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Vom Verachtetwerden oder Drei Guineen
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eBook230 Seiten3 Stunden

Vom Verachtetwerden oder Drei Guineen

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Über dieses E-Book

Immer wieder hat sich Virginia Woolf mit der Frauenfrage befasst. Am berühmtesten ist wohl ihr hellsichtiger Essay Ein Zimmer für sich allein (1929). In Vom Verachtetwerden, zehn Jahre später erschienen, ist Woolfs Ton weniger ironisch, ihre Haltung unnachgiebiger. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fragt sie sich, wie Frauen einen Krieg verhindern sollen, wenn sie ausgeschlossen sind von Aufgaben in Öffentlichkeit und Politik, und übt damit grundsätzliche Kritik am Patriarchat. Auf eindrückliche Weise verbindet Woolf hier schon früh das Private mit dem Politischen, den Aufstieg der Faschisten mit grundsätzlichen gesellschaftlichen Macht- und Denkstrukturen: Die Wurzel des Faschismus liege in der Vorherrschaft des Mannes in sämtlichen Lebensbereichen. Aber Woolf kritisiert nicht nur, sondern entwirft auch ein utopisches Gesellschaftmodell, eine Welt, in der Frauen Familie und Erwerbstätigkeit verbinden, sich in Ausbildung und Beruf frei entfalten, wirtschaftliche Unabhängigkeit und intellektuelle Freiheit erreichen: So könnten Frauen für dieselbe Sache arbeiten und kämpfen wie Männer, auf Augenhöhe mit ihnen. Woolfs noch heute hochaktueller Essay macht deutlich, dass Terror, Unrecht, Autoritarismus nur dann wirklich aus der Welt zu schaffen sind, wenn sie auch im »Kleinen« erkannt und bekämpft werden.
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum23. Sept. 2021
ISBN9783311702955
Vom Verachtetwerden oder Drei Guineen
Autor

Virginia Woolf

VIRGINIA WOOLF (1882–1941) was one of the major literary figures of the twentieth century. An admired literary critic, she authored many essays, letters, journals, and short stories in addition to her groundbreaking novels, including Mrs. Dalloway, To The Lighthouse, and Orlando.

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    Buchvorschau

    Vom Verachtetwerden oder Drei Guineen - Virginia Woolf

    Eins

    Drei Jahre sind eine lange Zeit, einen Brief unbeantwortet zu lassen, und Ihr Brief ist sogar noch länger ohne Antwort geblieben. Ich hatte gehofft, er würde sich von selbst beantworten oder andere würden es an meiner Stelle tun. Aber da liegt er mit seiner noch immer unbeantworteten Frage vor mir: Wie lässt sich Ihrer Meinung nach ein Krieg verhindern?

    Es ist wahr; viele Antworten haben sich aufgedrängt, aber keine ist darunter, die nicht einer Erklärung bedürfte, und Erklärungen brauchen Zeit. Und selbst dann gibt es Gründe, warum es so besonders schwierig ist, Missverständnisse zu vermeiden. Eine ganze Seite ließe sich mit Ausreden und Entschuldigungen füllen; mit Bekundungen der Untauglichkeit, der Inkompetenz, eines Mangels an Wissen und Erfahrung; und sie wären wahr. Und nachdem sie ausgesprochen worden wären, würden immer noch einige so fundamentale Schwierigkeiten bleiben, dass sich ein Verstehen Ihrerseits oder eine Erklärung unsererseits als unmöglich erweisen könnte. Aber einen so bemerkenswerten Brief wie den Ihren – einen Brief, der in der Geschichte der menschlichen Korrespondenz vielleicht einzigartig ist, denn wann hat ein gebildeter Mann je zuvor eine Frau gefragt, wie ihrer Meinung nach ein Krieg verhindert werden kann? – lässt man nicht so gern unbeantwortet liegen. Unternehmen wir also den Versuch, auch wenn er zum Scheitern verurteilt ist.

