Gespräch und Gegenwart: Reden über (und gegen) den Zeitgeist
Von René Scheu
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Über dieses E-Book
Alle schreien, viele schweigen, die wenigsten sprechen noch miteinander. Das ist der Befund, der für das Zeitalter der sozialen Medien gilt. Doch gerade im digitalen Zeitalter sind Gespräche notwendiger denn je. Sie finden von Angesicht zu Angesicht statt, in der Präsenz zweier Menschen, zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Raum, hier und jetzt. Im Gespräch entwickelt sich zwischen zwei Menschen eine intellektuelle Intensität und Dynamik, die über das bisher von ihnen Gedachte und Gewusste hinausweist. Was so entsteht, ist für sie – und für die Leser – ein Denk- und Sprachabenteuer, im besten Fall schaffen sie etwas Neues. René Scheu präsentiert im Band seine besten Gespräche mit unterschiedlichen Protagonisten des Zeitgeschehens, Stanford-Professor Hans Ulrich Gumbrecht beleuchtet in einem Essay die Bedeutung des Gesprächs als literarische Form.
Gespräche mit Peter Sloterdijk, Niall Ferguson, Peter Thiel, Wolfgang Beltracchi, Francis Fukuyama, Mary Rorty, Condoleezza Rice, Peter Handke, Jonathan Franzen, Steven Pinker, Rüdiger Safranski, Jörg Baberowski, Daniel Kehlmann, Robert Harrison, Slavoj Zizek, Mario Vargas Llosa.
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Buchvorschau
Gespräch und Gegenwart - René Scheu
René Scheu
Gespräch und Gegenwart
Reden über (und gegen) den Zeitgeist
Herausgegeben von
Hans Ulrich Gumbrecht
NZZ Libro
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2020 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel
Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2020 (ISBN 978-3-907291-02-3)
Lektorat: Ulrike Ebenritter, Giessen
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.
ISBN E-Book 978-3-907291-03-0
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.
Für Isabella und Immanuel
INHALTSVERZEICHNIS
MONOLOG ZUM AUFTAKT
Hans Ulrich Gumbrecht: «Hand aufs Herz» – Interview als Gattungsgeschichte und der Moment von René Scheu
ZWANZIG INTERVIEWS
CORONA – PHILOSOPHISCH UND LITERARISCH
Markus Gabriel: Gut gelaunter Jungspund
Robert Harrison: Italianist im Baumhaus
KULTURHELDEN DER GEGENWART
Wolfgang Beltracchi: Künstler ohne Tabu
Xenia Tchoumitcheva: Eiserne Lifestyle-Performerin
Peter Maffay: Grundanständiger Rockstar
Robert Hunger-Bühler: Der Mann mit der ruhigen Stimme
Zucchero: Der Mann mit der sonnigen Stimme
Mario Vargas Llosa: Lateinamerikas Gesicht in Madrid
Peter Handke: Literarischer Pilzsucher
Jonathan Franzen: Lärmsensibler Ironiker
Daniel Kehlmann: Bestsellerautor aus einer anderen Zeit
TYPEN AUS DEM SILICON VALLEY
Mary Rorty: Heitere Philosophin
Peter Thiel: Paläophilosoph in Los Angeles
Sam Ginn: Superjunger KI-Pionier
Russell Berman: Geheimnisvoller Professor
Condoleezza Rice: Eindrückliche Frau, zierlich und stark
Francis Fukuyama: Der meistmissverstandene Intellektuelle
Niall Ferguson: Der Bodybuilder unter den Historikern
DENKER MIT ÜBERSICHT
Steven Pinker: Vollzentrierter Starpsychologe
Peter Sloterdijk: Feinsinniger Philosophiestar
ZUM SCHLUSS: GESPRÄCH ÜBER INTERVIEWS
Hans Ulrich Gumbrecht interviewt René Scheu: Denkseele mit Oberarmmuskeln
QUELLENANGABE UND DANK
BILDNACHWEISE
BIOGRAFISCHE ANGABEN
MONOLOG ZUM AUFTAKT
«Hand aufs Herz» – Interview als Gattungsgeschichte und der Moment von René Scheu
Von Hans Ulrich Gumbrecht
