheinlich waren die Diener bestraft worden, dabei konnten sie gar nichts dafür. Niemand konnte Simonea hören, wenn sie es nicht wollte; von Kindesbeinen an hatte sie sich auf Samtfüßen hinausgeschlichen. Sie hatte sich schlafend gestellt und ihre alte Zofe konnte nicht die ganze Nacht am Bett der Prinzessin ausharren. Außerdem war Simonea gleich nach dem Vater die Herrscherin in der Burg. Sie seufzte. Warum hatte sie nicht als einfaches Mädchen geboren werden können, ohne Erwartungen, ohne all die Vorgaben und Rituale, die ihr Rang forderte? Zudem, ihr Vater: Er sah sie nie wirklich an, schien in Gedanken zu versinken, wenn sie mit ihm sprach und das machte sie wütend. Ihre Mutter war vor langer Zeit verstorben, außer Parenia hatte Simonea niemanden, der ihr nahe war. Sie fühlte sich geborgener bei den Rehen und Schwänen als in der Burg, und die Mondblumen trösteten sie mehr als jeder Höfling, der ja doch nur an ihr als Thronerbin interessiert war. Ja, der Wald war ihre eigentliche Heimat. Der Drang war in den letzten Tagen so stark geworden, dass sie nun jede Nacht hinausschlich. Sicher würde ihr Vater sie bald einsperren oder verheiraten. Bis das geschah, würde Simonea jeden Herzschlag auskosten.

    Sie erreichte den Garten, hielt an einem Busch an und lauschte, aber sie hatte Glück, die Wache war nicht da. Simonea überquerte rasch die Wiese, fühlte die Bäume und das Gras um sich herum; und vor sich sah sie schon den Efeu, die innere Burg und ihr Fenster. Weit dahinter den Turm, ein dunkler Schatten vor dem Nachthimmel.

    Dann war Simonea da und hielt kurz inne. Das war fast zu einfach gewesen. War die Innenhofwache gerade auf einem anderen Rundgang? Simonea sah sich um und blickte nach oben. Der alte Efeu schlang sich hinauf bis zu ihrem Fenster.

    Licht fiel heraus. Simonea hielt sich im Schatten der satten Rankpflanze und lauschte. Sie hörte Stimmen. Sie hörte Parenia, ihre Zofe. Sie hörte ihren Vater, und irgendetwas an seiner Stimme kam ihr seltsam vor.

    Simonea schämte sich plötzlich. Warum fügte sie ihrem Vater solche Sorgen zu? Was hatte er getan, dass sie immer davonlief und so schlecht über ihn dachte? Die Stimmen entfernten sich vom Fenster. Gerade noch fing sie einen Wortfetzen von Parenia auf; unterdrückte Empörung schwang mit: Was tat er so spät nachts im Frauentrakt? Er hatte selbst als König dort nichts zu suchen und hatte nie in ihrem Zimmer auf Simonea gewartet, sondern immer im Ritterzimmer. Sie schluckte. Er musste sich ernsthaft Sorgen machen. Simonea wurde kalt.

    Sie musste hinauf, sofort.

    Simonea griff die holzigen Ranken, die Zehen des linken Fußes fanden den kleinen knotigen Vorsprung. Sie atmete ein, stieß sich mit dem Ausatmen ab, zog sich hoch und erklomm so Fuß für Fuß, Hand für Hand, die gesamte stattliche Rankpflanze innerhalb weniger Herzschläge. Wie oft war sie hier hinaufgeklettert. Kurz unter dem Fenster hielt sie inne und sog die Luft ein. Vom Efeu ging ein tiefer, dunkler Duft aus, ganz so als wollte die Pflanze sie wieder hinausrufen. Simonea schloss die Augen und lauschte. Tief unter sich wusste sie den Nachtwald wie ein eigenes Wesen, das sie lockte. Sie wusste, dass irgendwo dort Einhörner lebten. Wenn sie sie doch sehen könnte, einmal nur! Der Ruf war so stark, dass er beinahe schmerzte.

    Sie schüttelte den Kopf. Nein.

    Der Nachtwind lüpfte ihr Seidenkleid, strich über Arme und Beine, fast, als wollte er sie zum Weiterklettern ermuntern. Sie überwand die letzten Ranken, zog sich am Fenstersims hoch und spähte in die Dunkelheit. Da bemerkte sie es: Die Lichter waren gelöscht, alles war ruhig. Warum?

