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Untergang: Spocks erster Fall
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eBook278 Seiten3 Stunden

Untergang: Spocks erster Fall

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Über dieses E-Book

Bomben-Attentäter im HSV-Stadion! Kriminalhauptkommissar Spock, geplagt von Kopfschmerzen und unstetem Leben, ermittelt
mit seinem Team bei rätselhaften Autonomen und mysteriösen Islamisten. Die Polizisten ermitteln an Feuertonnen am Hamburger Strand, es verschlägt sie in geheimnisvolle Keller und an den Vorabend einer Weltrevolution, während
undurchsichtige Geschäftspraktiken ans Licht kommen und ein Unbekannter ihnen rätselhafte Botschaften zuspielt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum11. Feb. 2022
ISBN9783754184943
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    Buchvorschau

    Untergang - Carlsen Hörmie

    Samstag

    Carlsen & Hörmie

    Untergang

    Spocks erster Fall

    1

    Mit glasigen Augen starrten sie auf das Spektakel, in ihren Augen spiegelte sich der Funkenregen. Die nächste Explosion zerriss die Nacht, Blitze und Flammen erhellten ihre Gesichter. Die AIDA, groß, dickbauchig und schwer, stand in Flammen. Im Halbkreis darum herum, wie um einen kranken und kreischenden Kakadu, tuteten und dröhnten die vor Anker liegenden Schiffe. Von allen Seiten drängte die Masse, näher und näher. Die Gaffer, sie wurden bespaßt, es stank nach Schweiß und Alkohol, die Luft wog schwer von verbranntem Fett und Rauch. Das Gedränge wurde unerträglich.

    »Für so einen Kack haben sie Kohle.«

    »Scheiß Kapitalisten.«

    »Ich kann mir nicht mal 'ne Karte für's Stadion leisten. Nicht mal Stehplatz. Verstehst du!«

    »Nee.«

    »Sitzen is' für'n Arsch.«

    »Alles plattmachen, Geige. Hörst du mir zu? Weghauen, plattmachen, versenken.«

    »Lass geh'n.«

    »Schön wenn alles brennt.«

    Hansen und Geige warfen einen letzten schwammigen Blick auf das Riesenschiff. Feuerwerksflammen spiegelten sich im Wasser und züngelten, Hansen murmelte einen letzten Fluch, »Bürostuhlfurzer«, dann wandte er sich ab und rempelte sich seinen Weg frei, den langen Geige im Schlepptau, durch die Quickborner und durch die Pinneberger hindurch. Wer die beiden sah und roch, wich ihnen aus. Hansen hätte den Vorstadtaffen am liebsten die Fresse poliert, er war bloß zu klein und zu sediert dafür; Geige dachte an das große Ding, den satten Knall, von oben sah er auf die Menge, während er Hansen folgte. Ein gewöhnlicher Hafengeburtstag, das Gleiche wie jedes Jahr, wie letztes und nächstes und immer.

    Sonntag

    2

    Noch vier Minuten bis zur Halbzeitpause, mit Glück eine Minute länger. Kein einziger Koffer, nirgendwo. Spock wurde von der Sonne geblendet. Die Frühlingssonne schien ihm schräg von links ins Gesicht, die braunen Augen verengten sich zu Schlitzen, sein Gesicht schien stärker von Falten gezeichnet denn je. Wie jedes Jahr im Mai, wenn die erste warme Sonne sich heraustraute, war ihm, als hätte er seit einer unermesslich langen Zeit im Dunkeln gelebt, als wäre Sonnenlicht nichts mehr für ihn. Er streckte sich und sah sich um. Es roch nach Bier. Spock blickte auf das Spielfeld. Eine leichte Brise schmeichelte seinen Ohren, noch immer warm zu dieser Tageszeit, Vorbote des Sommers.

    Auf der Gegengeraden, klein und regungslos, für Unachtsame kaum zu sehen, stand Janusz Tomasz Krczk. Sein Kollege, sein Freund. Cool, emotionslos, immer für ihn da. Keine langen Worte, kurze Gesten, Blicke, blindes Verstehen. Links und rechts von ihm sah er belanglose Gestalten auf Toilettengängen in einem ereignislosen Spiel. Der Geruch der Müllverbrennungsanlage war weniger penetrant als früher. Flutlichtmasten ragten über das Stadion hinaus und wiesen in den blauen Himmel.

