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Kirche und Krisen: Theologische Perspektiven auf Inhalt und Form
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eBook149 Seiten1 Stunde

Kirche und Krisen: Theologische Perspektiven auf Inhalt und Form

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Über dieses E-Book

Die Reformation erscheint heute vorrangig als mediales Ereignis: ohne Buchdruck, Bibelübersetzung und Kirchenlied keine Botschaft. In unserer modernen Welt verlangt jeder Inhalt so sehr nach einer passenden, wirksamen Form, dass die Form das Wesentliche zu werden droht und der Inhalt nachrangig. Was bedeutet das für die Theologie, deren Gegenstand per Definition keine Gestalt und keine Form hat? Ihre Denkweisen bieten Anregungen, um die "Formalismuskrise" nicht nur der Theologie zu überwinden. Dazu bedient sich der Theologe und Pfarrer Lukas Ohly auch interdisziplinärer Theorien von Denkern wie Charles S. Peirce oder Ludwig Wittgenstein. Am Beispiel der Flüchtlingskrise 2015 und digitaler kirchlicher Angebote während der Corona-Krise 2020 zeigt er, wie wir Dingen auf den Grund gehen, Sachverhalte verstehen und Sinn finden können.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum22. Juni 2020
ISBN9783893080052
Kirche und Krisen: Theologische Perspektiven auf Inhalt und Form
Autor

Lukas Ohly

Dr. theol. Lukas Ohly ist apl. Prof. für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

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    Buchvorschau

    Kirche und Krisen - Lukas Ohly

    Für Emilia

    Einleitung

    Ein Jahr vor dem 500. Reformationsjubiläum saß ich auf einem Podium, um über den Vortrag eines Theologen zu diskutieren, der Martin Luthers Anliegen auf das 21. Jahrhundert übertragen wollte. Dabei hob er Äußerlichkeiten hervor, die Luthers theologisches Interesse so gut wie nicht berücksichtigten: Luther habe den populären Liedern seiner Zeit christliche Texte unterlegt; also müsse die evangelische Kirche auch heute die Kirchenmusik popularisieren. Ebenso habe Luther die Bibel nicht einfach in die deutsche Sprache übersetzt, sondern in die Umgangssprache der damaligen Bevölkerung. Daher müsse auch heute nicht nur die Bibel, sondern auch die christliche Botschaft in die Kultur- und Sprachgewohnheiten der Menschen umgesetzt werden.

    Ein Jahr später hatte ich bei einer öffentlichen Frankfurter Veranstaltung den Segensroboter BlessU2 kennengelernt, den die Evangelische Kirche von Hessen und Nassau zur Reformationsausstellung in Wittenberg entworfen hatte. Es ging um die Frage: Können Roboter segnen? Dabei meldeten sich etliche theologische Vertreter, die argumentierten, dass der Segen generell nur über Medien zum Ausdruck komme. Daher mache es keinen prinzipiellen Unterschied, ob ein Pfarrerin ihre Hände hebe und dabei Segensworte spreche oder ein Roboter.

    Was haben beide Beispiele miteinander zu tun? Sie reduzieren theologische Fragestellungen auf Formalfragen. Die Bedeutung des Segens wird auf seine mediale Ausdrucksform zurückgeführt. Ebenso wird das theologische Wahrheitsanliegen Martin Luthers auf seinen geschickten Einsatz von Medien reduziert. Dahinter liegt offenbar die Vermutung, Sachfragen ließen sich auf die begründete Entscheidung für geeignete Formen verkürzen. Diese Vermutung wird vor allem dann verstärkt, wenn behauptet wird, es gebe keine isolierte Sache, die ohne eine für sie passende Form überhaupt bedacht werden könne. Denn dann folgt, dass ungeeignete Formen die Inhalte verzerren oder verändern können. Also ist die Frage nach den Formen selbst eine Sachfrage. Die Grenzen zwischen Form und Inhalt verschwimmen, aber so, dass der methodische Gang doch signifikant die Formen in den Blick nimmt und nur vermittelt über sie auch die Inhalte. Es scheint dann so, als seien die Inhalte das Vermittelte, die Formen dagegen das Unmittelbare, das eigentliche Phänomen, das zu bedenken ist.