    Sie schlüpfte durch das Fenster hinein, sprang vom Sims, landete auf allen Vieren wie eine Nachtkatze und sah sich um. Stille. Niemand da. Ihr Gemach war geräumig wie immer, kühl und dunkel. Durch die großzügigen Fenster fiel Mondlicht herein. Dort vorne ihr Bett, es war ausschweifend groß, die Decken gemacht, die Kissen aufgeschüttelt, die Laken straff gezogen. Parenia? Vater? Eben waren sie doch dagewesen. Hatte sie, Simonea, so lange im Efeu gehangen und ihre Gedanken schweifen lassen?

    Sie sog die Luft ein. Unter der Tür drang ein Lichtspalt und gedämpfte Stimmen herein. Simonea seufzte. Da waren sie, aber warum waren sie auf dem Gang?

    Sie erhob sich, glättete ihr Nachtgewand, zog einen Samtüberwurf darüber, strich ihr Haar glatt, zupfte zwei Blätter heraus, zog einen Grashalm zwischen den Zehen und einen Zweig hinter den Ohren hervor, zog Fußbekleidung über, straffte die Schultern, schritt zur Eichentür und legte die Hände an das schwere Holz.

    „… in den Wäldern gesichtet …"

    „…Späher …"

    Späher … Sie hielt inne, ihr Herz pochte. Sie fröstelte und zog den Überwurf enger um sich. Späher. Hatte sie vorhin einen von ihnen gesehen? Ihr wurde fast schlecht. War sie so nah an der Gefahr gewesen? Hatte ihr Vater am Ende recht mit seiner Sorge?

    Sie legte die Hände zurück an die Türflügel und drückte sie auf.

    Große Augen. Verstummende Stimmen.

    Die beiden jungen Wächter an ihrer Tür sahen sie an wie eine Erscheinung, aber Simonea war selbst überrascht: Ihr Vater war doch nicht hier? Wo war er? Und warum machten die beiden solch große Augen? Maran und Zafarian kannten ihre Prinzessin; kürzlich hatten sie ihre alten Leibwachen Nurian und Aran ersetzt, die Simonea seit ihrer Kindheit gekannt hatte.

    Simonea sah im Geiste an sich herab. Nein … Nein, sie hatte alles geordnet. Aber dennoch; im weißen Nachtgewand, nur mit Überwurf, Knöchel und Hals nackt, das Haar offen, mitten in der Nacht aus dem Schlafgemach kommend …

    Sie haben Angst, wurde ihr klar. Brüste, Bauch und Schenkel mussten sich klar unter der feinen Seide abzeichnen. Sie waren im Frauentrakt. Was hatte der Vater ihnen angedroht, oder bereits ausgeführt?

    Genau das fragte sie. Die jungen Wächter senkten sofort den Blick und neigten das Haupt vor ihr, einer hellhaarig, der andere dunkel. Auch ihre Haarschöpfe hatten den weichen Grünschimmer aller Farnleute. Innerlich seufzte Simonea. Auch deswegen liebte sie ihre nächtlichen Ausflüge in den Wald so sehr; sie musste dort niemanden zufriedenstellen, musste sich nicht verstecken und jede Regung genau planen. Nur sie alleine mit den Gräsern, den Birken, den Nachtfaltern, dem Tau und den Mondblumen. Sie fühlte, dass sie lächelte.

    Antwort aber kam keine. Als nächstes fing sie einen scheuen Blick vom dunkelhaarigen Zafarian links von ihr auf. Sie lächelte ihm zu, er schlug sofort die Augen nieder. Aber ihre schöne Farbe hatte sie noch erhascht; sie waren von einem so dunklen Grün, dass sie fast blau wirkten. Simoneas Herz tat einen Sprung.

    Wärme rauschte durch ihre Adern und wurde zu Hitze zwischen ihren Beinen. Simonea spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. Schnell schritt sie weiter, von den Wachen fort. Sie spürte ihre Brüste zittern, und es war nicht von den Schritten, die sie tat. Dunkelblaue Augen … Feuer in ihnen, Feuersprenkel … Feuerhände auf ihren Schenkeln …

    Sie schüttelte den Kopf und bedeutete den Wächtern, ihr zu folgen. Sie musste zu ihrem Vater, sonst würde es noch schlimmer werden. Ihre Abwesenheit war ohnehin entdeckt worden. Rasch ging Simonea durch die Gänge, die beiden immer dicht hinter ihr. Sie fühlte die männlichen Schritte, roch den Duft nach Mann und Abenteuer, und ihr wurde ganz schwindelig. Sie beschleunigte ihre Schritte.

