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Wertberichtigung
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eBook335 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Der Hamburger Manager und Halbspanier Deseo Ferrer will seine Firma an die Börse bringen – auch gegen den Willen anderer. Die Gier nach Anerkennung treibt ihn an, und als ihm ein undurchsichtiges Geschäft die Chance bietet, letzte Hindernisse zu beseitigen, greift er zu. Doch Deseo gerät in den Strudel einer kriminellen Intrige, der er nur entkommen kann, wenn er sich seiner eigenen Geschichte am Ort seiner Heimatstadt Barcelona stellt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum3. Feb. 2021
ISBN9783752934878
Wertberichtigung
Autor

Oliver Ristau

Oliver Ristau beeindruckt durch seine außergewöhnliche Vielseitigkeit. Seine Kombination aus selbständiger Unternehmensberatung und Anstellung bei drei Weltkonzernen ist einzigartig. In seiner Karriere war er Manager, Geschäftsführer und Aufsichtsratsvorsitzender. Anfänglich als Trainer für Moderation und Verhandlungsführung tätig, leitet er heute Workshops für effektives Arbeiten und Selbstbestimmung.

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    Buchvorschau

    Wertberichtigung - Oliver Ristau

    Kurstableau

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    Zu diesem Buch: Der Hamburger Manager und Halbspanier Deseo Ferrer will seine Firma an die Börse bringen – auch gegen den Willen anderer. Die Gier nach Anerkennung treibt ihn an, und als ihm ein undurchsichtiges Geschäft die Chance bietet, letzte Hindernisse zu beseitigen, greift er zu. Doch Deseo gerät in den Strudel einer kriminellen Intrige, der er nur entkommen kann, wenn er sich seiner eigenen Geschichte am Ort seiner Heimatstadt Barcelona stellt.

    Über den Autor: Oliver Ristau schreibt als Journalist über Wirtschaft und Gesellschaft. Er ist Musiker, Fotograf und Filmschaffender. Seine Reportagen sind in vielen namhaften Medien erschienen. Er begleitete als Berater für Strategie und Kommunikation zudem Anfang der 2000er deutsche Unternehmen an die Börse,

    Oliver Ristau

    WERTBERICHTIGUNG

    Roman

    2. Auflage, Worte-Taten Verlag, Sternstraße 106, 20357 Hamburg, www.worte-taten.de; Copyright © 2021 Oliver Ristau

    Umschlagsgestaltung: Gieso Ristau. Motive: Onkel Otto, Hamburg und Casa Batlló, Barcelona.

    Blicken Sie ins Feuer, blicken Sie in die Wolken, und sobald die Ahnungen kommen und die Stimmen in Ihrer Seele anfangen zu sprechen, dann überlassen Sie sich ihnen und fragen Sie ja nicht erst, ob das wohl auch dem Herrn Lehrer oder dem Herrn Papa oder irgendeinem lieben Gott passe oder lieb sei!" (Demian, Hermann Hesse)

    Das alte rote Backsteingebäude stand in einer Nebenstraße der Reeperbahn, auf der ruhigen Seite des Kiezes. Gebaut zwischen den Kriegen, hatte es bessere Zeiten gesehen – als die Fenster noch schlossen und der Wind nicht als ungefragte Ventilation durch die Mauerritzen pfiff. Damals war es wohl keine Tanzschule gewesen, vielleicht eine Behörde, eine Schule, eine Handwerksmanufaktur. Es hatte einen Krieg überlebt, der St. Pauli mit Feuer übergossen und die Häuser mühelos wie Pappe abgefackelt hatte. So war es ein stummer Zeuge, übrig geblieben aus der Zeit, als in Hamburgs Peripherie die Öfen vor rotem Backstein glühten, der überall in der Stadt zu Arbeitervierteln, Fabriken und öffentlichen Gebäuden verbaut wurde, die den elitären Großbürgerhäusern der Gründerzeit den Spiegel erdiger Bodenständigkeit vorhielten.