    Ich halte diese Wahrnehmung für eine Formalismuskrise. Sie besteht nicht darin, dass gewohnte Formen in eine Krise geraten, was ja durchaus auch in den obigen Beispielen behauptet wird. Dort war ja suggeriert, die traditionellen Kirchenlieder entsprächen nicht mehr der Intention Luthers und würden sich somit gegen die Reformation stellen. Ebenso sollte der Segensroboter einen Denkanstoß bieten, über welche Formen die evangelische Kirche, die als Institution gegenwärtig einen Vertrauensverlust erfährt, wieder zu den Menschen findet. Das ist jedoch nur eine Formkrise, mit der sich die entsprechenden kirchenleitenden Personen und die Theologie beschäftigen. Eine Formalismuskrise jedoch besteht darin, dass Sachprobleme pauschal als Formkrisen bearbeitet werden. Die Benennung von Formkrisen ist also das Symptom der Formalismuskrise.

    Es gibt kaum einen gesellschaftlichen Bereich, auf den der Formalismus nicht übergesprungen ist. Die Dominanz der Form macht sich durch einen technokratischen Umbau der Gesellschaft auch im Denken breit. Nicht erst die Digitalisierung erzeugt den starken Suggestionsschub, dass sich das menschliche Denken auf formelle Muster reduzieren lasse. Sie vollendet vielmehr ein Denken, das sich auf seine Formen durchsichtig macht, als gäbe es nichts darüber hinaus.

    In diesem Büchlein untersuche ich zwar den Formalismus stets in theologischen Kontexten. Allerdings zeigen die drei Beispiele, die ich hier diskutiere, den gesellschaftlichen Bezug des Formalismus. Er schlägt sich in politischen und strategischen Entscheidungen von Organisationen ebenso nieder wie im Gebrauch von Technik. Dass der Formalismus auch in der Theologie angekommen ist, dürfte eher markieren, dass er auf die Spitze getrieben wird. Denn der Theologie als Reflexion des christlichen Glaubens ist es nie nur um die bloße Einübung und Wiederholung von Ritualen gegangen, sondern vor allem um das verstehende Erfassen der Wirklichkeit Gottes. Wenn es in der Welt kein Bild für Gott gibt, gibt es auch keine Formen für ihn. Folglich muss er für die Menschen anders zugänglich sein als alle anderen Gegenstände der Welt, bei denen man noch am ehesten vermuten könnte, dass ihnen verlässliche Formen zugrunde liegen.

    Die Dominanz der Form unterschlägt den Außenbezug des Denkens, als gäbe es keine Sache, die zu denken ist. Schon der Theologe Karl Barth hat die „Sache" vor den formellen Rekonstruktionen in der Theologie retten wollen. Adolf von Harnack hatte ihm daraufhin vorgeworfen zu übersehen, dass uns Jesus Christus nur über seine kirchengeschichtlichen Reminiszenzen zugänglich ist.¹ Die Frage, die sich an diese Einsicht anschließt, heißt aber, ob sich theologisches Denken in der Rekonstruktion dieser Reminiszenzen erschöpft oder ob es dahinter zu einer Sache vorstoßen kann, die sich von der Form befreit: „Bis zu dem Punkt muss ich als Verstehender vorstoßen, wo ich nahezu nur noch vor dem Rätsel der Sache, nahezu nicht mehr vor dem Rätsel der Urkunde als solcher stehe.² Man könnte auch fragen, ob es im Formalismus überhaupt noch eine Sache gibt, auf die sich die Formen beziehen, oder ob sich die Funktion der Sache darin erschöpft, dass sie in den Formen ausgedrückt ist. Ist also Immanuel Kants „Ding an sich nur eine leere Konstruktion der Erkenntnis, so dass den Geisteswissenschaften nichts anderes übrig bleibt, als in intertextuellen Querverweisen lediglich formellen Sinn zu generieren?