    Schließlich kam Simonea an der schweren Eichentür an, Vaters kräftige Königswachen rechts und links. Sie blickte zu ihnen hoch und sie erschienen ihr noch grimmiger als sonst. Simonea schluckte. Bestimmt kam das von der späten Stunde und die Männer waren einfach müde. Aber Simonea konnte nicht verhindern, dass ihr Blick über die Schilde fuhr, über die großen und kleinen Klingen, die Arm- und Beinschoner und die Helme der Königsgarde. Ihre Umhänge waren aus der edlen, dunkelgrünen Wolle, die alle Leibwächter trugen. Simonea merkte, dass sie die Hände knetete und erhob sie gebieterisch, um ihre Unsicherheit zu verbergen. Sie zitterten.

    „Mein Vater, befahl sie. „Öffnet die Tür. Sie musste mit ihm sprechen, auch wenn er sie wohl bestrafen würde. In ihrer Magengrube war eine große Unruhe.

    Die beiden Königswachen wechselten einen Blick und sahen zu den Leibwächtern hinter Simonea. Diese standen jetzt so dicht hinter ihr, dass Simonea ihren Duft genauer wahrnahm. Nach Leder rochen sie, nach Metall und Waffenöl. Aber darunter war ihr Eigengeruch. Simonea blähte die Nasenflügel und sog leise die Luft ein: Der eine Leibwächter duftete nach Sommerwiese, der andere nach Harz und Tanne. Ihre Kopfhaut prickelte auf angenehme, verstörende Weise, und ihr Blick verschwamm in einem Tagtraum. Ihre neuen Wachen würden ihre Handschuhe abnehmen, stellte Simonea sich vor, besonders Zafarian mit den dunkelgrünen Augen … Er würde den Samtüberwurf über die Schultern abstreifen … Seine Fingerspitzen berühren ihren Nacken, ein Schauer rinnt über das Rückgrat … Er nimmt ihr Haar und streicht es nach vorne … Er fährt langsam über ihren Rücken hinab, seine Hände rau und kräftig … Sein Atem streift über ihren Nacken … Sein Bart kitzelt sie, als er sich zu ihr hinabbeugt …

    Die Türen gingen auf und ihr Vater stand darin, unheilvoll vom Fackellicht umrahmt, die grünen Haare schwarz gegen den Lichtkranz. Seine Augen dunkel. Simoneas Träumerei fiel sofort in sich zusammen: Das Gesicht ihres Vaters sah in die Ferne und wirkte fahler als sonst.

    Späher … Simonea lief ein Schauer über den Rücken und ihr Herzschlag beschleunigte sich.

    „Vater", sagte sie. Sie deutete eine Kopfneigung an und hielt den Blick auf ihn geheftet; sie konnte keine Regung verpassen! Die Hände hatte sie vor dem Körper ineinander gelegt, denn niemand durfte ihr Zittern sehen.

    Der König richtete den Blick langsam auf sie. Seine Augen schimmerten. Hatte er geweint …? Nein, das war undenkbar, das durfte sie nicht denken. Er bewegte sich nicht. Ihr Blick glitt über sein Gesicht, hielt sich aber nicht an den Augen fest, sondern wanderte zu einem Punkt hinter ihr. Was sollte sie jetzt tun? Sie hatte erwartet, gescholten zu werden, aber diese Stille verstörte sie. Sie atmete ein und aus. Immer noch regte er sich nicht. Es war an ihr.

    Simonea straffte sich und wollte den Wachen bedeuten, sie zu verlassen; sie musste unbedingt alleine mit ihrem Vater sprechen. Jeden Tag war Simonea von einem Treffen zum anderen gerauscht. In letzter Zeit war viel Kommen und Gehen in der Burg und ihr Vater stets beschäftigt gewesen. Seit vielen Wochen hatte sie nicht mehr richtig mit ihm gesprochen.

    Sie sah über die Schulter zurück, und dabei dem jungen Zafarian mitten ins Gesicht! Sie zuckte zurück, er stand viel zu dicht! Der Wächter sprang einen halben Schritt zurück, verneigte sich hastig und senkte den Blick. Simonea fühlte Bedauern, denn jetzt konnte sie seine schönen dunkelgrünen Augen nicht mehr sehen. Außerdem prickelte Simoneas Kopfhaut wieder, aber war es wirklich seine Nähe oder nur das Gefühl der Macht über ihn?

    Sie meinte, Maran mit den hellen Haaren leise kichern zu hören. Sie wandte sich ihm zu, woraufhin er die Lippen zu einem schmalen Strich verzog und die Schultern straffte. Sie nickte ihren beiden jungen Wachen zu, und sie bezogen mit einem Rascheln der Wollumhänge ihren Posten rechts und links des Ganges, um auf ihre Prinzessin zu warten.

    Simonea zog den Samtüberwurf fester um sich, ging an den beiden kräftigen Königswachen vorüber und nahm Vaters Hände. Er sah auf sie herab. Es war kein freundlicher Blick. Aber wenigstens bewegte er sich jetzt.