    Entwerfen wir zunächst das, was alle Briefschreiber instinktiv entwerfen, eine Skizze der Person, an die sich der Brief richtet. Ohne eine warme und atmende Person am anderen Ende der Seite sind Briefe wertlos. Sie also, der diese Frage stellt, sind ein bisschen grau an den Schläfen, das Haar auf dem Kopf ist weniger dicht. Sie haben die mittleren Lebensjahre nicht ohne Anstrengung erreicht, in der Anwaltschaft; aber im Großen und Ganzen war Ihr Weg erfolgreich. Nichts Vertrocknetes, Gehässiges oder Unzufriedenes liegt in Ihrem Gesichtsausdruck. Und ohne Ihnen schmeicheln zu wollen, Ihr Erfolg – Ehefrau, Kinder, Haus – ist verdient. Sie sind nie in die zufriedene Apathie der mittleren Jahre versunken, denn, wie mir Ihr Brief aus einem Büro im Herzen von London zeigt, anstatt den Kopf ins Kissen zu stecken, die Kühe zu stoßen, die Kirschen zu stutzen – schreiben Sie Briefe, besuchen Versammlungen, führen den Vorsitz über dies und das und stellen mit Geschützdonner in den Ohren Fragen. Ansonsten haben Sie Ihre Ausbildung an einer der besten Privatschulen begonnen und an der Universität abgeschlossen.

    Hier taucht nun die erste Schwierigkeit in der Verständigung zwischen uns auf. Zeigen wir rasch, warum. Wir entstammen beide dem, was man in dieser hybriden Zeit, in der trotz unterschiedlicher Herkunft Klassen fest verankert bleiben, der Einfachheit halber die gebildete Klasse nennt. Wenn wir uns in Fleisch und Blut begegnen, sprechen wir mit demselben Akzent; benutzen Messer und Gabel auf dieselbe Weise; erwarten, dass uns Dienstmädchen das Dinner bereiten und nach dem Dinner abwaschen, und während des Dinners können wir uns ohne große Schwierigkeiten über Politisches und Persönliches unterhalten; Krieg und Frieden, Barbarei und Zivilisation – über all die Fragen, die Ihr Brief aufwirft. Darüber hinaus verdienen wir beide unseren Lebensunterhalt selbst. Aber … Diese drei Punkte markieren einen Abgrund, eine Kluft, die so tief zwischen uns klafft, dass ich drei Jahre und länger auf meiner Seite gesessen und mich gefragt habe, ob es irgendeinen Sinn hat, über sie hinwegzusprechen. Bitten wir also jemand anderen – Mary Kingsley –, für uns zu sprechen. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen jemals offenbart habe, dass die Erlaubnis, Deutsch zu lernen, der einzige bezahlte Unterricht war, den ich je erhielt. Zweitausend Pfund wurden für den meines Bruders ausgegeben, ich hoffe noch immer, nicht vergeblich.« Mary Kingsley spricht nicht nur für sich selbst, sie spricht, immer noch, für viele Töchter gebildeter Männer. Und sie spricht nicht bloß für sie; sie weist auch auf eine sehr wichtige sie betreffende Tatsache hin, eine Tatsache, die alles Folgende zutiefst beeinflusst: auf Arthurs Bildungsfonds. Sie, der Sie Thackerays Pendennis gelesen haben, werden sich daran erinnern, welche Rolle die geheimnisvollen Buchstaben A.B.F. in den Haushaltsbüchern spielen. Seit dem dreizehnten Jahrhundert zahlen englische Familien Geld auf dieses Konto ein. Von den Pastons bis zu den Pendennis, alle gebildeten Familien zahlen seit dem dreizehnten Jahrhundert bis heute Geld auf dieses Konto ein. Es ist ein unersättlicher Topf. Viele Söhne auszubilden verlangte große Anstrengungen vonseiten der Familie, damit er immer gefüllt blieb. Denn Ihre Ausbildung bestand nicht allein im Lernen aus Büchern; Sport bildete Ihren Körper aus; Freunde brachten Ihnen mehr bei als Bücher oder Sport. Die Unterhaltung mit ihnen erweiterte Ihren Horizont und bereicherte Ihren Geist. In den Ferien reisten Sie; erwarben sich einen Sinn für Kunst; Kenntnisse der auswärtigen Politik, und ehe Sie Ihren Lebensunterhalt selbst verdienen konnten, gab Ihr Vater Ihnen einen Zuschuss, mit dem es Ihnen möglich war, Ihr Leben zu finanzieren, während Sie den Beruf erlernten, der Sie heute als verdienter Jurist dazu berechtigt, Ihrem Namen die Buchstaben K.C. hinzuzufügen. All das entstand aus Arthurs Bildungsfonds. Zu welchem Ihre Schwestern, wie Mary Kingsley andeutet, ihren Beitrag leisteten. Nicht nur ist ihre eigene Bildung in ihn eingeflossen, mit Ausnahme solcher kleinen Beträge wie dem zur Bezahlung der Deutschlehrerin; auch viele der Vergnügungen und Extras, die letztendlich einen wesentlichen Teil der Bildung ausmachen – Reisen, Gesellschaft, Abgeschiedenheit, eine Unterkunft außerhalb des Elternhauses –, gingen in ihn ein. Er war ein unersättlicher Topf, eine handfeste Tatsache – Arthurs Bildungsfonds –, so handfest, dass sie einen Schatten auf die gesamte Landschaft warf. Und in der Folge sehen wir, obwohl wir dasselbe betrachten, unterschiedliche Dinge. Was ist diese Ansammlung von Gebäuden dort mit ihrem halb klösterlichen Erscheinungsbild, mit Kapellen und Hallen und grünen Sportplätzen? Für Sie ist es Ihre alte Schule, Eton oder Harrow, Ihre alte Universität, Oxford oder Cambridge, die Quelle von Erinnerungen und unzähligen Traditionen. Für uns aber, die wir durch den Schatten von Arthurs Bildungsfonds sehen, ist es ein Tisch in einem Klassenzimmer, ein Omnibus auf dem Weg zu einer Unterrichtsstunde, eine kleine Frau mit einer roten Nase, die selbst nicht sehr gebildet ist, aber eine kranke Mutter zu versorgen hat und seit Erreichen der Volljährigkeit einen Zuschuss von 50 Pfund im Jahr erhält, von denen Kleidung gekauft, Geschenke gemacht und Reisen unternommen werden müssen. Das ist die Wirkung, die Arthurs Bildungsfonds auf uns hatte. Auf so magische Weise verändert er die Landschaft, dass die edlen Höfe und Gevierte von Oxford und Cambridge den Töchtern gebildeter Männer oft wie löchrige Unterröcke erscheinen, wie kalte Hammelkeulen und wie der Zug, der zur Fähre ins Ausland abfährt, während der Schaffner ihnen die Tür vor der Nase zuschlägt.