    Jenseits der blinkenden Lichter und üppigen Tabledance- und Eros-Shop-Angeboten warteten keine Damen mehr, die von einem auf das andere Bein wechselnd den Herren ihr lässig-flötendes bis krächzend-dominantes „Bleib doch mal stehen" hinterherraunten/-riefen. Hierher verirrten sich nur noch wenige der aus den Reisebussen, den Zügen, den Autos mit den fremden Nummernschildern ausgespuckten Besucher, Touristen, Weltenbummler.

    Stattdessen schlurften alte kleine Frauen in zerschlissenen Schuhen mit Kippe im Mundwinkel über den Gehweg, mit derbem schmalem Gesicht und wetterfestem Mantel. Zerzauste, vergeistigt blickende Studenten lugten aus schummrigen Hauseingängen hervor. Alte Männer in bekleckerten Pantoffeln ließen sich von ihren Promenadenmischungen ausführen und Arbeitslose nahmen die Handvoll Kneipen in Beschlag mit den vom Nikotin der Jahre vergilbten Vorhängen und den Billigholzvertäfelungen an den Wänden. In jeder dieser Einrichtungen hing ein Wimpel vom FC St. Pauli, manchmal ein Mannschaftsfoto mit Unterschriften.

    Draußen trieb der Wind eine Plastiktüte wie ein zerfetztes Segel vor sich her. Deseo lehnte hinter den weiß lackierten Fensterrahmen im zweiten Stock der Tanzschule und schaute gedankenverloren dem grünen Fetzen nach. Dann gab er sich einen Ruck und wandte St. Paulis Szenerie den Rücken zu.

    Von innen war die Schule aufpoliert und trug ihre übrig gebliebenen Schönheiten wie den Stuck an den Decken mit Stolz zur Schau. Die großen Fenster ließen das Licht über die geölten Holzböden der hohen Räume hinwegfluten, sodass die Tänzer sich animiert fühlten, ihre Sohlen vibrieren zu lassen.

    An jenem Tag allerdings hatten sich keine Körperkünstler der Musik eingefunden, sondern zwei Dutzend zumeist unauffällige Frauen und Männer, die an einem Erleuchtungskurs des US-amerikanischen Beraterpaares Alvin und Sheila Sugarcane teilnahmen. Die Veranstaltung stand unter dem Titel „Die Kunst, Wohlstand zu erreichen". In einer Nische des Raums wartete ein breites Angebot von DVDs, Audiokassetten und Büchern aufdringlich darauf, gekauft zu werden.

    Deseo strich über sein frisch gebügeltes Oberhemd und begab sich zurück zu seinem Platz, denn die Pause näherte sich ihrem Ende. Was hatte ihm da gerade ein Kursteilnehmer über Manipulation und Selbstaufgabe zugeraunt?

    Der Halbspanier war auf Empfehlung seines Geschäftsfreundes Donald Blank gekommen, der die Seminare regelmäßig besuchte und ihn wie ein Missionar beschworen hatte, ihn zu begleiten.

    „Da erfährst du Sachen über Geld, die dir kein hoch bezahlter Managerberater besser vermitteln kann. Das würde dich und deine Firma nach vorne katapultieren."

    Schließlich hatte er Donald erhört und 1.200 Euro für den Wochenendkurs auf ein Konto in New York überwiesen.

    Deseo war überrascht von der äußerlichen Schlichtheit der Berater, die gänzlich auf Style und Schönheit verzichteten. Er hatte sich herausgeputzt, trug zu seinem von hanseatisch blauen Karos durchwirkten weißen Hemd eine blaue Wollhose mit Bundfalten und elegante schwarze Schuhe spanischer Herkunft. Mit Ausnahme Donalds, der sportlich-elegant gekleidet war, bevorzugten die übrigen Teilnehmer zerschlissene Hosen, verblichene T-Shirts und Pullover, als sei der Billig-Look ihr Erkennungsmerkmal.