    Wenn es wenigstens um was ginge! Internationaler Wettbewerb, gegen Bayern, oder zum mindesten Nordderby gegen die grünen Fischköppe – aber belangloses Gekicke zum Ende der Saison gegen Sandhausen? Wahrscheinlich war die Bombendrohung nur eine Finte, um Polizeikräfte abzuziehen, und irgendwo anders würde gerade die Elphi, die AIDA oder das Rathaus gesprengt!

    Vierzig Mann waren abgeordnet und hatten sich im Stadion verteilt, zivil und in Uniform. Und dennoch. Gleich schiebt sich hier oben der Riesenpulk zu den Bier- und Wurstständen, dachte Spock. Dann wird es unmöglich, irgendwas zu sehen. Wo ist der Entschärfungsdienst? Diese Drohungen, nie weiß man, ob es ernst ist oder irgendein Vollhorst etwas auf einen kleinen Zettel geschmiert hat, um sich wichtig zu machen. Man kann doch nicht jede Veranstaltung absagen! Die Erleuchtung ist nahe! Was sollte das? Glaubhaft, ja, glaubhaft schien die Warnung, vor zwei Stunden aus dem Nichts eingetrudelt, per Mail, aber was war der Sinn? Und gleich zwei Warnungen? Eine andere per Kurier abgegeben. Merkwürdig. Umso eindringlicher!

    Spock spürte, wie es ihm in den Hals hochstieg, das Blut zog in den Kopf und pulsierte in den Schläfen. Zwei schwarzhaarige Typen näherten sich ihm im Schlendergang, gegelte Haare. Während des Spiels? Sie kamen von links, nicht von den Rängen hoch. Lange Schatten. Entweder Blasenschwäche oder eine Bombe auf der Brust. Wahrscheinlich könnte er sie nicht mal ansprechen, weil sie nur Respektdigger chama chömma ismeinBruder antworteten. Schon hörte er es in seinem Kopf, als würden sie es tatsächlich gerade sagen. Wann hatte das begonnen, diese kurzen Entgleisungen mitten im Alltag?

    »Stopp mal! - Ihr zwei!« Keine Reaktion. Spock zückte seinen Dienstausweis. »Kriminalpolizei. Bleiben Sie bitte stehen, Routineuntersuchung!« Der Kurze warf einen Blick auf den Ausweis, er verzog seinen Mund langsam zu einem Lächeln. Provokant langsam, fand Spock. Der Lange baute sich breitbeinig vor ihm auf. Wieder der Druck im Schädel.

    »Guten Tag, Officer! Wie können wir einem Staatsdiener helfen, Mann?«, antwortete der Kurze in perfektem Norddeutsch, während der Lange grinsend auf Spock hinabblickte. Freundliche Augen, weicher Mund, Ohrring.

    »Öffnet mal bitte eure Jacken, es ist eine Drohung eingegangen. Und schön langsam!«

    Beide zogen an ihren Reißverschlüssen. »Wir helfen gern! Wenn du Unterstützung brauchst!« Trainierte Brustmuskeln und Sixpacks zeichneten sich unter den enganliegenden T-Shirts ab. Keine Kabel, kein Zünder, keinerlei Sprengstoff.

    »Danke, dann holt mal euren Pausentee.«

    »Sind doch nur einfache HSV-Anhänger.«

    »Krasse Ehre, Scheriff!«, winkte der Kurze zum Gruß.

    »Chill ma’!«, grinste der Lange. »Nur der HSV!«

    Sie gingen an ihm vorüber und Spock sah, dass der Lange sich offenbar auf eine Portion Pommes gesetzt hatte, jedenfalls klebten diverse plattgedrückte, hellbraune Stangen an seiner Jeans.

    Einfache HSV-Anhänger, entfachte IS-Fanatiker! hallte es in Spocks Kopf nach. Wie hätte Krczk, sein Kollege, die Situation gelöst? Auf jeden Fall entspannter. Zum Glück war der Spuk rasch vorübergegangen. Was machte Krczk überhaupt? Spock blickte auf.

    Gegenüber, weit oberhalb der Trainerbank sah er ihn als kleinen Strich. Er stand immer noch seelenruhig an den gleichen Pfeiler gelehnt und beobachtete die Ränge. Krczk wirkte wie einer der anderen vierundvierzigtausend Gelangweilten, die das öde Ballgeschiebe mit stetig schwindender Hoffnung auf einen Treffer anschauten.