    Die Tatsache, dass Arthurs Bildungsfonds die Landschaft verändert – die Hallen, die Sportplätze, die heiligen Bauwerke –, ist von großer Bedeutung; aber dieser Aspekt muss zukünftigen Diskussionen vorbehalten bleiben. Angesichts der wichtigen Frage, die es hier zu betrachten gilt – wie sollen wir Ihnen helfen, einen Krieg zu verhindern –, geht es uns nur um die in diesem Zusammenhang offensichtliche Tatsache, dass Bildung etwas bewirkt. Eine gewisse Kenntnis der Politik, der internationalen Beziehungen, der Wirtschaft ist offensichtlich nötig, um die Ursachen zu verstehen, die zu Kriegen führen. Die Philosophie, sogar die Theologie könnten hilfreich sein. Als Ungebildeter, als jemand ohne geschulten Geist, könnten Sie sich mit solchen Fragen nicht zufriedenstellend befassen. Krieg als Folge unpersönlicher Kräfte übersteigt, wie Sie zugeben werden, das Verständnisvermögen des ungeschulten Geistes. Krieg als Folge der menschlichen Natur hingegen ist etwas anderes. Wenn Sie nicht glauben würden, dass die menschliche Natur, die Beweggründe, die Gefühle gewöhnlicher Männer und Frauen zu Kriegen führen, hätten Sie nicht mit der Bitte um Hilfe an uns geschrieben. Sie müssen zu dem Schluss gekommen sein, dass Männer und Frauen hier und jetzt imstande sind, ihren Willen geltend zu machen; sie sind keine Schachfiguren oder Marionetten, die an Schnüren tanzen, von unsichtbaren Händen gehalten. Sie können eigenständig handeln und denken. Vielleicht können sie sogar die Gedanken und Taten anderer beeinflussen. Diese Art der Überlegung muss Sie dazu gebracht haben, sich an uns zu wenden; und zu Recht. Denn glücklicherweise gibt es einen Bildungszweig, der unter die Rubrik »unbezahlte Bildung« fällt – jenes Verständnis vom Menschen und von seinen Motiven, das, löst man den Begriff aus seinen wissenschaftlichen Zusammenhängen, Psychologie genannt werden könnte. Die Ehe, jener große Beruf, der unserer Klasse seit Anbeginn der Zeit bis ins Jahr 1919 als einziger offensteht, Ehe, diese Kunst, den Menschen auszuwählen, mit dem sich das Leben erfolgreich leben lässt, sollte uns einige Fertigkeiten in diesem Fach gelehrt haben. Aber hier sind wir mit einer weiteren Schwierigkeit konfrontiert. Denn obwohl beide Geschlechter viele Instinkte miteinander gemein haben, war das Kämpfen doch immer die Gewohnheit des Mannes, nicht die der Frau. Gesetz und Brauch haben diesen Unterschied vertieft, ob angeboren oder zufällig. Kaum ein Mensch ist im Laufe der Geschichte je der Waffe einer Frau zum Opfer gefallen; die große Mehrheit der Vögel und Tiere wurde von Ihnen getötet, nicht von uns; und es ist schwierig, etwas zu beurteilen, woran wir keinen Anteil haben.

