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Fieber68: Roman
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eBook192 Seiten2 Stunden

Fieber68: Roman

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Über dieses E-Book

Ein neues Lebensgefühl, ein Fieber erfasst 1968 eine ganze Generation. Von Berkeley, Paris, Berlin, Rom und Mailand aus bis in die Kleinstadt-Hinterhöfe von Bozen, Meran und Bruneck hinein wird die Bewegung zum Schwungrad, auch im engen Land der Berge für Freiheit, Recht und Gerechtigkeit einzutreten.
In einer Collage aus subjektivem Erzählen, Tatsachenbericht und Dokumentation schildert der Autor das Aufschäumen und Zusammenbrechen dieses 68er-Zeitgeistes.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Raetia
Erscheinungsdatum2. Apr. 2014
ISBN9788872834930
Fieber68: Roman

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    Buchvorschau

    Fieber68 - Siegfried Nitz

    Gwyn

    1

    Zwischen den Ereignissen und dem, was davon erzählt und aufgeschrieben wird, liegen vier, bald fünf Jahrzehnte. Manches wiegt schwerer aus dieser Distanz, manches leichter, verdunstet in dem, was nachher kam, oder dem, was jetzt ist. Über ehedem grell Belichtetes sind Schatten gefallen, in denen wir nicht mehr finden, was wir sonst so rasch bei der Hand hatten und was wir jetzt noch glauben retten zu müssen. Verschwunden sind die Aufzüge und Maskeraden, die wir veranstalteten, und die Sicherheiten, die wir herausschrien. Aus dem Heute erzählt und hingeschrieben sind Gedanken und Empfindungen nicht überprüfbar, denn: Die einzigen Zeugen, unsere damaligen Ichs, sind verwittert oder haben sich in uns aufgelöst. Wir zögern, wir zweifeln, ob wir noch sein wollen, wer zu sein wir damals glaubten oder wer zu sein uns zugeschrieben wurde. Mit dem Erzählen aber und mit dem Schreiben schaffen wir uns ein zweites, ein eingebildetes Leben, in dem vieles eine Deutlichkeit vorspiegelt, was ehedem verschwommen und unbestimmbar war. Einiges könnte so gewesen sein, ich bestehe nicht darauf.

    Auch Max würde nicht darauf schwören wollen, dass das der Anfang war, obwohl wir uns Bilder gemacht haben, die zäh sind und bleiben.

    Es hatte wegen eines Vergehens während einer mehrtägigen Klassenfahrt eine – wie uns schien, sehr harte, weil auf das Ergebnis der Reifeprüfung sich auswirkende – Bestrafung für Schüler der achten Klasse gegeben, weshalb wir Schüler der siebten als eine eher spontane Aktion gegen das, was wir als Willkür und Unterdrückung empfanden, einen Streik in Szene setzten, den ersten und wohl für lange Zeit letzten in unserer Kleinstadt. Es gab in der Folge regelrechte Verhandlungen, ein richtiges Kräftemessen zwischen einer Schülerdelegation auf der einen, dem Direktor und der Lehrerschaft auf der anderen Seite. Diese Bestrafung und der darauf folgende Streik, an dessen Vorbereitung ich mich – wie Goethes Werther: ohne länger darüber nachgedacht zu haben – beteiligte, hatten unmittelbare Auswirkungen auf mein weiteres Denken und Handeln. Ich hatte das Gefühl, in ganz wenigen Tagen viel gelernt zu haben von dem, was auf keinem Lehrplan stand.

    Es ging um Freiheit, ganz einfach und ohne Anführungszeichen: um die Freiheit, sich zu kleiden, zu kämmen, den Tag einzuteilen, wie man wollte, um die Freiheit, da- oder dorthin zu gehen und sich mit anderen zu treffen, ohne um Erlaubnis fragen oder sich rechtfertigen zu müssen; es ging darum, zu essen und zu lernen, was, wann und wo man wollte, besonders auch darum zu sagen, was man dachte, ohne dafür bestraft zu werden; es ging um den Widerstand gegen die als Knebelung und Unterdrückung erlittene Ordnung der Eltern und Lehrer, und gegen das alle und alles umspannende Gebot des Gehorsams gegenüber Autoritätspersonen oder sogenannten. Wir wollten Verantwortung – für uns selbst.