    Spocks einzige Hoffnung bestand darin, die angedrohte Explosion einer Bombe zu verhindern. Er scannte die Reihe der apathischen Zuschauer, deren Gesichter dem Ball folgten, doch so oft er nach einem Anzeichen Ausschau hielt, das Ergebnis blieb dürftig. Spock zückte sein Handy. Nicht mal Fotos durfte man mit den Dingern machen. Und die Regierung gab Digitalisierung als Motto aus! Er drückte Krczks Kurzwahl.

    »Spock, was Neues?«

    »Nichts, nur zwei Nicht-Bio-Deutsche ohne Bombe. Und bei Dir?«

    »Null, wie auf dem Platz.«

    »Aber da werden wir die Antwort wohl kaum finden.«

    »Da werden wir die Antwort kaum finden.« Kurze Pause. »Hast du schon zwei Pommes bestellt? Gleich wird’s voll.«

    »Ich hab‘ ‘ne Scheißangst, Kirk. Überhaupt kein gutes Gefühl im Bauch bei der Sache.« Spock sog Luft in den Mund. »Wo sind die Jungs vom Entschärfungsdienst?«

    »Gute Frage.« Sie beendeten das Gespräch.

    Spocks Finger verkrampften sich. Die Schultern taten ihm weh. Seine Muskeln waren auf unangenehme Art angespannt. Der Kopfschmerz kam zurück und mit ihm der Drang, sich abzulenken. Er sah weiter nach rechts unten auf die Tribüne und blickte auf einige Frauen, die blaue Fahnen schwenkten. Immer der Stress, die lauernde Gewalt, die dazu führte, dass er sich nicht konzentrieren konnte und dass ihm der Anblick jedes Hinterns und jedes Fetzens nackter Haut ins Blut schoss. Wie lange hatte er keinen Sex gehabt? Oder jedenfalls keinen zärtlichen, bei dem er am nächsten Morgen noch zum Kaffee einlud. Was in seinem Loch in Nord-Barmbek auch schwer denkbar war. Kaffee gab's dann nur mit Schmitter, bei der Dienstbesprechung. Schmitter saß in der letzten Zeit immer öfter im Büro und sortierte Akten. Woher kamen diese Gedanken, die plötzlich wie Blitze in seinen Kopf schossen? War das einfach nur das Brainstorming, das man brauchte, wenn man Fälle lösen wollte? Warum konnte er sich nicht einfach auf das konzentrieren, was vor ihm lag?

    Ein schriller Pfiff zerriss seine Gedanken. Freistoß. Auch das noch! Worauf sollte er achten? Araber? Schmuddelige zerlumpte Linke? Der unbekannte Kurierbrief hatte »vollbärtige Herren« ausdrücklich ausgeschlossen. Kurzhaarige? In der E-Mail-Warnung war beinahe eine Personenbeschreibung enthalten. Ein junger Mann. Die Sonne stand tief, blendete noch stärker, der Platz war in Schatten und Licht geteilt, man konnte nichts sehen, im Schatten gegenüber war alles schwarz. Mist! Fuck! Die Bombe konnte ebenso gut direkt über der Trainerbank liegen! Und der Geruch, nach ranzigem Fett, da kriegte jeder Kopfdröhnen. Die obligatorische Putzfrau mit Kopftuch räumte die Mülleimer frei, ein Schwarzer hob etwas Undefinierbares mit einer Kralle auf, wie sie früher nur die Hausmeister in den Schulen hatten.

    Der Schiri gab den Freistoß frei, während die ersten Zuschauer schon die Stufen hochströmten. Zu viele! Mist! Es wurde unübersichtlich. Plötzlich sah Spock, wie Kirk aus dem Nichts lossprintete, er sprang auf die Absperrung. Stieß sich von ihr mit voller Geschwindigkeit ab und … Was machte er? Spock zuckte. Kirk hob die Arme wie beim Köpfer über den Kopf. Er flog! Abwärts. Er glitt im Hechtflug über die Köpfe mehrerer Reihen hinweg. Kirk prallte mit jemandem zusammen, beide verschwanden zwischen den Sitzreihen. Spock lief nach vorne an die Kante.

    Kirk stürzte sich auf einen Kerl, schlug ihm etwas aus der Hand und riss ihm die Jacke auf. Er kniete auf den Oberarmen des Kerls, den er am Boden festgenagelt hatte. Der starrte Kirk unter einer Kapuze mit aufgerissenen Augen an. Er schien Anfang zwanzig zu sein. Neben ihm lagen die Teile eines Smartphones, unter seiner Jacke lugten zwei flache Pakete hervor. Kirk konnte einen Teil der Beschriftung lesen.

