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Ethik des Notstandes: Theologische Hintergründe
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Ethik des Notstandes: Theologische Hintergründe
eBook165 Seiten1 Stunde

Ethik des Notstandes: Theologische Hintergründe

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Über dieses E-Book

Die Legitimität von Notstandsmaßnahmen beruht auf einem eigentümlichen Zirkelschluss: Mit ihm berechtigt sich eine Regierung zu Sonderbefugnissen, die sie damit schon besitzen müsste, um sich auf sie zu berufen.
Wie sollen evangelische Christen damit umgehen? Es stellt sich heraus, dass in der reformatorischen Tradition Politik immer und wesensmäßig auf einen Notstand bezogen ist. Ohne Notstand keinen Staat! Politik wird so auf die ordnungspolitische Dimension reduziert. Dieses Buch skizziert demgegenüber eine politische Theorie, die eine christliche und bürgerliche Autonomie vor staatlichen Übergriffen wahrt. Dazu werden theologische Phänomene vorgestellt, die in Balance zueinander stehen müssen, damit Politik auch in Krisenzeiten gerecht gestaltet werden kann.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum13. Juni 2022
ISBN9783893080199
Ethik des Notstandes: Theologische Hintergründe
Autor

Lukas Ohly

Dr. theol. Lukas Ohly ist apl. Prof. für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

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    Buchvorschau

    Ethik des Notstandes - Lukas Ohly

    Für Claudia

    1 Corona

    Als ich begonnen habe, dieses Manuskript zu schreiben, sind in Deutschland bereits über 100.000 Menschen mit oder durch die Infektion mit dem Corona-Virus SARS-CoV-2 gestorben. Innerhalb von knapp zwei Jahren sind damit Todeszahlen in Höhe der Einwohnerzahl einer Großstadt zu verzeichnen gewesen. Im weltweiten Vergleich hat die Corona-Pandemie in Deutschland weniger stark gewütet als anderswo in der Welt. Die USA, die viermal so viele Einwohner haben als Deutschland, haben mehr als achtmal so viele Corona-Tote registriert. Weltweit sind 5,5 Millionen Menschen an der Corona-Erkrankung Covid-19 gestorben. Der Anteil Gestorbener gemessen an der Weltbevölkerung liegt etwa sechsmal höher als in Deutschland. Dieser deutliche Unterschied hat natürlich mit der vergleichsweisen guten medizinischen Versorgungslage in Deutschland zu tun, wird aber auch den effektiveren politischen Maßnahmen in Deutschland zugeschrieben. Selbst die reichste Nation der Welt, die USA, hat deshalb bis heute deutlich mehr Corona-Tote zu verzeichnen gehabt als Deutschland. Frühzeitig hatten die Bundes- und die Landesregierungen das Land zeitweise in einen Lockdown versetzt, so dass Betriebe, Kaufhäuser, Bildungseinrichtungen und Kindertagesstätten schließen mussten. Es wurden Maskenpflicht sowie strenge Kontaktbeschränkungen verordnet. Ein Infektionsschutzgesetz wurde verabschiedet und im Laufe der Krise an die Situation angepasst, mit dem bundesweit einheitliche Regelungen gewährleistet werden sollten. Selbst nach den Lockerungen wurde lange Zeit die Schule im Online- oder Wechselunterricht mit jeweils nur einem Teil einer Schulklasse organisiert. Mit einer aufwändigen Impfkampagne wurden 75 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung innerhalb eines Jahres zweimal geimpft, über die Hälfte sogar dreimal. Die Impfprioritäten orientierten sich dabei primär an den „vulnerablen Gruppen, an den ältesten Bevölkerungsgruppen und Menschen mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko. Die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ist an Bedingungen geknüpft worden, nämlich an die „G-Regeln, entweder von der Krankheit genesen, geimpft oder von einem öffentlichen Zentrum negativgetestet worden zu sein. Dabei haben sich die Zugangsbedingungen für ungeimpfte Personen verschärft, da zunehmend 2G-Regeln nach Landesverordnung zugrunde gelegt wurden, also nur geimpfte und genesene Personen zu Veranstaltungen, in Cafés und Läden zugelassen worden sind. Bestimmte Berufsgruppen unterstehen einer Impflicht. Diskutiert wurde zwischenzeitlich eine allgemeine Impfpflicht.