Natürlich geht jeder Text, den wir «Interview» nennen, auf ein Gespräch zurück – oder, um es genauer zu sagen, wir unterstellen, dass Interviews dies immer beanspruchen. Unter den Grundformen von Kommunikation standen Gespräche seit je hoch im Kurs – aus einer ganzen Reihe von Gründen. Sie gelten als offen, freundlich, demokratisch, besonders im Vergleich zu allen Formen monologischer Rede oder Schrift. Seit Platos sokratischen Dialogen werden Gespräche mit einem «mäeutisch» genannten Gestus der Vermittlung assoziiert, das bedeutet, mit einer Technik des Überzeugens, die Wahrheiten angeblich «wie eine Hebamme» aus dem Geist der Lernenden holt, statt sie ihnen aufzuerlegen. Daran ist die Hoffnung geknüpft, in Gesprächen intellektuell weiter zu gelangen als mit einsamer Konzentration. Denn in Gesprächen kann es zu Ereignissen kommen, also zu Einsichten, Entwicklungen oder manchmal auch Fehlern, die sich beileibe nicht ereignen mussten. Vor allem aber sollen sich in Gesprächen Wahrheiten zeigen, die ohne sie – also in monologischer Rede oder Schrift – unter den Wörtern ungesagt blieben.
Zum bildungsgesättigten Loblied auf das Gespräch gehört eine Gegenbilanz, die fast ebenso regelmässig heraufbeschworen wird – und kaum weniger konventionell klingt: Gespräche, weiss man, können als durchtriebene Strategien wirken, um monologische Positionen ohne Widerstand zu etablieren; als Instrument eines pädagogisch guten Willens, der in Psychoterror umzukippen droht; als scheinbar bewegte Inszenierungsform intellektueller Stagnation; und als langfristiges – wenn nicht definitives – Versiegeln von Wahrheit unter einem Simulakrum ihrer Erscheinung. Mit der durch Jean Baudrillard und Jacques Derrida inspirierten Formel vom «Simulakrum einer Erscheinung der Wahrheit» nähere ich mich bewusst dem – mittlerweile mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegenden – Impulsmoment der Dekonstruktion als philosophischer Bewegung, nämlich Jacques Derridas Buch La Voix et le Phénomène von 1967, das damals der klassischen Kritik an der Aura des Gesprächs eine aufregende Aktualität und Prominenz gab. Eben mit der Inszenierung einer Gesprächssituation als angeblichem Ursprung von geschriebenen Texten, dies war Derridas These, habe Plato in seinen Dialogen den entscheidenden Schritt hin zur Präsenz-Metaphysik der europäischen Philosophie vollzogen und mithin zum Glauben an die Existenz einer einzigen, homogenen Wahrheit.
Zu einer Art Sündenfall wurde dieser Schritt freilich erst, indem die Dekonstruktion der platonischen Priorität von Gespräch und Mündlichkeit die von Derrida (und bald auch von seinen damals zahllosen Anhängern) favorisierte Option einer Priorität der Schrift entgegensetzte. In ihr als Medium sollte jegliche Homogenität oder jeglicher Abschluss von Wahrheit den Status eines unendlichen «Aufschubs» annehmen, weil man ja jedem «letzten» Wort oder «letzten» Satz immer noch einen weiteren Satz oder ein weiteres Wort hinzufügen könne.¹ Genau darauf bezogen sich allzu viele, allzu geistreiche Wortspiele mit dem aus dem französischen Verb «différer» («aufschieben») abgeleiteten Nomen «différance». Doch was für eine Verbindung zwischen Gespräch und Mündlichkeit einerseits und andererseits homogener Wahrheit und Präsenz-Metaphysik war dabei eigentlich unterstellt? Wie sollte nach Derrida die platonische Vorstellung von einem Gespräch das in der Schrift sichtbar werdende Wahrheits-Aufschub-Prinzip unsichtbar machen? Die Dekonstruktion setzte in diesem Zusammenhang – für mich plausiblerweise – auf den generellen Eindruck (eher als auf die Gewissheit), dass sich im Gespräch die Einheit und Ganzheit eines menschlichen Bewusstseins, also eines Subjekts, artikuliere. Denn wir setzen in einem Gespräch ja voraus, dass der andere für sein jeweiliges Wissen steht, für seine Weltsicht, für seine Wahrheit – als das jeweils ganze Wissen, die ganze Weltsicht, die ganze Wahrheit eines Subjekts.