    »91% RDX... Verfluchter Scheißdreck, C4! Was sollte das werden? Aufstiegsfeuerwerk? Märtyrergemetzel?«

    Kirk verlagerte sein Gewicht und verstärkte den Druck auf den Oberkörper des Hänflings.

    »Du liegst hier und du wirst hier liegenbleiben. Kein Zucken! Verstehst du mich?«, sagte er zu dem Jüngling, der keine Regung zeigte. Kirk griff zum Handy.

    »Spock?«

    »Ja, mein Captain.«

    »Könnt uns abholen, in 18B.«

    »Kein Knall?«

    »Kein Knall. Alles safe. Hast du die Pommes?«

    Spocks Kopfschmerzen waren verschwunden. Er musste grinsen. Hatte ihn das Licht zurück? Begann jetzt der Sommer? Er lachte und sein Gesicht wirkte plötzlich wie das des vertrauensvollsten Kindes, das es auf der Welt gibt. Eine Dunkelhaarige, Typ Krankenschwester, ging an ihm vorbei und strahlte ihn an, kurzer Blick in die Seele. Oder in die bevorstehende Nacht.

    3

    »Eine niveauarme Partie, die mit einem glücklich erzielten Treffer für das gastgebende Team der Hamburger ...« Fußball. Jedem das Seine. Schwitzende, stinkende Körper, die aneinandergeraten. Widerlich, beinahe tierisch.

    Die Erhabenheit der Nachtruhe. Die Stille der Welt, eine stille Kammer, wo des Tages Jammer verschlafen und vergessen wird. Eine Kerze, ein Glas und ein weißes Blatt Papier, aus dem alles entsteht, die Welt aus dem Gedanken, aus meinem Gedanken. Mehr schreiben sie nicht? Keine besonderen Vorkommnisse? Bedauerlich. Die Ordnungshüter haben einen Zufallstreffer landen können. Bei dem Intellekt kann es nur Zufall gewesen sein. Obwohl, der Kommissar gefällt mir, er ist abgründig, er kennt den Schatten. Besser, dass es nicht geschehen ist. Ach, wenn man nur nicht aufgrund seiner Aufgabe zur Verantwortung gezwungen wäre.

    Was lese ich? »Die Sicherheit Hamburgs wird unterminiert!« Die Presse. Sie ist so vorausschauend und wissend. Sie ist so nah dran und doch ahnungslos und unwissend.

    Zehn Tage. Innerhalb von zehn Tagen geschieht es. Gestern war ich draußen und sah den Hafen. Die feiernden Menschen. Zehn Tage, habe ich da gedacht. Die Frist habe ich mir gesetzt. Spätestens in zehn. Von gestern aus gerechnet, das heißt, spätestens am nächsten Sonntag und dann am Montag. Aber das Pulver nicht zu früh verschießen. Nein, nicht von der falschen Seite aus. Langsam aufbauen. Und dann.

    Journalisten, Stadionbesucher, Wachtmeister, Fußballspieler, allesamt, wie soll ich sagen, unrein. Wie die feine Schicht unter den Fingernägeln.

    Montag

    4

    »Wie hast du ihn denn erkannt?«

    »Intuition, Partner! Die Wahrheit liegt auf dem Platz.«

    Spock schüttelte den Kopf. »Wie jetzt?«

    »Ziellos den Blick schweifen lassen, dann sehen, was auffällt.« Kirk sah sehr entspannt aus.

    »Faszinierender Röntgenblick. Nu‘ sag schon.« Spock wurde ungeduldig. Er sah in Kirks himmelblaue Augen.

    »Nicht auf die Einzelheiten fokussieren, das Ganze im Blick haben.«

    »Das Ganze?«

    »Das Ganze.«

    »Nu‘ sag schon.«

    Kirk schwieg.