    Auch körperlich entsprach Alvin Sugarcane kaum dem klassischen Schönheitsideal. Er hatte den Bauch eines Schweins, und seine rechte Hand besaß einen unbeweglichen steifen Mittelfinger, den er ständig zur Unterstreichung seiner Worte erhob. Außerdem schielte er auf einem Auge. Deshalb konnte niemand, der ihn ansah, wissen, wohin sich sein Blick gerade wirklich richtete. Seine Augen schienen das Abbild der Welt in Windungen und Bögen einzulassen. Damit verunsicherte er die Kursteilnehmer und verlieh sich eine bisweilen mystische Aura. Das Gesicht des Fünfzigjährigen war breit und ungeschliffen wie ein unbehauener Findling mit einer großen Nase aus grobporiger Haut. Wenn er lächelte, war nicht klar, aus welchem Grund – aus Freude, Überlegen- oder Überheblichkeit.

    Seine Frau Sheila war schmächtig, ohne Busenwölbungen und zehn Jahre jünger. Ihre Gesichtszüge waren feiner, wie mit einem feinen Meißel in weichen Speckstein eingraviert. Sie war für das Schöngeistige zuständig bei ihren verbalen Ausflügen in Kultur, Architektur und Literatur. Um sich aber Respekt und Autorität zu verschaffen, ließ sie ihre Stimme hin und wieder wie eine scharfe Messerklinge erklingen, die plötzlich die Luft durchschnitt. Ihre Zuhörer zuckten zusammen.

    Deseo hatte noch nie einen Unternehmensberater in Anspruch genommen und keine genaue Vorstellung, was er von dem Kurs zu erwarten hatte. Bisher waren sie über Allgemeinplätze der Selbsterkenntnis wie „Sei du selbst und „Lebe im Augenblick nicht hinausgekommen. Die Kursteilnehmer, von denen die meisten schon seit Jahren zu den Sugarcanes gingen und auf Deseo eher wie Loser wirkten, hatten dagegen die Zeit ausführlich mit ihren persönlichen Erfahrungsberichten zur Lehre ihrer Gurus ausgefüllt und sie dabei wie Versicherungsvertreter beworben. Die Sugarcanes hörten sich das gerne an, offenbar gefielen ihnen Schmeicheleien. Kritik gab es bis hierhin keine.

    Deseo wurde allmählich ungeduldig – was war jetzt mit dem Geld?

    „Wer sich zu sehr auf das Geld konzentriert, nimmt nicht mehr wahr, was wirklich vor sich geht", hörte er plötzlich Sheila Sugarcane sagen, als hätte sie seine Gedanken erraten.

    „Es gibt Menschen, die sich aus Sorge vor dem Verlust ihres Geldes nicht mehr trauen zu leben. Andere schätzen sich so gering, dass sie Reichtum ablehnen und damit nie auf einen grünen Zweig kommen."

    Jetzt ging es also endlich los. Deseos Körper spannte sich. Er stemmte die Hände auf seine Oberschenkel und sah Sheila interessiert an. Wenn sie so redete, sah sie gar nicht schlecht aus.

    „Ihr könnt Quellen des Reichtums erschließen. Sie müssen aber einem ideellen Zweck dienen, zum Beispiel dem Aufbau einer erleuchteten Gesellschaft. Dann müsst ihr alle Chancen ergreifen, auch wenn es anderen nicht passt."

    Ihre Augen waren wie Laser, als sie beschwörend weitersprach: „Nutzt die Möglichkeiten, die sich euch bieten, auch gegen Widerstreben."

    Das war es – die Chancen am Schopfe packen und Geld verdienen. Deseo hatte genau das vor und meldete sich.

    „Ich habe eine Firma, begann er souverän, als spräche er zu Bankenvertretern. „Die will ich voranbringen und ich möchte Anleger von meiner Idee überzeugen. Leider sieht nicht jeder die Möglichkeit, die sich ihm bietet. Was meint ihr? Muss man die nicht zu ihrem Glück zwingen?

    Und als niemand unmittelbar reagierte, setze er hinzu: „Muss man nicht geil auf Geld sein, damit man es verdient?"