Doch warum gehe ich zu den brillanten Interviews von René Scheu aus den letzten Jahren eigentlich über den Umweg der Dekonstruktion als einer fast schon fernen Vergangenheit? Weil jedes Nachdenken über das Interview als besondere Form des Gesprächs, so meine Antwort, philosophisch naiv bleiben muss, wenn sie nicht die Prämisse beachtet, dass es sich unvermeidlich im Spannungsfeld zwischen dem klassischen Lob des Gesprächs und seiner ebenso klassischen Kritik vollzieht. Erst mit dieser Einsicht gewinnt man ein ironisch-distanziertes Verhältnis zu beiden Seiten der Debatte über das, was das «Gespräch» ist und sein sollte. Innerhalb des Spannungsfelds, also auch selbstironisch – und nun schon mit den Scheu-Interviews im Visier –, möchte ich nun die Ursprungskritik der Dekonstruktion am Gespräch ins Positive umkehren.
Gerade weil wir uns heute – existenziell wie epistemologisch – in einer Situation grundlegender Unsicherheit wiederfinden, in einem Universum von Kontingenz und im permanenten Bewusstsein intellektueller Unabschliessbarkeit, sehnen wir uns – legitimerweise – nach der Geschlossenheit, Prägnanz und Authentizität von Subjekten (wir können sie auch weniger philosophisch «Gestalten» nennen). Die Interviews von René Scheu – das ist meine Sicht, die ich nun zum ersten Mal erwähne, um sie dann in der Komplexität ihrer verschiedenen Dimensionen zu begründen – kommen genau dieser Sehnsucht unserer Zeit nach greifbaren Gestalten entgegen, ohne ihre Leser in falschen Sicherheiten zu wiegen. Um ein elementares Funktionspotenzial der Rede geht es hier also – viel mehr als um spezifische Inhalte. Und so drängen die drei Worte «Hand aufs Herz», die Lieblingsformel von Scheu in seinen Interviews, auf Authentizität in der Selbstpräsentation von Gestalten, auf eine manchmal riskante, aber unnachgiebig geforderte und durchgehaltene Ehrlichkeit, die Geschlossenheit in Aussicht stellt. Noch einmal anders gesagt: Als Autor dieser Interviews produziert und präsentiert René Scheu oft Gestalten, die kohärent erscheinen und an denen man sich festhalten kann, ohne dass sie ihre Leser auf unklare metaphysische Voraussetzungen oder gar auf einen Konsens mit den Positionen jener Gestalten verpflichten.
Ein solches Verständnis der Scheu-Interviews und ihrer Gesprächstechnik werde ich über die Skizze einer Gattungsgeschichte und dann über eine Analyse der Interviewtexte selbst zu entwickeln versuchen. Obwohl man erstaunlich wenige Vorarbeiten zur Gattungsgeschichte des Interviews findet, habe ich mich an eine solche Skizze gewagt, weil erst vor ihr als Hintergrund klar genug werden kann, von welcher historisch gewachsenen Konstellation meist wohl vorbewusster Erwartungen die Praxis von Scheu ausgehen musste – und mit jedem seiner Interviews weiterhin ausgeht. Und erst im Kontext dieser Konstellation gewinnen die Formen seiner Gespräche ihre jeweils spezifischen Funktionen, die dann in der Emergenz prägnanter Gestalten zusammenlaufen.