    »Kirk?«

    »Er ist sitzengeblieben.«

    »Er ist sitzengeblieben?«

    »Er ist sitzengeblieben, ja.«

    »Aha. Natürlich. Na dann! Nur du hast gesehen, dass er sitzengeblieben ist. Die Lösung des Rätsels ist: er ist sitzengeblieben.« Spock sah Kirk auffordernd an. »Wow! - Kirk!?!«

    Kirk gab nach. »Der Typ hat sich immer wieder umgeschaut.«

    »Umgeschaut?«

    »Ja.«

    »Kirk!«

    »Als die andern aufs Spielfeld gesehen haben, beim Freistoß, jeder guckt da nur in genau eine Richtung – zum Freistoß. Nur er nicht. Dann blieb er sitzen, fummelte an was rum, dann bin ich los …«

    Kriminalhauptkommissar Janusz Krczk, Kirk, und Kriminalhauptkommissar Frank Taubart, Spock, standen nebeneinander und warteten vor Schmitters Büro. Neben ihnen muffte der dunkle Flur, durch die kleinen Fenster drangen die dunklen Schatten der Hamburger Speicherstadt. Wenn der Neubau komplett fertig ist, dachte Spock, demnächst, möglicherweise in nicht allzu ferner Zukunft – zeitnah, hieß es – dann wird alles schön aufgeräumt, hell und klar sein. Schluss mit dem Dunkelbraun, Schluss mit Mahagoni, Schluss mit Funzellicht und dunklen Ecken! Spock gähnte. Würde er das gut finden? Wenn alles gestylt wäre, alles sauber und offen daläge? Kirk warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

    »Kurze Nacht?« Kirk sah zu Spock.

    »Viel zu kurze Nacht.« Spock erwiderte den Blick. Kirks Kurzhaarschnitt war wie immer in guter Form und richtiger Länge. Er schien nicht viel Zeit vor dem Spiegel zu verbringen, wirkte aber frisch und ausgeschlafen.

    »Jetzt?«, munterte Kirk ihn auf.

    »Jetzt.« Spock klopfte zwei Mal kurz an und öffnete die Tür zum Büro ihres Vorgesetzten.

    Kaum zu sehen, befand sich der Erste Kriminalhauptkommissar Nikolaus Schmitter hinter seinem Schreibtisch. Viel Papier, Aktenordner, Ausdrucke, möglicherweise Behördenrundschreiben und Dienstanweisungen, alles gut sichtbar ausgebreitet, gestapelt und aufgetürmt. Schmitters müdes Gesicht stieg wie ein welker Mond aus einem halbhohen Stapel Zettel auf und zeigte ihnen sein schlaffes und leiderprobtes Grinsen.

    »Meine beiden Lieblingskommissare! Auch schon ausgeschlafen?«

    »Moin Chef!« Sie salutierten wie gewohnt und warteten.

    »Nun, was habt ihr mir zu sagen?« Schmitter baute sich mit dem zu erwartenden leichten Ächzen hinter dem Schreibtisch auf. Seit seiner letzten Fortbildung zum Thema Menschenführung hatte er es sich angewöhnt, ihnen zuerst das Wort zu überlassen. ‚Zuhören können und dem Mitarbeiter Raum zur Beteiligung gewähren‘ hieß das Modul, Teil eins der Reihe ‚Wertschätzen‘, er hatte ihnen davon berichtet und es schien ihm wichtig geworden zu sein. Schmitter setzte sich, wodurch es wieder schwerer wurde, ihn zu sehen.

    »Wir haben unter lebensbedrohlichem Einsatz unserer Kräfte«, begann Spock, »und unter großen Mühen verhindert …«

    »Spock!« Schmitter stand erneut auf und richtete seinen missmutigen Blick auf Kirk. »Drei Zuschauer fühlen sich belästigt, weil Kirk über sie hinweggesprungen ist, und unsere kommende Gleichstellungsbeauftragte, brauch ich euch ja nicht zu sagen, hat gleich Futter für ihre erste saftige Beschwerde! Das nutzt sie als erste Gelegenheit«, er wedelte mit einem Formular, das er irgendwo links obenauf liegend fand, »um nachzufragen, wie du sicher sein konntest, dass es sich um einen Mann handelt, und nicht um einen Intersexuellen. Spock, du hast den Bericht doch geschrieben! Der strotzt ja nur so von Sexismen.«

    »Soll ich ihn gleich im Stadion untersuchen?« Kirk setzte sich auf den freien Stuhl vor dem Schreibtisch.

    »Me too?«, fragte Spock; er blieb stehen, auch weil es in dem winzigen Büro keine weiteren Stühle gab.

    Schmitters Gesichtszüge entspannten sich, als er sah, dass Spock und Kirk sich rechtfertigten. »Gute Arbeit, Jungs! Wirklich gute Arbeit. Aber ...«

    »Danke, Schmitter.« Kirk sah seinen Chef an und wartete.