    2 Notstand

    Haben diese politischen Maßnahmen einen Notstand abgewendet? Oder belegen sie, dass sich ein Land im Notstand befindet? Sind sie also durch einen drohenden oder bereits bestehenden Notstand in Geltung gesetzt worden? Der Unterschied ist ethisch durchaus relevant. Befindet sich ein Land bereits in einem Notstand, dann lassen sich unter Umständen nicht mehr alle institutionellen Gegebenheiten gewährleisten. Es muss dann gegebenenfalls „improvisiert" werden, ohne die rechtlich vorgeschriebenen Verfahren durchgängig zu beachten und ohne alle gültigen Gesetze zu bewahren. Auch bestimmte gesellschaftlich akzeptierte Werte können dann ihre zeitweilige Überzeugungskraft verlieren. Das trifft etwa auf die Frage zu, mit welcher Priorität bestimmte Patienten in der Behandlung anderen vorgezogen werden, wenn lebenserhaltende Instrumente nicht in ausreichender Zahl vorhanden sind (das Problem der sogenannten Triage). – Eine solche Einschätzung unterstellt, dass das verfassungsmäßige Recht für Notstände nicht ausreichend ist und dass der Staat außerrechtlicher Maßnahmen bedarf. Tatsächlich sind seit Ausbruch der Corona-Krise Grundrechte eingeschränkt worden, um das Grundrecht auf Leben weitestgehend zu sichern. Vor allem das Recht auf Freizügigkeit und das Versammlungsrecht sind dafür beschnitten worden. Auch die politischen Verfahren sind umgeleitet worden: Die meisten Maßnahmen wurden in regelmäßigen Bund-Länder-Konferenzen vereinbart, für die es jedoch kein verfassungsmäßiges Mandat gibt.

    Die Einschätzung zur Effektivität der verfassungsmäßigen Abläufe ist anders, wenn sich das Land noch nicht im Notstand befindet und die politischen Institutionen aus ihrer rechtlich-politischen Stabilität heraus agieren, um ihn zu vermeiden. Im letzteren Fall wird dem rechtlichen Status quo zugetraut, alle Instrumente zur Eindämmung eines Notstandes zu besitzen. Es werden dann keine Rechte beschnitten, und die politischen Verfahren funktionieren rechtlich ordnungsgemäß. In dieser Einschätzung steht der Notstand am Rand der politischen Normalität. Krisenmanagement ist dann ein typischer Teil politischen Handelns und effektiv genug, um einen Notstand gar nicht erst ausbrechen zu lassen.

    Es gibt aber einen heiklen Zwischenbereich zwischen diesen beiden Verständnissen. Er besteht darin, dass der Notstand noch nicht ausgebrochen ist, aber so sehr die gesellschaftliche Stabilität bedroht, dass sich die Regierung oder das Parlament zu einem Notstandsrecht entscheidet. Hier kommt die Akklamation des Notstandsrechts dem faktischen Notstand zuvor. Der Notstand wird zur politischen Situation erklärt, und mit ihm werden Beschneidungen von Rechten und Verkürzungen von Verfahren gerechtfertigt. Argumentiert wird einerseits aus der Sicherheitszone der Verfassungsmäßigkeit heraus, andererseits jedoch so, dass der Notstand die Rechtslage okkupiert und verändert. In diesem Zwischenbereich ist nicht mehr entscheidbar, ob sich die Gesellschaft noch vor dem Notstand befindet oder schon in ihm. Denn allein dass mit dem drohenden Notstand wesentliche Veränderungen legitimiert werden, erzeugt er schon jetzt eine eigene politische Wirklichkeit. Der Notstand soll abgewehrt werden, indem zugleich der Notstand das geltende Recht „abwehrt" oder zumindest relativiert.

    3 Gesellschaft

    Nach Auffassung einer Minderheit der deutschen Bevölkerung haben sich die politischen Machthaber die Corona-Krise nur ausgedacht, um die Freiheitsrechte ihrer Bürger zu beschränken und die Macht an sich zu reißen. Man mag diese Auffassungen mit „Fakten-Checks als „Verschwörungstheorien überführen. Zugleich jedoch zeigen sich damit zwei auffällige Trends: Zum einen wird die Frage des Notstandes zu einer Interpretationsangelegenheit. Zum anderen zeichnet den Notstand gerade aus, dass Fakten geschaffen werden. Beide Trends vertragen sich nur, wenn es eine maßgebliche Instanz gibt, die Fakten schafft, indem sie die Deutungshoheit hat. Aber wer die Deutungshoheit hat, ist wieder abhängig von Interpretation. Die Frage des Notstandes ist damit nicht mehr nur eine politische, sondern eine gesellschaftliche. Ob ein Notstand vorliegt, lässt sich nicht nur am politischen Verfahren ablesen, sondern auch daran, wie Staatsbürger miteinander und mit der politischen Führung interagieren.

    Die Philosophin Judith Butler hat am Gewaltbegriff demonstriert, dass Gewalt bereits damit beginnt, dass die herrschende Gruppierung den Gewaltbegriff definiert.¹ Butler zeigt, dass Gewalt gegen bestimmte soziale Gruppen damit legitimiert wird, dass diese Gruppen als gewalttätig stilisiert werden. Flüchtlinge gelten dann als Aggressoren, gegen die sich eine Gesellschaft wehren muss.² Stille Proteste werden als Nötigungen interpretiert.