*
Beim Versuch, aus der Perspektive von «Gattung» über den von René Scheu praktizierten Typ des Interviews nachzudenken und zu schreiben, bin ich auf zwei Probleme gestossen. Zum einen erfüllen die meist verschriftlichten Gespräche, die wir «Interviews» nennen, eine beträchtliche Vielfalt verschiedener Funktionen, etwa als Einstellungsgespräche («job interviews»), als sozialwissenschaftlich genormte Forschungsgespräche («research interviews») oder als im Feuilleton von Tageszeitungen veröffentlichte Gespräche. Den Feuilleton-Interviews, auf die wir uns konzentrieren, scheint es primär um das Gegenwärtigmachen (in der Tat: um das Heraufbeschwören) von Persönlichkeiten zu gehen, aber oft auch um die Entfaltung von Wissen (wobei sich beide Funktionen natürlich überlappen können). Es handelt sich also um eine Untergattung, die sich nicht auf eine einzige Funktion festlegen lässt.
Die grössere Herausforderung für eine Gattungsgeschichte liegt jedoch in der Tatsache, dass die textuellen Formen von Interviews auf Gespräche zurückgehen, die unter spezifischen institutionellen Bedingungen stattfinden, ohne dass solche Bedingungen notwendigerweise einen Niederschlag in den Texten hinterlassen. Deshalb sind etwa alle Annahmen über den historischen Beginn der Persönlichkeits- und Wissens-Interviews grundsätzlich prekär. Historisch gesehen setzt die Subgattung des Persönlichkeits- und Wissens-Interviews erstens die Institution der Tages- und Wochenpresse voraus; zweitens deren Freiheit, bestimmten Texten keine spezifische Funktion (oder höchstens die vage Funktion der «Unterhaltung») zuordnen zu müssen; drittens wird ihr Beginn meist mit dem dritten Viertel des 19. Jahrhunderts und den Medien jener Zeit verbunden; und hinzu kommt viertens, dass die Gattung und ihr Name zuerst in den Vereinigten Staaten auftauchten, um erst Jahrzehnte später in Europa Fuss zu fassen.²
*
Noch um 1850 sahen selbst in den Vereinigten Staaten angesehene Zeitungsautoren und Reporter die Veröffentlichung von Gesprächen, die Eindrücke oder gar Details aus der Privatsphäre berühmter Gestalten zur Sprache brachten, als «poor journalist conduct» an, als «unwarranted invasion of privacy» oder als ein «indelicate and offensive parading of personalities», das Journalisten von «Interpreten der Gegenwart zu blossen Schreibern» herabstufe. Doch zugleich wurde ein Hunger der Leser nach «the real thing» deutlicher als je zuvor, nach «the state of mind of the nineteenth century» und nach «life as it was» – wozu «neu erschlossene Fakten» aus der Privatsphäre prominenter Gestalten gehören sollten. Woher kam auf der einen Seite dieses neue intensive Bedürfnis nach privater Wirklichkeit, in dessen Befriedigung sich die Massenpresse entwickeln sollte, und woher auf der anderen Seite jener nachhaltige Widerstand gegen die Verbreitung solchen Wissens, der offenbar in Nordamerika noch am frühestens gebrochen wurde? Jene hierarchischen Ständegesellschaften Europas, aus denen die Einwanderer gekommen waren, hatten den Einblick in das nicht repräsentative, «wirkliche» Leben der jeweils höheren Stände mit einem prinzipiellen Tabu umgeben, und zugleich pflegte jeder Stand sein homogenes Weltbild, das nicht durch Alternativen oder Abweichungen von aussen infrage gestellt wurde. Selbst jene private «Menschlichkeit», mit der vor allem Mitglieder der bürgerlichen Schichten im 18. Jahrhundert den neuen Raum der aufgeklärten Öffentlichkeit füllen und konstituieren wollten, war ja eine solche normative, sozusagen «keimfrei» kohärente Version familiären Glücks.