    Wie sollen wir dann aber Ihr Problem verstehen, und wie sollen wir, wenn wir das nicht können, Ihre Frage, wie sich ein Krieg verhindern lässt, beantworten? Die Antwort, die uns unsere Erfahrung und unsere Psychologie eingeben – Warum kämpfen? –, ist keine Antwort von Wert. Offensichtlich verbindet sich für Sie ein gewisser Ruhm, eine gewisse Notwendigkeit, eine gewisse Befriedigung mit dem Kämpfen, die wir nie gespürt oder genossen haben. Vollkommenes Verstehen könnte nur durch Blutübertragung und Gedächtnisübertragung erreicht werden – ein Wunder, das noch außerhalb wissenschaftlicher Reichweite liegt. Aber wir, die wir jetzt leben, haben einen Ersatz für Blutübertragung und Gedächtnisübertragung, der im Notfall genügen muss. Es gibt dieses wunderbare, fortwährend erneuerte und bislang weitgehend ungenutzte Hilfsmittel zum Verstehen menschlicher Motive, das in unserer Zeit in Form von Biografien und Autobiografien zur Verfügung steht. Auch gibt es die Tageszeitung, Geschichte in Rohform. Folglich also gibt es keinen Grund mehr, auf die winzige Spanne tatsächlicher Erfahrung beschränkt zu sein, die für uns noch immer so eng, so begrenzt ist. Wir können sie ergänzen, indem wir uns ein Bild vom Leben anderer machen. Natürlich ist es gegenwärtig nur ein Bild, aber als solches muss es genügen. Der Biografie werden wir uns also als Erstes zuwenden, kurz und bündig, im Versuch zu verstehen, was Krieg für Sie bedeutet. Entnehmen wir einige wenige Sätze aus einer Biografie.

    Zunächst Folgendes aus dem Leben eines Soldaten:

    Ich hatte das denkbar glücklichste Leben und war immer für den Krieg tätig und bin in meinen besten Jahren jetzt in den größten geraten … Gott sei Dank, in einer Stunde geht es los. Was für ein prachtvolles Regiment! Was für Männer, was für Pferde! In zehn Tagen, hoffe ich, werden Francis und ich Seite an Seite geradewegs gegen die Deutschen reiten.

    Der Biograf ergänzt:

    Von der ersten Stunde an war er in höchstem Maße glücklich, denn er hatte seine wahre Berufung gefunden.

    Fügen wir nun Folgendes aus dem Leben eines Fliegers hinzu:

    Wir sprachen über den Völkerbund und die Aussichten für Frieden und Abrüstung. Diesem Thema gegenüber war er weniger militaristisch als vielmehr soldatisch eingestellt. Er fand keine Lösung für die Schwierigkeit, dass es, wenn je ein dauerhafter Friede erreicht und es keine Armeen und Kriegsflotten mehr geben würde, auch kein Ventil für die männlichen Eigenschaften mehr geben würde, die sich im Kämpfen bildeten, und der menschliche Körper und der menschliche Charakter daraufhin verkommen würden.