    Auf einem Laufzettel – von einem Flugblatt konnte noch nicht die Rede sein – hatten wir folgende Zeichnung herumgereicht:

    In einem kleinen, mit „1. Klasse beschrifteten, gläsernen Kubus steht ein Männchen aufrecht da, rundum und über ihm ist noch freier Platz. Daneben steht ein zweiter, ebenso kleiner, gläserner Kubus, mit „2. Klasse beschriftet, den das Männchen, inzwischen gewachsen und etwas fülliger geworden, jetzt so ausfüllt, dass der Kopf an den Deckel gepresst wird. Im dritten Glaskubus, mit „3. Klasse" überschrieben, berührt das Männchen bereits mit seinem Hintern die Deckelwand oben und hat Kopf und Oberkörper, damit diese irgendwie Platz finden, ganz nach unten und zwischen die Beine gequetscht, sodass es nunmehr zu einem ganz und gar verkrüppelten Wesen geworden ist.

    Dieser Laufzettel war die Geburtsstunde der ersten Schülerzeitung im Land in den Bergen, zugleich auch der Funke, aus dem die Schülerbewegung entstand.

    Das ganze Geschehen hat mein Denken und meine Wahrnehmung in Gang gesetzt, meine Gefühle für das, was ich als gerecht und korrekt empfand, geweckt und mir einen Maßstab vermittelt dafür, was auch einem Jungendlichen wie mir gegenüber als respektvoller Umgang gelten sollte. Wir erlitten, wofür wir zunächst kaum ein Wort hatten: Enge, und wir verspürten ein Bedürfnis nach frischer Luft, nach Öffnung und Weite, nach selbst gestaltetem Leben.

    Aber so formulieren wir erst heute. Denn zunächst forderten wir nur die Behandlung von Stoffen und Themen in der Schule, die das Leben klären und unsere Fragen beantworten sollten, jenseits der ewig gleichbleibenden, welche die Lehrer aus vergilbten, offenbar gleich nach dem Krieg verfassten und nie mehr erneuerten Vorbereitungsheften – Diktaten gleich – abspulten. Der Slogan der ersten studentischen Protestmärsche „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren" bildete unseren Lernalltag der Wirklichkeit getreu ab.

    Es waren unsere existenziellen Fragen, die beantwortet, unsere inneren Verengungen, die geweitet, unsere Verrenkungen, die aufgelöst werden wollten. Viele, auch nicht mit dem Verdienstkreuz der Revolte Ausgezeichnete, gestanden Jahre später, dass sie mit Neugier und Spannung auf den Unterricht in Philosophie gewartet hatten: Dieser würde den Sinn des Lebens, unseres Lebens, zu ergründen helfen. Stattdessen mussten wir uns drei Sätze von Anaximander wie Nummern aus dem Telefonbuch merken; stattdessen gab es Repression: Wurde einer am Nachmittag in den Straßen der Stadt oder vor einer Bar stehend erwischt, konnte er mit großer Sicherheit davon ausgehen, tags darauf einer Prüfung auf Herz und Nieren unterzogen zu werden und dass sich diese Sonderbehandlung über mehrere aufeinanderfolgende Tage hinziehen würde. Da waren offenbar noch lange nach der Nazizeit Bildung und Erziehung als ein biologischer Prozess der Aufzucht und Auslese verstanden worden.

    Wir wollten wachsen, wollten ausprobieren, wir selbst zu sein, zu werden. Dafür mussten wir die Zwinger sprengen, mussten die kleinen, gläsernen Kuben, in denen wir an uns selbst zu ersticken drohten, zu Zimmern, Hallen, Werkstätten ausweiten. Eigentlich hätten die Lehrer nur ihre eigenen humanistischen Bildungsideale, anhand derer sie ausgebildet worden waren und denen sie folgten oder zu folgen vorgaben, ernst zu nehmen brauchen, um gemeinsam mit uns Schülern ein Stück dessen umzusetzen, was sie selbst bei Thukydides in der „Rede des Perikles über Demokratie" gefunden hatten; doch mussten sie sich diese in einem Akt der Selbstverstümmelung aus Herz und Hirn gerissen und sich selbst nicht zugemutet haben, weshalb sie diese dann auch ihren Schülern vorenthielten:

    Das Wesen (unserer Volksherrschaft) ist, dass nach den Gesetzen zwar alle persönlichen Vorzüge niemandem ein Vorrecht verleihen, dass aber hinsichtlich seiner wirklichen Geltung jeder, sofern er sich in etwas auszeichnet, im Staatsdienst seine volle Anerkennung findet: eine Anerkennung, die nicht auf Parteizugehörigkeit, sondern auf wirklichem Verdienst beruht. Mag daher jemand arm sein, so ist ihm doch, sofern er dem Vaterland Nutzen zu stiften imstande ist, durch keine Niedrigkeit der Geburt der Weg zur Auszeichnung verschlossen. … Wir betrachten unseren Mitbürger nicht mit Ärger, wenn er frei seiner Neigung folgt. … Wir enthalten uns in unserem öffentlichen Leben vornehmlich aus sittlicher Scheu jeder Übertretung der Gesetze und hören willig auf die jeweilige Obrigkeit und auf die Gesetze, und vornehmlich auf die, die zum Schutze der Unterdrückten bestimmt sind. … Wir öffnen allen den Zutritt zu unserer Stadt und suchen nicht gelegentlich durch Ausweisung von Fremden jemanden daran zu hindern, etwas zu lernen oder zu sehen, wovon … einer unserer Feinde Nutzen ziehen könnte; … denn wir vertrauen weniger auf Vorbereitungen und Heimlichkeiten als auf unsern eigenen, tatenfrohen Mut.

    Solche Botschaften aus dem Reich des Schönen, Wahren und Guten waren den Schülern mit der Einforderung von Übersetzungen vertrackter lateinischer und griechischer Verse oder Satzperioden allerdings nicht vermittelbar – umso weniger, als diese in einsamer Hausarbeit mühsam und zeitraubend erarbeitet werden mussten und mit Prüfungsangst und Notendruck besetzt waren. Zugleich gab es Lehrer, die ihre Geringschätzung für die Schüler als Personen in Worten und Gesten und mit ungerecht empfundenen oder ganz und gar frei erfundenen Bewertungen unmissverständlich kundtaten. Sollte der Mensch nicht edel sein, hilfreich und gut?

    Leidvoll zu beklagen ist: Wir haben aus den alten Literaturen nur kleinste Bruchstücke mühevoll übersetzt, die eigene Übersetzung nicht verstanden und den Rest nicht gelesen. So haben wir uns, die wir uns doch als glückliche Angehörige einer am Humanismus aufgerichteten Welt verstanden, im privaten und öffentlichen und politischen Handeln von den Maximen des Perikles entfernt. Die Mindestvoraussetzung zu deren Verständnis wäre gewesen, die Geduld zu erlernen, einen Text genau zu lesen, folgerichtig zu denken und entsprechend zu argumentieren. Allein die folgenden Aussagen des großen Griechen böten reichlich Stoff für zwei, drei gute Bildungsjahre:

    … und es ist für keinen eine Schande, seine Armut einzugestehen, vielmehr ist es eine Schande, ihr nicht durch Tätigkeit zu entrinnen. Und so sind unsere Staatsmänner geschickt, ihre eigenen Interessen ebenso wie die des Staates wahrzunehmen, während es anderen, die sich dem gewerblichen Leben zugewandt haben, gleichwohl nicht an Einsicht für die Angelegenheiten des Staates fehlt. Denn wir halten denjenigen, der an diesen gar keinen Anteil nimmt, nicht für einen stillen und ruhigen, sondern für einen unbrauchbaren Bürger. … Und wir sehen in vielfältiger Überlegung keinen Nachteil für das Handeln, wohl aber darin, dass man sich nicht lieber vorher durch reifliche Prüfung unterrichtet, ehe man, wo es nötig ist, zum Handeln schreitet.

    In der Tageszeitung „Dolomiten", die das Meinungsmonopol innerhalb des deutschen Bevölkerungsanteils des Landes innehatte, fand sich in diesen Tagen folgende Leserzuschrift:

    Drei Dinge sind im ganzen Land bekannt, nur will die „Dolomiten sie nicht wahrhaben: Es gibt eine Opposition in Südtirol … man könnte sie außerparlamentarisch nennen, wenn wir im Land ein Parlament hätten, wo das freie Wort zu Gehör käme. Das haben wir aber leider nicht. Was den „Dolomiten nicht passt, existiert nicht. Das wird einfach nicht abgedruckt. Eine Pluralität der Meinungen kennt man nicht. In der Öffentlichkeit über geistige, kulturelle, moralische Fragen diskutieren kann man hier nicht.