    »Aber … Sie sind festgenommen! Kirk: das sagst du immer als erstes, immer! Vorläufig festgenommen! Und dann fragst du, wie du die Person anreden darfst. Klar? Und dann die Gender-Sache! Schon mal von gehört?«

    Spock stöhnte. »Geschlechtergerechte Sprache, bis es dann gar keine Geschlechter mehr gibt?«

    »Gender.« Kirk schüttelte den Kopf. »Er hat doch *INNEN geschrieben!«

    »Einmal, Kirk, EIN-Mal. Und dann mit Schrägstrich, was schon lange nicht mehr geht! Das Gender-Gap ist nicht mehr, klar! Passt mal auf, ihr habt das gut gemacht, wirklich. Aber wir wissen nicht genau, wer die Hintermänner sind. Oder die Hinterfrauen. Und solange werden wir alles formal richtig machen, ist das klar? Sonst kann uns jeder kaltstellen.« Schmitter sah weiterhin zu Kirk. »Er hat das Ding runtergekliert und ist dann noch umhergezogen, oder, Spock? Wieder mal keine Zeit für den Papierkram, was?« Nikolaus Schmitter setzte sich und schob einen Berg Akten zur Seite. Der oberste Ordner schlingerte, kippte, und bei seinem Versuch, den Absturz zu verhindern, stieß Schmitter den ganzen wackeligen Turm um. Blitzartig schnellte er um den Schreibtisch herum und erwischte mit katzenartiger Eleganz zwei Leitz-Ordner, bevor sie auf den Boden aufschlugen. Er klaubte die Papiere zusammen und legte alles auf den Besuchertisch, er atmete hörbar. Dann kehrte er wortlos zu seinem Bürosessel zurück und setzte sich mit einem Seufzer wieder hin. Freie Sicht, immerhin. Kirk und Spock sahen ihn an. Der kleine Dienstvorgesetzte zeigte keine Regung, er schwitzte, nur ein schmales Lächeln schien in einem Mundwinkel auf: Na, diesen Speed hättet ihr dem Alten nicht mehr zugetraut, ihr jungen Spritzer.

    Spock erbarmte sich nach einer Pause. »Ich bin nach Hause, Chef!«

    »Kann ich bestätigen, Schmitter!« Kirk blickte regungslos in Schmitters froschartige Augen. Schmitter trippelte mit den Fingerspitzen auf dem Tisch herum, setzte sich gerade hin und wackelte mit den Beinen, als könnte ihn das alles einen Zentimeter größer machen.

    »Hinterfrauen?« Spock sah zu Schmitter und dann wieder weg.

    Die Sonne stand bereits so hoch, dass kaum Licht in die Mitte des Zimmers fiel. Spock ging einen Schritt zum Fenster; er sah die gegenüberliegende Häuserwand, er sah auf die Speicherstadt. Er erinnerte sich an den freien Blick auf die Elbe, der jetzt versperrt lag. Gleich hinter den nächsten Bürotürmen schob sich der Fluss gleichmäßig an der Stadt vorbei. Wasser, Ruhe, kein Geräusch von Schmitter. Spock sah sich friedlich auf einer Bank sitzen, nachdem er sich einen Cheeseburger und eine Mopo geholt hätte. Dann würde er das Kinoprogramm beim Astor studieren, drei Akten durchblättern und nach Hause fahren. Vielleicht könnte er heute wieder mal zur Videothek fahren und die Verkäuferin in eine Bar einladen. Ja, gleich würde der Tag sich zum Besseren wenden. Der Attentäter saß hinter Gittern, den Rest würden die niedrigeren Dienstgrade übernehmen.

    Er drehte sich wieder um. Die Trostlosigkeit der dunklen Möbel weckte sein Mitleid mit Schmitter. Hier stand alles still. Schmitter scheiterte nach wie vor mit dem Versuch, gleichzeitig überlegen zu grinsen und Kirk fragend anzusehen. Keiner sagte etwas. Spock ging einen Schritt auf seinen Dienstvorgesetzten zu und stützte die Hände auf dessen Schreibtisch. »Chef, du musst mehr Sport machen, sonst erlebst du deine Rente nicht mehr.«

    »Weil du deinen Bericht wieder rausgerotzt hast, ohne nachzudenken, hab‘ ich jetzt hier Ärger, Captain Spock!« Schmitter stand auf, ein kleiner, sich aufplusternder Vogel. »So komm ich erst recht nicht zum Heimtrainer! Du musst die weibliche Form mitbenutzen. Es ist nicht egal, wer du bist, du musst beide Formen berücksichtigen. Geh mit der Zeit, Mensch!

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