    Eine Pause schloss sich an Deseos Worte an, die zunächst wie die respektvolle Anerkennung eines geistreichen Beitrags wirkte, dann aber immer länger wurde und anfing zu quälen. Die Sugarcanes sahen ihn an, als sei er ein Fremder, der sich eingeschlichen habe, als hätten sie ihn gerade erst bemerkt. Schließlich war es Alvin Sugarcane, der ein paarmal mit seinem steifen Finger deutelte, als suchte er nach einer Eingebung, und reagierte: „Alle reden dauernd vom Geld und wissen gar nicht, worum es geht. Er nahm Deseo ins Visier. „Schau dich an. Du glaubst, du bist etwas Besonderes, weil du teure Kleidung trägst. Du willst, dass dich jeder wegen deines edlen Hemdes oder deiner sorgfältigen Frisur für eine große Nummer hält. Aber mit deinem äußeren Auftreten lenkst du doch nur von all deinen spießigen Werten ab.

    Sugarcane machte eine Pause und sah ihn gleichgültig an. „Du bist scheinheilig, fuhr er schließlich gelangweilt fort, „du glaubst an Gott, die Moral, die Börse und den Schrecken des Todes, wie es andere dir erklärt haben – deine Mami, dein Papa. Du hast Angst. Ich rieche förmlich, wie du dir gerade in die Hose scheißt.

    Er grinste automatisch, als hätte jemand einen Knopf gedrückt, dann wurde seine Miene wieder ausdruckslos. Deseos Gedanken verwirrten sich. Darauf war er nicht vorbereitet. Um über sich selbst zu reflektieren, war er nicht gekommen. Sein Vater, wie kam er darauf? Es ging in der Tat doch nur um die Börse. Er starrte Sugarcane an, ohne etwas antworten zu können.

    Sein Gegenüber erhob die Stimme und wandte sich an die gesamte Gruppe: „Seht ihr, wie er gerade seinen miesen Gedanken zuhört? Dass er nichts taugt, dass seine Eltern schlecht waren, all dies unbefreite Elend?"

    Deseo war gefangen, seine Knochen wie unbewegliche Gitterstäbe. Mit offenem Mund saß er da wie ein Angeklagter, der auf den Schuldspruch wartete und nicht annähernd wusste, was er verbrochen hatte. Ihm troff der Speichel von den Lippen.

    „Er bettelt um deine Aufmerksamkeit, stellte Sheila Sugarcane zwar lakonisch fest, aber so laut, dass es jeder hörte. „Schau ihn dir an! Er ist jetzt ein kleines Kind. Fast süß, wenn es nicht so sabbern würde. Es sieht auf den Boden, um seine edlen Schuhe um Hilfe zu bitten.

    Wieder trat eine Pause ein. Es war so still, dass man das Schuhleder knirschen hörte, obwohl er die Füße nicht bewegte.

    „Schöne Schuhe hast du", fügte wie aus heiterem Himmel ein anderer Teilnehmer hinzu. Der Mann in Deseos Alter war mindestens so dick wie Sugarcane, hatte dichtes, strähniges Haar und sah ihn hinter seiner Brille mit riesigen Fischaugen an. Deseo hatte noch nie zuvor ein Wort mit ihm gewechselt.

    „Du glaubst, du bist besser als wir, schöner und reicher. Hinter unserem Rücken rümpfst du die Nase über uns und unsere Kleidung, die dir nicht gut genug ist."

    Der Typ fixierte ihn, als wollte er ihn anspringen. Sugarcane gab ihm ein Zeichen und er hielt sich zurück. Deseo hatte Mühe zu atmen. Gerne wäre er cool geblieben, aber irgendwie hatte der Dicke sogar recht.

    „Für mich gehört stilvolle Kleidung zum erfolgreichen Leben dazu, mühte er sich zu sagen. „Ich fühle mich besser im Anzug. Das erleichtert die Geschäfte.

    Sheila setzte noch einen drauf. „Kleidung ist oberflächlich, sagte sie verächtlich. „Wir machen gute Geschäfte, auch ohne uns wie Puppen anzuziehen. Du hast noch nichts begriffen und folgst deinen eingemeißelten Vorurteilen.