    Wir haben ein Theater, das horrende Summen kostete, man nennt es „Kulturhaus", aber dort gibt es kein Podium für einen Redner oder für eine Gemeinschaft, die nicht zur alles dominierenden Partei gehört. … Die Bauernjugend verbringt ihre Zeit in den Bars, in den Wirtshäusern, in den Nachtlokalen. Die Stadtjugend bringt ihre Freizeit hinter sich, wie es eben geht. Jungendräume, Diskussionsräume, die sonntags oder sonst abends geöffnet wären, wo sind die?

    Und so kommt es, dass wir, weil uns das Forum für das freie Wort fehlt, immer öfter das „Deutsche Blatt der italienischen lokalen Presse in Anspruch nehmen müssen. … So geht auch hier eine Kopie dieses Leserbriefes an das „Blatt für deutsche Leser der Tageszeitung „Alto Adige, denn bei den „Dolomiten wird er vielleicht im Papierkorb landen.

    Und genau dieses eine Mal druckt die Zeitung diese Leserzuschrift ab. Die Leserbriefschreiberin sollte damit Lügen gestraft werden.

    2

    Wir waren ja eine recht kleine Gesellschaft auf der Südseite der Alpen. Die Vereinigung der vorwiegend im deutschsprachigen Ausland studierenden Studenten umfasste etwa 1200 Hochschüler und hatte bereits ab 64 etwa ihre enge Bindung an die volkstums- und kulturpolitische Linie der Partei zu lockern versucht und neue Wege, offenere Haltungen und die Freiheit vom Zwang des Wohlverhaltens gefordert. Nicht zuletzt hingen von solchem Wohlverhalten die Vergabe von Stipendien und andere Formen der Unterstützung für Jugendliche aus unterprivilegierten Verhältnissen ab. Die Mächtigen kannten ihre Untergebenen und deren Verhältnisse und hatten Möglichkeiten zu deren Kontrolle.

    Am Vorabend der Eröffnung des „Waltherhauses, eines neuen Theater- und Kulturhauses, im April 67 hatten 200 Jugendliche und Studenten bei einer Diskussion über „Kulturpolitik in Südtirol – ohne Jugend? im Bozner Rathaus ihre Einbindung in gesellschaftliche und kulturelle Prozesse gefordert. Die dort sichtbar gewordenen Positionen markierten den Bruch zwischen der politischen Führung und der jungen Zukunft des Landes. Das „Waltherhaus sollte im Selbstverständnis seiner Erbauer ein Tempel der Verschmelzung bäuerlich-ländlicher Volkskultur mit der bürgerlichen Hochkultur sein, zugleich ein Bollwerk gegen kulturelle Einflüsse aus dem italienischen Süden und gegen die gefährliche Moderne überhaupt. Vor diesem Hintergrund hatte die kulturkritische Schauspielgruppe „Kleine Experimentierbühne eine Groteske namens „enfants terribles zur Aufführung gebracht. Das Stück war ein paradoxer Verschnitt von weltpolitischen und hinterwäldlerisch lokalen Themen und wollte Zeugnis geben vom Nachplappern vorgekauten und anscheinend bewährten Gedankenguts. Die Theaterbühne des „Waltherhauses blieb der Theatergruppe verwehrt. Trotz der neuen und modernen Theaterstruktur mussten alle alternativ-kulturellen Initiativen sich um andere Schauplätze umsehen, um an ein Publikum zu gelangen.

    Gleich nach Schulbeginn im Herbst hatten dann Oberschüler, Sympathisanten der in Entstehung begriffenen Schülerzeitungen und andere Jugendliche diesen „Tempel" entweiht. Flugblätter tanzten von der Zuschauertribüne auf das Theaterpublikum im Parkett, in denen das Theater als ein Fossil katholisch-konservativer Weltanschauung und als ein Ort der Ausgrenzung neuer, lebendiger Lebensformen bezeichnet und eine Hinwendung zu mehr Leben, Eigen-Sinn, Selbstentfaltung und Gestaltung, zu mehr sprach- und kulturübergreifendem Dialog gefordert wurde. Das Publikum war aufgebracht, manche wurden ausfällig und schäumten,

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