    Hier finden sich schlagartig drei Gründe, die Ihr Geschlecht zum Kämpfen veranlassen; Krieg ist ein Beruf; eine Quelle des Glücks und der Begeisterung und außerdem ein Ventil männlicher Eigenschaften, ohne die der Mann verkommen würde. Dass diese Gefühle und Ansichten keineswegs durchweg von Ihrem Geschlecht geteilt werden, beweist der folgende Auszug aus einer anderen Biografie über das Leben eines Dichters, der im Europäischen Krieg getötet wurde: Wilfred Owen.

    Schon habe ich ein Licht erkannt, das nie ins Dogma irgendeiner Staatskirche eindringen wird: nämlich, dass eines der wesentlichen Gebote Christi lautete: Passivität um jeden Preis! Erdulde Ehrlosigkeit und Schande, aber greife niemals zu den Waffen. Lass dich schikanieren, lass dich misshandeln, lass dich töten; aber töte nicht … Du siehst also, dass reines Christentum und reiner Patriotismus unvereinbar sind.

    Und unter einigen Notizen zu Gedichten, die er nicht mehr schreiben konnte, finden sich diese:

    Das Unnatürliche von Waffen … Unmenschlichkeit des Krieges … das Unerträgliche des Krieges … Entsetzliche Bestialität des Krieges … Idiotie des Krieges.

    Diese Zitate offenbaren, dass ein und dasselbe Geschlecht über dieselbe Sache ganz unterschiedlicher Meinung sein kann. Und aus der Zeitung von heute wird auch offenbar, dass die große Mehrheit Ihres Geschlechts einen Krieg befürwortet, mag es noch so viele Andersdenkende geben. Sowohl die Konferenz der gebildeten Männer in Scarborough als auch die Konferenz der männlichen Arbeiter in Bournemouth sind sich darin einig, dass es notwendig ist, 300000000 Pfund im Jahr für Waffen auszugeben. Sie sind der Meinung, dass Wilfred Owen unrecht hatte; dass es besser ist, zu töten, als getötet zu werden. Da es aber den Biografien zufolge viele unterschiedliche Meinungen gibt, liegt es auf der Hand, dass es irgendeinen ausschlaggebenden Grund für diese überwältigende Einhelligkeit geben muss. Sollen wir ihn, der Kürze halber, »Patriotismus« nennen? Was aber, sollten wir als Nächstes fragen, ist dieser »Patriotismus«, der Sie dazu bringt, in den Krieg zu ziehen? Überlassen wir die Interpretation dem Lordoberrichter von England:

    Engländer sind stolz auf England. Für die, die an englischen Schulen und Universitäten ausgebildet wurden und in England ihr Lebenswerk verrichtet haben, ist kaum eine Liebe stärker als die Liebe zu unserem Land. Wenn wir uns andere Nationen anschauen, wenn wir die politischen Verdienste dieses oder jenes Landes beurteilen, messen wir sie am Standard unseres eigenen Landes. … Die Freiheit ist in England beheimatet. England ist die Heimat demokratischer Institutionen … Gewiss gibt es in unserer Mitte viele Feinde der Freiheit – einige von ihnen vielleicht in eher unerwarteten Ecken. Aber wir halten stand. Es heißt, des Engländers Heim sei seine Burg. Das Heim der Freiheit ist England. Und England ist tatsächlich eine Burg – eine Burg, die bis zum Letzten verteidigt wird … Ja, wir sind reich gesegnet, wir Engländer.