    Sie sah sich um. „Hier kommst du mit deiner Geldgier nicht weit."

    Deseo schüttelte sich. „Geldgier? Moment mal. Schließlich ist doch Geld verdienen der Titel eures Kurses."

    Wieder standen die Sekunden still. Dann ergriff Alvin das Wort: „Wir sagten schon, es geht um ideelle Werte, nicht um deine egoistischen, wie du mehr Geld machen kannst, um dein konditioniertes Programm deiner Vorurteile finanzieren zu können. Dann gehst du besser ins Kasino. Da passt deine Bekleidung übrigens ausgezeichnet."

    Scheinbar zutiefst gelangweilt, sah er mit seinem halb blinden Auge in Deseos Richtung, manche lachten schadenfroh über seine Worte. Da stieß ihn Sheila an und flüsterte: „Das reicht fürs Erste. Den können wir noch brauchen."

    Alvin sah sie für einen Moment erstaunt an, dann wandte er sich an Deseo und sagte väterlich: „Gut, dass du zu uns kommst. Damit machst du den ersten Schritt, den viele sich gar nicht erst trauen. Ich gebe dir einen Rat als Freund: Investier dein Geld richtig! Kauf unsere Bücher, besuch unsere Kurse, das wird dir helfen!"

    Er zwinkerte ihm wie einem Komplizen zu und Deseo blieb wie ein zu heiß gewaschenes Hemd zurück. Er fühlte sich kleiner, ohne genau zu wissen, wie es dazu kommen konnte. Während Sheila anfing, von anderen Dingen zu sprechen, kreisten Deseos Gedanken weiter um diesen merkwürdigen Vorfall. Noch nie hatte jemand so mit ihm gesprochen, hatte Schwächen in aller Öffentlichkeit angeprangert. Deseo hatte die Lust verloren, weitere Fragen zu stellen. In den letzten zwei Stunden des Kurses stand die Kundenwerbung auf der Agenda.

    „Uns entstehen Sonderaufwendungen, wenn wir für die Kurse nach Hamburg fliegen müssen. Für uns ist es billiger und angenehmer, in New York zu bleiben und dort die Workshops abzuhalten", erklärte Sugarcane wie aus heiterem Himmel.

    Als habe er einen plötzlichen Einfall, stieß er seine Frau an und sagte: „Weißt du was, Schatz, ich glaube, wir sollten die Kurse hier aufgeben. Es lohnt sich einfach nicht. Hamburger, die erleuchtet werden wollen, können genauso gut für ein paar Tage nach New York fliegen."

    Damit schockierte er seine Zuhörer, die seit Jahren zu ihnen gingen und denen nun die Kinnladen wie Ladeluken hinunterklappten.

    „Ihr zeigt keinen Einsatz. Wir sind zu wenige hier."

    Einige Enthusiasten mischten sich ein: „Wir können Werbung für euch machen. Dann besuchen mehr Menschen mehr Kurse und ihr verdient mehr Geld", sagte der sabbernde Typ mit den Glasbausteinen und alle nickten.

    „Ihr müsst lernen zu teilen. Nur wenn ihr von eurem guten Leben etwas abgebt, erlangt ihr die große Erfüllung. Erzählt anderen Menschen von euren Erlebnissen hier. Ladet sie ein, mit euch zu kommen. Dann werden wir immer mehr, die im Moment leben."

    Sugarcane machte eine bedeutungsvolle Pause. „Präsentiert uns in zwei Monaten eine Liste mit den Anmeldungen!, forderte er. „Wenn sie umfangreich genug für uns ist, kommen wir wieder.

    Seine Frau spielte die Einpeitscherin: „Überzeugt eure Freunde, Verwandte und Kollegen. Gebt alles für unseren gemeinsamen Weg! Dann schafft Ihr es, eure Träume wahr zu machen und uns in einem halben Jahr wiederzusehen."