In dem Mass nun, wie über das 19. Jahrhundert vor allem in der Neuen Welt Kontakte zwischen den Mitgliedern ehemals voneinander abgeschotteter Stände zunahmen und zugleich die religiösen Institutionen immer weiter hinter der Aufgabe zurückblieben, ein übergreifend verbindliches Bild vom Leben zu stiften, muss der Stellenwert des Wirklichen zu einem verwandelten Status aufgestiegen sein. Er lag in der zuerst noch kaum bewussten Erwartung und Hoffnung, dass sich aus der Wirklichkeit und aus ihren Fakten eine neue, auch gemeinschaftlich verbindende Ordnung ergeben könne. Naturgemäss schmolz in der adelsfreien amerikanischen Gesellschaft der Vorbehalt von Prominenten «besserer Herkunft» schneller, Journalisten Zugang zu ihrem Privatleben zu gewähren. Am Ende freilich lassen sich der neue, die Privatsphäre einschliessende Faktenenthusiasmus und die entsprechende Entwicklung der Tagespresse nur dokumentieren – eine kohärente geschichtsphilosophische Deutung kann man diesen Tendenzen kaum abgewinnen. Um 1880 jedenfalls hatte sich die Idee des Persönlichkeits-Interviews in den Vereinigten Staaten «wie ein Steppenfeuer» verbreitet, während es nur allmählich in den englischen Zeitungen, dann im nördlichen Mitteleuropa (besonders dem Zweiten Deutschen Kaiserreich) und schliesslich nach der Jahrhundertwende auch in den Mittelmeerländern zu ersten, eher zögerlichen Versuchen mit der Gattung kam.
Damals erschütterte und begeisterte die Welt von New York schon ein Zeitungskrieg zwischen der New York World und der New York Sun, zwischen Joseph Pulitzer und William Randolph Hearst, die in gnadenloser Rivalität aus dem Hunger nach «Fakten» eine Sucht der «Sensationen» machten. Kein sozialer Raum war in dieser Hinsicht explosiver und attraktiver als das Privatleben der Prominenten, was Pulitzers bindende Anweisung und Anforderung für seine Reporter erklärt: «A vivid picture of his domestic environment, his wife, his children, his animal pets etc. – those are the things that bring the famous man clearly more home to the average reader than would his most imposing thoughts, purposes or statements.» Auf der anderen Seite galt unter amerikanischen Journalisten nun aber auch schon als ausgemacht, dass «nichts das wahre Selbst besser verbergen könne als ein Interview – es sei denn weitere Interviews».
Was ich als Spannungsfeld von zwei entgegengesetzten philosophischen Auffassungen des Gesprächs beschrieben habe, war also in der vor allem amerikanischen Frühgeschichte des Interviews zu einem Kontrast zwischen seinem Gebrauch als Medium der Ent-Hüllung und als Medium der Ver-Hüllung individueller Identität geworden. Daraus erwuchs während der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts – in meiner Sicht: während der ungekrönt grossen, jedenfalls der heroischen Epoche des Persönlichkeits-Interviews – ein komplexes Syndrom von «Authentizität», das nach den «Fakten» nun auch die «Sensationen» als Leitbegriff der Gattung ablösen sollte.³ Denn wenn der Faktenhunger und die Emergenz des Interviews als Gattung nach der Mitte des 19. Jahrhunderts noch auf das Gefühl reagiert hatten, dass sich die neue Vielfalt simultaner Welterfahrungen nicht mehr, wie früher, in einem einzigen, übergreifenden Weltbild auffassen liess, so wurde der Erste Weltkrieg als traumatische Schwelle von Zeitgenossen mit dem noch radikaleren Gefühl beschrieben, «den existenziellen Grund unter den Füssen verloren zu haben», ja sogar die Natur selbst und nicht nur die Annahme einer ihr impliziten Ordnung.
Es war die Mission der sich in jener Gegenwart ausformenden Totalideologien des Kommunismus und des Faschismus, aber auch einer Reihe weniger massiv organisierter Bewegungen, die verlorene Gewissheit eines Grundes und der Natur durch eigene Welt- und Wertentwürfe zu ersetzen. Die meisten dieser Entwürfe fassten sich entweder als «künstlich» oder als «authentisch» auf: als bewusst und programmatisch «künstlich», indem sie – wie etwa die Manifeste des Futurismus oder des Surrealismus – an die Stelle einer versunkenen alten Ordnung neue, geschaffene, eindimensionale, betont materielle Wirklichkeiten stellen wollten. Als «authentisch» galt dagegen das Versprechen, verdrängte, vergessene oder vernachlässigte Ordnungen der Vergangenheit wiederentdeckt und neuen Weltbildern zugrunde gelegt zu haben.