    Dieser Mechanismus, dass die Mächtigen oder gesellschaftlich einflussreiche Gruppierungen auch über die Sprache entscheiden, lässt sich auch auf den Begriff des Notstandes übertragen. Faktisch haben die „Verschwörungstheoretiker" insoweit recht, dass der Notstand festgestellt werden muss. Ein Notstand ist keine natürliche Tatsache, sondern ein soziales Konstrukt. Selbst wenn eine Pandemie grassiert und Millionen von Menschen in den Tod reißt, ist dieses Unglück erst dann ein Notstand, wenn er festgestellt wird. Die chinesische Regierung hatte in den ersten Wochen der Corona-Krise noch versucht, den Notstand dadurch zu verhindern, dass sie die warnenden Ärzte zum Schweigen brachte. Ein Unglück ist ein Schicksal. Ein Notstand dagegen setzt politische und moralische Rechtfertigungsinstrumente für menschliches Antwortverhalten in Stellung.

    Wenn eine Regierung den Notstand ausruft, befindet sich bereits der Ausruf im Notstand. Denn er gilt als Rechtfertigungsgrund für seinen Ausruf. Er wird also einerseits geschaffen, indem er benannt wird. Andererseits wird die Deklaration des Notstandes durch ihn gerechtfertigt. Was Udo di Fabio etwas harmlos als „Präventionsparadox"³ beschreibt, beruht eigentlich auf einer logisch zirkulären Struktur im Ausruf des Notstandes, die eine Regierung zu Maßnahmen berechtigt, weil die Regierung oder die Mehrheit des Parlaments feststellt, dass sie dazu berechtigt ist. Hitlers juristischer Chefideologe Carl Schmitt sprach von einem Notwehrrecht, das seine Voraussetzungen selbst schafft.⁴ Diese zirkuläre Struktur ist brisant, weil sich mit ihr die Regierung einer Kontrolle entzieht, ob es den angeblichen Notstand wirklich gibt. Mit dem Notstandsargument kann sich eine Regierung aus willkürlichen Gründen in eine unangreifbare Position bringen. Carl Schmitt sah darin ein Kennzeichen staatlicher Souveränität, über den Ausnahmezustand entscheiden zu können.⁵

    Die Corona-Krise in Deutschland hat glücklicherweise nicht zu dieser Willkürherrschaft geführt. Die deutschen Gerichte haben ihre Unabhängigkeit öfter unter Beweis gestellt, indem sie die Beschneidung von Rechten per Verordnungen für unwirksam erklärt haben.⁶ Allerdings ist diese zirkuläre Struktur politisch unausweichlich, wenn ein Notstand festgestellt werden muss. Er besteht, weil die Staatsgewalten sagen, dass er besteht. Mit dem Infektionsschutzgesetz haben Bundestag und Bundesrat allgemeine Kriterien für eine „epidemische Lage" beschlossen. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Lage, die die Bundesregierung für wirksam gehalten hat, sind dabei während der Pandemie mehrfach im Gesetz geändert worden. Das Recht läuft den Notstandsmaßnahmen nach, denn ansonsten müsste der Notstand nicht ausgerufen werden. Konkret gezeigt hat sich diese Entwicklung daran, dass im vierzehntägigen Rhythmus neue Länderverordnungen in Kraft getreten sind. Diese waren in der Öffentlichkeit jeweils mit Spannung erwartet worden, weil man eben nicht sicher sein konnte, wie der Notstand von den Regierungen jeweils interpretiert worden ist.

    Der Notstand ist also das Ergebnis einer Interpretation der Lage. Daher ist es nicht überraschend, wenn eine Opposition die herrschende Interpretation für unberechtigt hält. Auch die Opposition interpretiert die Lage. Und wenn die Regierung ihre Entscheidung mit einer Interpretation legitimiert, dann besteht logisch ein Patt in der Begründungsform der Situation zwischen Regierung und Opposition. Als Unterschied kann dann nur geltend gemacht werden, dass die Regierung die Regierung ist und damit einen Machtvorteil besitzt. Und das heißt nichts anderes, als dass die Entscheidung, ob ein Notstand herrscht, eine bloße Machtentscheidung ist. Mögen Notstandsbefugnisse mit dem Grundgesetz gerechtfertigt werden können, so heißt das nicht, dass der Notstand mit zur Ordnung gehört, die er außer Kraft setzt. Die zirkuläre Begründung des Notstandes kaschiert aber genau diesen Widerspruch. Und das heißt zugleich, dass die verfassungsrechtliche Ermöglichung des Notstandes den Zirkelschluss kaschiert.

    Noch einmal zum Vergleich mit einer politischen Entscheidung im „Normalzustand": Hier gehört die Machtentscheidung zum typischen Prozedere und verbleibt im Rahmen der politischen Ordnung. Regierung und Opposition mögen die Lage unterschiedlich einschätzen, etwa zur Portoerhöhung von Postsendungen. Aber gleichgültig, welche Interpretation sich durchsetzt, verbleibt die Entscheidung im Rahmen der politischen Ordnung. Wird aber eine Lage als Notstand eingeschätzt, so verändert sich die politische Ordnung. Und eine Regierung, die ihre

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