    Sie blickte siegesgewiss in die Runde und der Applaus der Teilnehmer war ihr sicher. Alle klatschten sich allmählich in einen Rausch. Am Ende der Veranstaltung ging Deseo auf die Sugarcanes zu. Sie strahlten ihn an, als hätte jemand hinter ihrer Gesichtshaut eine Glühbirne eingeschaltet. Er hatte Sorge, dass sie die Szene von eben noch einmal ansprechen könnten, doch das taten sie nicht. Dagegen gaben sie ihm bereitwillig einen Termin für ein privates Beratungsgespräch – Kostenpunkt 400 Euro – in den kommenden Tagen.

    Deseo und Donald beschlossen, noch ein Bier zu trinken. Deseo hatte definitiv Gesprächsbedarf. Während die anderen Teilnehmer noch um die Sugarcanes wie gackernde Hühner umherscharwenzelten, verabschiedeten sie sich. Nach wenigen Metern lag die Vergnügungsmeile der Reeperbahn vor ihnen, die ihren Namen der historischen Tatsache verdankt, dass hier einstmals Schiffsseile geflochten wurden. Heute kamen hier nur noch die unsichtbaren Seile zum Flechten kurzfristiger körperlicher Beziehungen zum Einsatz, so wie auf dem Kopfsteinpflaster des zur Hafenstraße leicht ansteigenden Hans-Albers-Platzes. Während die Kneipen am Wochenende vor Vergnügungswütigen überquollen, gingen draußen aufreizend drapierte Damen wie Fischerinnen auf Freierfang. An Touristen, Einsamen, Halbstarken, die ihren Mut beweisen wollten, und Betrunkenen, die ihre Hemmungen am Tresen heruntergespült hatten, gab es freitags und samstags keinen Mangel. Sie ließen sich auf der Straße locken, in den Kontakthöfen, durch die Fenster der Herbertstraße.

    Am Sonntag verirrten sich dagegen nur wenige Besucher auf den Kiez – die Ruhelosen, die nach wie vor Einsamen und Menschen wie Deseo und Donald, die nur mal ein oder zwei Bier zusammen trinken und sich unterhalten wollten.

    Sie erreichten die Hafenstraße – einstmals wohl die rebellischste Meile der Republik. Die Krawalle waren lange verklungen, die Besetzer von einst besaßen Mietverträge und führten ein normales Leben. Nur den Blick auf die Elbe gab es noch und das Schild vom Onkel Otto, der früheren Anti-Establishment-Kneipe par excellence, wo sich Hausbesetzer, Punks und alle anderen trafen, die etwas gegen das „Schweinesystem" hatten.

    Wo früher regelmäßig umfangreiche Bulleneinsätze tobten und Wasserwerfer anrollten, gab es heute Szenekneipen für Jedermann, wo der Gast unbesorgt im gepflegten Dress und mit Mercedesstern vorfahren konnte.

    Der Immobilienwahn, der St. Pauli, die Elbuferstraße und den Fischmarkt in den letzten Jahren mit einem künstlichen Zuckerguss aus Neubauten überzogen hatte, machte auch vor der Hafenstraße nicht halt. An der Rückseite der einstigen Besetzer-Avenue, wo vor Jahren krawalllustige, biertrinkende und kiffende junge Menschen jeden Anzugträger mit Farbbeuteln traktiert hätten, präsentierte sich heute ein schickes und vornehmes Restaurant – weiße Tischdecken, gesteifte Kellner: „Sehr wohl, der Herr, darf es eine Barbe auf Möhrchenschaum sein? Oder als Plat du Jour Antikapitalistennierchen im Dialog mit Bierdöschen und zum Dessert noch einen Schlag in die Fresse?"