Anders als Künstlichkeit setzte und setzt Authentizität also zwei Wirklichkeitsebenen voraus. Man kann sie die Ebene des Grundes und die Ebene der auf ihr beruhenden Erscheinungen nennen. In diesem Kontext kam der nun mit einem Mal emblematischen Rolle des Journalisten eine doppelte Aufgabe zu, aus der sich zwei Textformen weiterentwickelten: zum einen die «Reportage» als Beschreibung des Erlebens neuer Erscheinungen, eines Erlebens noch ohne die Zeit für Tiefe und Interpretation;⁴ zum anderen das Persönlichkeits-Interview als ein Gespräch in Konzentration auf die beiden Dimensionen von Erscheinung und Grund. Es war ein Gespräch, das entweder Authentizität als organische Beziehung zwischen Erscheinung und Grund bei den Protagonisten verschiedenster Weltbilder bestätigte oder gerade deren innere Spannungen und Widersprüche sichtbar machte und ausleuchtete. Sowohl organische als auch widersprüchliche Porträts aber setzten erstens Authentizität als normativ-existenzielle Grundstruktur voraus und konnten zweitens – ganz unabhängig vom positiven oder negativen Bild, das der jeweilige Gesprächspartner hinterliess – die gelingende Authentizität des Interviews selbst bestätigen.
Unter diesen Prämissen wurde das Interview zu einer zentralen, zwar eher sparsam, aber besonders wirkungsvoll bespielten Bühne für eine Gegenwart markant charismatischer Persönlichkeiten in Politik, Wissenschaft und Kultur, für eine komplexe Gegenwart, die auf Authentizität fixiert war, sich an ihr festhalten wollte – und an ihr scheiterte. Um 1929 muss etwa die singuläre Bedeutung Albert Einsteins als Naturwissenschaftler für die Leser eines Gesprächs in der Saturday Evening Post so klar festgestanden haben, dass der Reporter ohne weitere Vorbereitung ihre Aufmerksamkeit auf eine Selbstbeschreibung seines Denkens lenken konnte: «I am enough of an artist to draw freely upon my imagination. Imagination is more important than knowlegde. Knowledge is limited. Imagination encircles the world.» Es folgte die obligatorische Bitte des Journalisten um eine allgemein verständliche Definition des Begriffs «Relativität» und um eine Illustration seiner Konsequenzen, bevor sich das Gespräch in einem damals typischen, zwischen komprimierten Beschreibungen und wörtlichen Zitaten oszillierenden Diskurs wieder dem privaten Leben des Nobelpreisträgers zuwandte: «Einstein, himself, didn’t indulge in any relativism. He was a man of strong beliefs, not equivocations. For instance, his love of music was absolute: ‹If I were not a physicist, I would probably be a musician. I often think in music. I live my daydreams in music. I see my life in terms of music. I cannot tell if I would have done any creative work of importance in music, but I do know that I get most joy in life out of my violin.›» Mit seiner Musikliebe und anscheinend bescheidenen Zurückhaltung bezüglich der eigenen Talente wirkt der private Einstein nicht nur sympathisch; aus der Konvergenz zwischen seiner Betonung der Rolle von Imagination für das wissenschaftliche Werk und den privaten Tagträumen, die sich «in Musik» artikulieren sollten, ergibt sich auch der Eindruck einer organischen Authentizität.