    Es gibt eine Lösung für diese Krise. Die Hauptthese dieses Buches besteht darin, dass der Formalismus in der Theologie von innen her aufgebrochen wird. Ich erinnere also an solche Quellen in der Theologie, die zwar die Bindung von Inhalten an ihre Formen zunächst akzeptieren, dann allerdings Brechungen darin aufdecken, die feste Formen verflüssigen, um sie an theologische Inhalte anzupassen. Denn gerade weil Gott kein Gegenstand der Welt ist und es daher anderer Zugangsweisen für die Gotteserkenntnis bedarf, müssen Formen überstiegen werden, von denen man ursprünglich ausgegangen ist. Dieser Ansatz ist ein Angebot, die Formalismuskrise zu überwinden – nicht nur innerhalb der Theologie.

    Dazu verweise ich auf Autoren, die interdisziplinär gearbeitet haben. Zu ihnen gehören der Semiotiker Charles S. Peirce, die Philosophen Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein, der Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich sowie Ethiker der Gegenwart, die bei der Bearbeitung eines spezialethischen Problems an die Grenzen des Formalismus stoßen.

    Das Büchlein hat drei Teile. Im ersten Kapitel werde ich die theoretischen Grundlagen der Formalismuskrise beschreiben und die religionsphilosophischen Ressourcen rekonstruieren, die aus der Krise herausführen. Die beiden anderen Kapitel werden auf diese Ressourcen vertiefend eingehen, um die Formalismuskrise an konkreten politischen oder strategischen Themen aufzuzeigen.

    Die politische Ethik in der protestantischen Theologie hat in den vergangenen Jahren das Problem des Formalismus offengelegt, nämlich am kontrovers diskutierten Thema der deutschen Flüchtlingspolitik. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2015 in einem deutschen Alleingang die Grenzen für Flüchtlinge geöffnet und eine Euphorie der „Willkommenskultur" in Gang gesetzt hatte, die eine ebenso massive Gegenbewegung mit der Stärkung rechtspopulistischer Bewegungen hervorrief, haben etliche protestantische Theologen den Versuch unternommen, Merkels Flüchtlingspolitik allein unter formalen Aspekten ethisch zu verurteilen. Dass dieser Formalismus bereits politisch zu unterkomplex gewesen ist, legte die Debatte in den Folgejahren offen. Ich möchte im zweiten Kapitel zeigen, dass die Lösung zum Problem über politisch-ethische Vorschläge hinaus in einer Überwindung des Formalismus zu suchen ist.

    Das dritte Kapitel untersucht die gesellschaftliche Entwicklung, die derzeit unter dem Containerbegriff „Digitalisierung" zu beobachten ist, nur an einem, aber vermutlich repräsentativen Beispiel. Zwar ist die Ursache für dieses Beispiel historisch beispiellos und liegt in der Corona-Krise des Jahres 2020. Etliche Staaten haben Ausgehsperren verhängt, um die Ausbreitung des Corona-Virus Covid 19 einzuschränken. Das führte auch zum Verbot, sich zu Gottesdiensten zu versammeln. In dieser Situation haben etliche Religionsgemeinschaften das Internet für sich entdeckt, um ihre Angebote in den virtuellen Raum zu verlegen. Die Corona-Krise hat jedoch die Digitalisierung von Sozialformen nicht verursacht, sondern nur beschleunigt. Mit der Digitalisierung hat sich schon vorher ein sozialer Trend entwickelt, Inhalte zu formalisieren. Die naive Euphorie, mit der Kirchengemeinden und Kirchenleitungen virtuelle Gottesdienstangebote ins Internet stellen, macht diesen Trend nur besonders sichtbar. Denn sie belegt die Anfälligkeit für die Formalismuskrise im Denken von Organisationen.

    Wenn dieses Büchlein die Aufmerksamkeit ein wenig dafür schärfen kann, was mit der Formalismuskrise verlorenzugehen droht und was deshalb zu verteidigen ist, wäre sein Ziel erreicht. Es gilt nämlich die menschliche Fähigkeit zu schützen, Sachverhalte zu verstehen, ihnen auf den realen Grund zu gehen, Ziele zu setzen, weil uns etwas trifft, was uns den Sinn offenbart, diese Ziele zu

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