    Genau dort, an einer von der Hafenstraße im Bogen abzweigenden Sackgasse, lag die „Amphore", früher ein Puff, heute eine Kneipe und Bar im Souterrain mit Biertischen auf dem Bürgersteig. Deseo und Donald nahmen Platz und ließen ihre Blicke über den Fluss und den Hafen schweifen. Gegenüber prahlten die wuchtigen Docks von Blohm & Voss mit einem riesigen und hell erleuchteten Kreuzfahrtschiff. Die Dämmerung zog sich an diesem lauen Frühlingsabend im Mai in die Länge. Der Himmel über der Elbe war noch nach einundzwanzig Uhr in ein meerfarbenes Dunkelblau getaucht. Modriger Geruch drang vom Fluss herauf. Eine Kellnerin stellte sich in den Blick.

    Donald orderte zwei Astra bei ihr. Deseo sah ihn erschrocken an. „Es scheint mir, die Stillosigkeit färbt ab", sagte er.

    Donald zuckte die Schultern und entgegnete gut gelaunt: „Ist doch Kult, darauf kommt es an."

    Deseo verzog sein Gesicht zu einer Grimasse des Unwillens, als die kräftige Kellnerin kurz darauf die Proll-Knollen auf den Tisch knallte.

    Distanziert musterte er sie, als stünden sie in einem Museum: „Donald, ich weiß nicht recht, was ich von deinen Sugarcanes halten soll. Besonders süß ist ihre Medizin ja nicht. Im Gegenteil: Die heizen ihren Kunden ganz schön ein. Findest du das in Ordnung?"

    „Das darfst du nicht persönlich nehmen, Deseo, auch wenn ich zugeben muss, dass du heute ordentlich rangenommen wurdest. Aber deine Reaktion war goldrichtig. Du hast dich verteidigt, und zwar mehrmals. Das kommt bei denen gut an. Aber erst mal Prost."

    Sie stießen an und nahmen einen kräftigen Schluck.

    „Ist das ihre Methode?, wollte Deseo genauer wissen. „Seelenstriptease?

    „Also mir haben sie auch schon einen eingeschenkt. Sie sagten, ich wäre zu materialistisch, deshalb hielte es auch keine Frau länger als vier Wochen bei mir aus. Dann haben sie versucht, mir weiszumachen, ich versteckte mich hinter einer Fassade, zeigte keinem, wer der wahre Donald sei, und ich muss sagen, sie haben recht", sagte er gleichgültig.

    „Ich will gar nicht, dass ´ne Frau länger als vier Wochen bei mir ist. Siehst du das nicht genauso? Und diese dauernde Gefühlsregung, die man dann zeigen muss, ist auch nicht mein Ding."

    In der Tat: Gefühle zu zeigen – darum konnte es nicht gehen, dachte Deseo, weder in den Kursen noch in diesem Gespräch hier. „Aber was soll das bringen, dass sie ihre Kunden fertigmachen?"

    „Ach, das musst du sportlich nehmen", sagte Donald und trank sein Bier aus.

    „Du bist doch sonst auch nicht so gefühlsduselig. Wichtig ist, dass du die finanziellen Vorteile siehst. Man wird abgebrühter, wenn man seine Emotionen kontrolliert oder besser noch ... – Donald reckte den Hals wie ein eitler Schwan – „... gar keine besitzt.

    Deseo fand das denn doch ein wenig krass. Er sah ein spätes Ausflugsboot die Landungsbrücken ansteuern. Wie ferngesteuerte Figuren verließen alle Passagiere die Außendecks, um sich vor den Ausstiegsluken aufzureihen.

    „Du meinst, dass ihre Behandlungen wie Prüfungen sind, kaltes Wasser, an das man sich gewöhnen soll? Damit man besser funktioniert?"

    „Und zielstrebiger wird, ergänzte sein Freund, „sich nicht durch andere von seinen Ideen abbringen lässt. Sie nennen das ‚man selbst sein’.

    Um seine permanent höhnischen Mundwinkel legte sich ein Schatten. Einige betrunkene Punks zogen vorbei und beschimpften die Gäste als Spießer und Geldsäcke. Donald sah Deseo an: „Diese Verlierer! Die sind doch nicht sie selbst. Sie laufen nur einer Idee hinterher. Er machte eine kurze Pause. „Wer will in unserer Welt ohne Geld leben? Die doch auch nicht. Die betteln drum. Und deshalb gibt es keine besseren Berater als die Sugarcanes. Sie haben das Finanzielle immer im Blick, denn wohlhabende Kunden so wie wir ... – er wies dabei mit dem Zeigefinger auf seine stolzgeschwellte Brust – „... helfen ihnen, ihre Geschäfte zu sichern."