Ganz anders ein Interview, das George Sylvester Viereck 1923 für den Manchester Guardian mit Adolf Hitler führte, den Europa damals als «Deutschlands Mussolini» zu entdecken begann.⁵ Hier wurde im Wechsel von Zitaten und kurzen Beschreibungen – vor dem Hintergrund von Hitlers deutlicher Bemühung um ideologische Authentizität – eine Inkonsistenz spürbar, die der Text gar nicht explizit machen musste: «‹Why›, I asked Hitler, ‹do you call yourself a National Socialist, since your party programme is the very antithesis of that commonly accredited to socialism?› ‹Socialism›, he retorted, putting down his cup of tea pugnaciously, ‹is the science of dealing with the common weal. Communism is not Socialism. Marxism is not Socialism. The Marxists have stolen the term and confused its meaning. I shall take Socialism away from the Socialists. Socialism is an ancient Aryan, Germanic institution.›» Ganz ähnlich endet das Gespräch: «‹In my scheme of the German state, there will be no room for the alien, no use for the wastrel, for the usurer or speculator, or anyone incapable of productive work.› The cords on Hitler’s forehead stood out threateningly. His voice filled the room. There was a noise at the door. His followers, who always remain within call, like a bodyguard, reminded the leader of his duty to address a meeting. Hitler gulped down his tea and rose.» Der expliziten Gewissheit Hitlers in der Beschreibung seines Weltbilds widersprachen eine Anspannung, von der er sich offenbar nicht befreien konnte, und die Abhängigkeit von der Bürokratie seiner Partei. Nie fand er zu jener Gelassenheit, die allein ihn hätte authentisch wirken lassen.
Aus einem Interview schliesslich, das der damalige amerikanische Starjournalist Roy Howard am 1. März 1936 mit Stalin führte, ergab sich ein Gefühl für die Authentizität des Gesprächs und für die Inkonsistenz des Diktators weniger aus einer Spannung zwischen seinen Worten und der Beschreibung seiner Gesten als aus langen, durch keinerlei Reaktionen des Reporters mehr unterbrochenen Monologen, die fortschreitend den Kontakt mit der Wirklichkeit zu verlieren schienen. Am Ende einer eher hilflosen Antwort auf die Frage nach der Funktion von Wahlen in einem Ein-Parteien-System mündete Stalin in einen automatischen Rhythmus der Rede, der keinerlei Unterscheidungen oder Argumente mehr hervorbrachte: «Yes, election campaigns will be lively, they will be conducted around numerous, very acute problems, principally of a practical nature, of first class importance for the people. Our new electoral system will tighten up all institutions and organizations and compel them to improve their work. Universal, equal, direct and secret suffrage in the U.S.S.R. will be a whip in the hands of the population against the organs of government which work badly. In my opinion our new Soviet constitution will be the most democratic constitution in the world.» In solchen Passagen wird das Interview zur Dokumentation der damaligen Gegenwart, deren textuelle Evidenz fast keiner Kommentare und Interpretationen mehr bedarf.
*
Zu den seltenen Konsens- und Orientierungspunkten in der Geschichte der Presse gehört die Feststellung, dass sich der Fächer von journalistischen Formen und Funktionen, wie er in den Vereinigten Staaten seit dem späten 19. Jahrhundert entstanden war, auf dem europäischen Kontinent erst seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vollständig etablierte. Tageszeitungen, die weder auf die politischen oder kulturellen «Meinungen» bestimmter sozialer Gruppen noch auf strikt lokale Kommunikation ausgerichtet waren, hatte es dort vorher nicht gegeben – und ich erinnere mich noch deutlich, wie heftig meine in der frühen Mitte ihres Lebens stehenden Eltern und Lehrer Anstoss an der Herausforderung nahmen, dass nun mit einem Mal «Klatsch» als eine akzeptable Pressegattung gelten sollte (sprichwörtlich in dieser Hinsicht war der Name Elsa Maxwell). Doch weder in Europa noch in Nordamerika scheinen jene Jahre mit ihrer dankbar-restaurativen Stimmung eine Zeit wirklich intensiver Faszination für die verschlossenen Dimensionen im privaten Leben grosser Persönlichkeiten gewesen zu sein.