    Das ist eine rechtschaffene allgemeine Aussage darüber, was Patriotismus für einen gebildeten Mann bedeutet und welche Pflichten er ihm auferlegt. Aber was die Schwester des gebildeten Mannes angeht – was bedeutet Patriotismus für sie? Hat sie dieselben Gründe, stolz auf England zu sein, England zu lieben, England zu verteidigen? Ist sie in England »reich gesegnet« worden? Befragt man Geschichte und Biografie, scheinen sie zu zeigen, dass ihre Stellung im Heim der Freiheit sich von der ihres Bruders unterschied; und die Psychologie scheint darauf hinzuweisen, dass Geschichte nicht ohne Wirkung auf Körper und Geist bleibt. Deshalb könnte sich ihre Interpretation des Wortes »Patriotismus« von der seinen durchaus unterscheiden. Und dieser Unterschied könnte es ihr extrem schwer machen, seine Definition von Patriotismus und die ihm damit auferlegten Pflichten zu verstehen. Wenn also unsere Antwort auf Ihre Frage: »Wie lässt sich Ihrer Meinung nach ein Krieg verhindern?« vom Verständnis der Beweggründe, der Gefühle, der Loyalitäten abhängt, die Männer dazu bringen, in den Krieg zu ziehen, sollte dieser Brief besser zerrissen und in den Papierkorb geworfen werden. Denn es scheint auf der Hand zu liegen, dass wir einander wegen dieser Unterschiede nicht verstehen können. Es scheint auf der Hand zu liegen, dass wir unterschiedlich denken, so wie wir unterschiedlich geboren wurden; es gibt einen Grenfell-Standpunkt, einen Knebworth-Standpunkt, ei- nen Wilfred-Owen-Standpunkt, einen Lordoberrichter-Standpunkt und den Standpunkt der Tochter eines gebildeten Mannes. Alle unterscheiden sich. Aber gibt es keinen absoluten Standpunkt? Können wir nicht irgendwo in Buchstaben aus Feuer oder Gold geschrieben finden: »Das ist wahr. Das ist falsch« – ein moralisches Urteil, das wir alle, trotz unserer Unterschiede, akzeptieren müssen? Geben wir also die Frage nach der Richtigkeit oder der Falschheit von Kriegen an jene weiter, die die Moral zu ihrem Beruf gemacht haben – die Geistlichen. Wenn wir den Geistlichen die einfache Frage stellen: »Ist Krieg richtig oder falsch?«, werden sie uns gewiss eine einfache Antwort geben, die wir nicht bestreiten können. Doch nein – die Kirche von England, von der anzunehmen sein sollte, dass sie in der Lage wäre, die Frage von ihren weltlichen Verstrickungen getrennt zu betrachten, ist ebenfalls geteilter Meinung. Selbst die Bischöfe liegen sich in den Haaren. Der Bischof von London behauptete, dass »die eigentliche Gefahr des heutigen Weltfriedens die Pazifisten« wären. So schlimm der Krieg auch sei, Ehrlosigkeit sei weitaus schlimmer. Der Bischof von Birmingham hingegen bezeichnete sich als »extremen Pazifisten … ich persönlich kann nicht erkennen, wie Krieg als etwas erachtet werden könnte, das im Einklang mit dem Geiste Christi steht.« Selbst der Rat der Kirche also ist geteilt – unter gewissen Umständen ist es richtig zu kämpfen; unter keinen Umständen ist es richtig zu kämpfen. Es ist verstörend, verblüffend, verwirrend, aber wir müssen uns der Tatsache stellen; Gewissheit gibt es weder oben im Himmel noch unten auf der Erde. Und je mehr Lebensberichte wir lesen, je mehr Reden wir hören, je mehr Meinungen wir zurate ziehen, desto größer wird im Grunde die Verwirrung und desto unmöglicher scheint es, irgendeinen Vorschlag zu machen, der Ihnen helfen würde, einen Krieg zu verhindern, da wir die Impulse, die Motive oder die Moral, die Sie dazu bringen, in den Krieg zu ziehen, nicht verstehen.

    Aber außer diesen Bildern vom Leben und Denken anderer Menschen – diesen Biografien und Geschichten – gibt es noch andere Bilder – Bilder von Tatsachen, Fotografien. Fotografien sind natürlich keine Argumente, die sich an die Vernunft richten; sie sind schlicht Feststellungen von Tatsachen, die sich ans Auge richten. Aber genau diese Schlichtheit könnte helfen. Sehen wir also, ob wir, wenn wir dieselben Fotografien anschauen, dasselbe empfinden. Hier vor uns auf dem Tisch

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