    Deseo war immer noch skeptisch: „Aber wie soll das funktionieren mit der ‚Kunst, Wohlstand zu erreichen’?"

    Donald lachte und zeigte seine weiße obere Zahnreihe mit den scharfen Schneidezähnen und den Goldlegierungen.

    „Du musst ihnen folgen – als Ratgeber. Nichts hinterfragen, sondern akzeptieren, was sie sagen. Börsenhändler wie ich orientieren sich am Kurszettel. Mach die Sugarcanes zu deinem Kurstableau und deine persönlichen Werte rauschen ab."

    Donalds Augen strahlten. Er sah jetzt aus wie die Sugarcanes nach Ende der Veranstaltung. In seiner Euphorie war er nicht mehr zu stoppen: „Ich verdiene mit ihnen richtig Geld. Kürzlich eines Nachmittags – ich fühlte mich matt und hatte keine vernünftigen Trades hinbekommen – rief ich sie out of the blue in New York an. Ich ließ mich am Telefon beraten. Sie sagten, ich sollte nicht aufgeben, meinem Ziel treu bleiben, und was glaubst du?"

    Er zündete sich eine Zigarette an, nahm einen kräftigen Schluck aus der neuen Astraknolle, die die Kellnerin zwischenzeitlich gebracht hatte, und hämmerte die Flasche auf die Tischplatte.

    „Plötzlich fiel mir eine Aktie ein, die ich schon lange auf der Liste hatte. Die hatte fünfzig Prozent verloren in einem Monat, ohne Grund, nur weil die Märkte es so wollten. Ich sagte mir, jetzt sind die günstig und kauf ein paar Calls. Keine Stunde später kamen die mit einer Hammer-Gewinnmeldung und das ganze Papier ist noch am selben Tag um fünfzehn Prozent hochgegangen, die Calls um das Doppelte. Ohne den Anruf hätte ich sie nie gekauft. Nachdem ich sie abgestoßen hatte, blieb mir so viel Kohle, dass ich die Sugarcanes davon die nächsten zehn Jahre buchen kann."

    Donald lachte laut und anhaltend, sodass sein feistes Gesicht wackelte. Die Freude über den Coup schien grenzenlos. Die Leute an den Nachbarbänken drehten sich um.

    Er beruhigte sich und sprach leiser weiter, beschwörender: „Man muss klar sein und an sich denken, nicht zögerlich. Du musst dir das nehmen, was für dich am besten ist. Das gilt etwa für deinen Börsengang. Den musst du jetzt durchziehen. Du kannst damit so ein Heidengeld verdienen, sag ich dir."

    Deseo lächelte. „Ich will es versuchen. Ich habe mir vorhin einen Privattermin bei den Sugarcanes geben lassen. Vielleicht bringt es ja die Sache voran."

    „Exzellent! Lass uns noch einen bestellen", rief Donald aus und gab der Kellnerin ein Zeichen.

    „Kennst du eigentlich diese anderen Typen?", fragte Deseo, nachdem die frischen Knollen auf dem Tisch standen.

    „Ein paar nur. Die sind ein bisschen anders drauf als wir. Das hast du ja selber festgestellt. Die legen auf andere Sachen Wert, quatschen von Erleuchtung und so, wollen ihre Probleme beseitigen. Dadurch wird viel Zeit geschluckt. Aber so ist das nun einmal."

    „Ich finde diese Typen komisch. Der fette Typ mit der dicken Brille hat doch selber einen an der Klatsche", bemerkte Deseo halb angewidert.

    „Ach, der Andy, das kann sein", pflichtete Donald ihm bei. „Aber lass die Typen so sein, wie sie sind. Sie füllen die Kurse und das ist das

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