Zwei Wochen nach ihrem verzweifelten Selbstmord am 4. August 1962 zum Beispiel publizierte das Life Magazine ein Gespräch mit Marilyn Monroe unter dem Titel «Last Talk With a Lonely Girl» in der Form des inneren Monologs, dessen flach-freundlichen Ton wir entweder als Produkt eines anonym redigierenden Journalisten oder als Symptom für Marilyns Anpassung an die Erwartungen der zeitgenössischen Medien auffassen können: «Marilyn’s words revealed her own private view of Marilyn Monroe: ‹Sometimes wearing a scarf and a polo coat and no makeup and with a certain attitude of walking, I go shopping or just look at people living. But then you know, there will be a few teenagers who are kind of sharp and they’ll say, ‘Hey, just a minute. You know who I think that is?’ And they’ll start tailing me. And I don’t mind. I realise some people want to see if you’re real.›» Der Text liess Marylin so reden, als habe sie mit der Wirklichkeit ihres Selbst nie ein Problem gehabt – denn keine persönliche Tragödie durfte im Jahrzehnt der Petticoats und der Milchbars das gute soziale Gewissen stören.
Im Vordergrund der Interviewgattung hatten nach 1950 zunächst Gespräche mit Politikern gestanden, die den Strategien ihrer Wahlkämpfe folgten, wie die bis heute berühmte Unterhaltung von 1960 zwischen der Präsidentenwitwe Eleanor Roosevelt und dem Präsidentschaftskandidaten John F. Kennedy. Einer Zeit, die geneigt war, sich entschlossen von den dunklen Seiten im Leben ihrer Protagonisten abzuwenden, scheint die Konzentration auf praktische Funktionen des Gesprächs leichtgefallen zu sein. Eher verhalten setzte deshalb eine für die Zukunft ausschlaggebende Entwicklung ein, nämlich die ersten Experimente mit Live-Talkshows auf verschiedenen Fernsehsendern.
Als Frühgeschichte dieser das Interview als Gegenwart und als potenzielles Ereignis neu inszenierenden Form gelten heute die halbstündigen Unterhaltungen, die Mike Wallace von 1957 bis 1960 auf ABC meist mit Protagonisten anspruchsvoller Kultur wie Pearl S. Buck, Salvador Dalí, Aldous Huxley oder Frank Lloyd Wright führte, aber auch mit Bundesrichtern, Psychoanalytikern oder Theologen. In Johnny Carsons Tonight Show vollzogen sich dann seit den frühen 1960er-Jahren entscheidende strukturelle Veränderungen. Dieses in verschiedenen Varianten bis 1992 fortgesetzte Programm wurde mehrfach (bis zu fünfmal) pro Woche ausgestrahlt, fand einen definitiven Ort im Spätabendprogramm und passte neben Schlagersängern, Sportlern und Fernsehstars nun auch namenlose Gestalten des Alltags in seinen alltäglichen Rhythmus ein. Unversehens war das Interview als Talkshow zu einem Teil des Alltags und seiner Selbstdokumentation geworden, es hatte bei den Showfans die Freizeit der durchschnittlichen Tage erobert – und mag als ein neues Ritual von Alltäglichkeit in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch Symptom für das Aufkommen einer neuen existenziellen Unsicherheit gewesen sein.
Unter solchen Voraussetzungen schrieben sich seit den 1970er-Jahren eine Reihe von Fernsehinterviews mit emblematischen Persönlichkeiten in das kulturelle Gedächtnis der Amerikaner ein: John Lennon 1972, Muhammad Ali 1974, Richard Nixon 1977, Federico Fellini 1992 und vor allem Michael Jackson 1993 als Gast von Oprah Winfrey, mit über 100 Millionen Livezuschauern der grösste Publikumserfolg in der Geschichte der Gattung. Vor allem die 1990er-Jahre wurden mit Programmen von David Letterman, Howard Stern und Oprah Winfrey, die den Stareffekt vom Gast auf den Gastgeber kehrten, zur absoluten Hoch-Zeit der Talkshows, die nun auch ausserhalb der Vereinigten Staaten ihre jeweiligen Äquivalente fanden. Historisch gesehen brachten sie als Gattung einerseits die Gegenwartseffekte des klassischen Persönlichkeits-Interviews zur Erfüllung und nahmen andererseits mit ihren gelegentlichen Gästen aus