    „Vater", wiederholte sie und küsste seine Hände.

    Er löste sich von ihr, wandte sich ab und winkte ihr über die Schulter zu.

    Sie spürte wieder den Ärger in sich aufsteigen, aber sie folgte ihm wortlos hinein. Er war der König. Sie blickte rasch zurück und sah gerade noch, wie ihre beiden Leibwachen einen Blick tauschten. Sie wirkten ernst. Was hatte das zu bedeuten?

    Simonea atmete tief ein und wandte sich um.

    Der Hohesessel. Ihr Vater saß schon auf seinem Hohesessel. Warum saß er in seinem Hohesessel? Dies waren seine Königsgemächer und es war Nacht. Hatte er die ganze Zeit auf sie gewartet?

    Er hatte die Augen geschlossen und rieb sich die Nasenwurzel. Simonea blieb stehen, einige Schritt von ihm entfernt.

    „Tochter", sagte er.

    Simonea fröstelte beim Klang seiner Stimme. Tochter. Das hatte sie schon lange nicht mehr gehört, zuletzt wohl, als ihre Mutter gestorben war. Ihr Herz wurde schwer. Was kam jetzt? Wurde sie eingesperrt? Kam Krieg? Wurde sie verheiratet?

    „Tochter", wiederholte er. Jetzt war Simonea sicher. Kein Zufall.

    „Setz dich", befahl er und wies auf den kleineren Sessel neben sich. Mutters Sessel?

    Simonea gehorchte, setzte sich, und strich ihr Gewand glatt. Ihr Herz zitterte.

    „Du weißt", begann er, und sagte dann nichts mehr. Simonea sagte auch nichts. Sie sah ihren Vater an. Er sah in die Ferne. Seine Hand ruhte jetzt auf der Lehne des Hohesessels. Sie war sehr groß und kräftig und Simonea konnte sich gut vorstellen, wie diese Hand früher den Ancronius, das von den Ahnen auf sie gekommene Schwert, geführt hatte. Ob wohl Blut an seinen Händen klebte? Eigentlich wusste Simonea nichts über ihren Vater, über seine Vergangenheit, über die Zeit vor ihrer Geburt. Wie lange waren die Kriege mit den Feuerleuten her? Sie straffte die Schultern. Ihr Vater neigte ihr leicht den Kopf zu, sah sie aber immer noch nicht an. Er holte Luft.

    „Du weißt, die Feuerleute sind unsere Feinde von alters her, sprach er schließlich weiter. Er seufzte und schien eine Entscheidung zu treffen. Dann sprach er weiter: „Ich will dir nichts vormachen. Ihre Späher wurden kürzlich in unseren Wäldern gesehen.

    Er sah sie jetzt unvermittelt an. Er wirkte schwer.

    „Simonea, ich weiß, dass du des nachts sehr häufig dort draußen bist. Ich weiß, dass du ein Einhorn gesichtet hast."

    Simonea horchte auf. Die Stute war tatsächlich eine Einhornstute gewesen? Sie musste sie wiedersehen. Und warum war das für ihren Vater so wesentlich?

    „Ich weiß, warum es dich dort hinauszieht. Er seufzte wieder. „Deine Mutter. Er holte Luft. „Sie war auch dort draußen. Ich … habe sie dort getroffen."

    Dort getroffen? Was hatte er dort gemacht? Und was hatte ihre Mutter dort gemacht?

    „Nur deshalb habe ich dich dorthin ziehen lassen. Ich weiß, wie stark der Ruf ist. Ich habe dir immer Wachen nachgeschickt …"

    Wachen? Nachgeschickt? Warum hatte sie sie niemals bemerkt? Ihr schwante etwas. Wer war der Fremde vorhin im Wald gewesen, doch nicht etwa diese Wache? Aber sie hatte ihn nie zuvor gesehen; wenn er ein Wächter gewesen wäre, so hätte sie ihn doch schon einmal in der Burg gesehen … Ihr Kopf begann zu schwimmen.

    „… aber diese Nacht war etwas anders, drängte sich die Stimme des Vaters in ihre Gedanken. „Diese Nacht war jemand Fremdes im Wald. Ich habe immer die besten Späher ausgesandt, die geschicktesten und leisesten. Jemand Fremdes war dort, sagte er mit Bestimmtheit.

    Simonea wurde sofort heiß. Dunkelblaue Augen, goldene Sprenkel.

    Sie merkte, dass er zu sprechen aufgehört hatte und sah auf. Sie fing seinen Blick auf und senkte sofort die Augen

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