Partizipative Forschung: Einführung in die Forschungspraxis
Von Hella Unger
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Partizipative Forschung - Hella Unger
Hella von UngerPartizipative Forschung2014Einführung in die Forschungspraxis10.1007/978-3-658-01290-8© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
Hella von Unger
Partizipative ForschungEinführung in die Forschungspraxis
A310793_1_De_BookFrontmatter_Figa_HTML.gifHella von Unger
Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland
ISBN 978-3-658-01289-2e-ISBN 978-3-658-01290-8
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS
Lektorat : Dr. Andreas Beierwaltes, Katharina Gonsior, Antje Korsmeier
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Springer VS ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media www.springer-vs.de
Vorwort
Das Anliegen dieser Einführung ist es, Zugänge zu einer partizipativen Forschungspraxis zu eröffnen. Die Vielfalt partizipativer Ansätze und Anwendungskontexte weltweit entzieht dabei jedem Versuch, eine allgemein gültige, einheitliche Methodologie für ‚die partizipative Forschung‘ zu erarbeiten, den Boden. Auch diese Einführung ist daher notwendigerweise ein situierter, partikularer Entwurf. Sie fokussiert auf qualitative partizipative Forschung und empirische Aspekte des Vorgehens im Kontext westlicher Gesellschaften und wissenschaftlicher Diskurse. Diese Foki sind nicht die einzig möglichen oder sinnvollen, sondern sie entsprechen meiner Perspektive als Autorin. Auch der Kontext, in dem ich in den letzten Jahren partizipativ geforscht habe, hat sich eingeschrieben. Die Gesundheitswissenschaften sind ein prominentes Anwendungsfeld für partizipative Ansätze, und diese Einführung beinhaltet viele Referenzen und Beispiele aus der sozialwissenschaftlichen Gesundheitsforschung. Es wird aber auch, soweit möglich, auf Ansätze und Literatur aus anderen Feldern verwiesen, in denen partizipative Ansätze beheimatet sind, wie den Erziehungswissenschaften, der Psychologie, der Sozialen Arbeit, der Soziologie, insbesondere der Organisationssoziologie und Organisationsentwicklung, der internationalen Entwicklungszusammenarbeit, der Raum- und Stadtentwicklung, der Frauen- und Geschlechterforschung und den Disability Studies .
Mein herzlicher Dank gilt folgenden Personen und Einrichtungen, die mich beim Verfassen dieses Buches unterstützt haben: Ariane Berthoin Antal, Asita Behzadi, Jarg Bergold, Elke Bosse, Silke Gülker, Sabrina Huttner, Holger Knothe, Katrin Leuze, Rosaline M’Bayo, Petra Narimani, Anke Neuber, Christina Patz, Justin Powell, Axel Richter, Lea Schütze, Simon Starz und Sabrina Tschiche. Am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) hatte ich ideale Arbeitsbedingungen in den Forschungsgruppen Public Health und Wissenschaftspolitik. Ich danke insbesondere Christoph Albrecht für gute Schreibbedingungen, Antje Korsmeier für das Lektorat und Bernhard Koppmeyer für die Abbildungen. Mein besonderer Dank gilt zudem den Personen, mit denen ich praktische Erfahrungen in der partizipativen Forschung sammeln durfte, darunter: Martina Block, Kelly Cavalcanti, Catherine Flohr, Tanja Gangarova, Silke Klumb, Omer Ouedraogo, Nozomi Spennemann, Michael T. Wright, Melike Yildiz sowie weitere Kolleg/innen und Partner/innen aus dem PaKoMi-Projekt, dem Verband der Aidshilfen, dem Netzwerk für Partizipative Gesundheitsforschung (PartNet) und der International Collaboration for Participatory Health Research (ICPHR).
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung: Zur Aktualität der partizipativen Forschung
1.1 Was ist partizipative Forschung?
1.2 Dynamik und Dis-/Kontinuität
1.3 Neue Formen der Wissensproduktion
1.4 Zur Konzeption der Einführung
2 Partizipative Ansätze
2.1 Aktionsforschung/Action Research
2.2 Praxisforschung und partizipative Evaluationsforschung
2.3 Community-basierte partizipative Forschung
2.4 Weitere Ansätze und Anwendungsfelder
3 Zentrale Komponenten eines partizipativen Designs
3.1 Beteiligung von Co-Forscher/innen
3.2 Befähigungs- und Ermächtigungsprozesse (Empowerment)
3.3 Doppelte Zielsetzung: soziale Wirklichkeit verstehen und verändern
4 Der Forschungsprozess
4.1 Partner/innen finden, Betroffene einbeziehen
4.2 Gemeinsam Ziele setzen
4.3 Studiendesign und die Beteiligung von Co-Forscher/innen
4.4 Daten erheben in Zyklen von Aktion und Reflexion
4.5 Partizipative Auswertung
4.6 Verbreitung und Verwertung der Ergebnisse
5 Beispiele der methodischen Umsetzung
5.1 Photovoice
5.2 Community Mapping
6 Probleme und Perspektiven
6.1 Konflikte, Selbstreflexivität und Forschungsethik
6.2 Stärken und Grenzen der partizipativen Forschung
6.3 Verortung der partizipativen Forschung im Wissenschaftskanon
7 Schlussbemerkung
Literatur
Hella von UngerPartizipative Forschung2014Einführung in die Forschungspraxis10.1007/978-3-658-01290-8_1
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
1. Einleitung: Zur Aktualität der partizipativen Forschung
Hella von Unger¹
(1)
Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland
Hella von Unger
Email: unger@lmu.de
Zusammenfassung
Partizipative Forschung ist ein Oberbegriff für Forschungsansätze, die soziale Wirklichkeit partnerschaftlich erforschen und beeinflussen. Ziel ist es, soziale Wirklichkeit zu verstehen und zu verändern. Die Diskussion dieser Ansätze ist im deutschsprachigen Raum von einer besonderen Dis-/Kontinuität geprägt. Aktuell rücken partizipative Ansätze wieder stärker in den Mittelpunkt des Interesses, was mit Entwicklungen hin zu neuen Formen der Modus 2
-Wissenproduktion zusammen hängen könnte.
1.1 Was ist partizipative Forschung?
Partizipative Forschung ist ein Oberbegriff für Forschungsansätze, die soziale Wirklichkeit partnerschaftlich erforschen und beeinflussen. Ziel ist es, soziale Wirklichkeit zu verstehen und zu verändern. Diese doppelte Zielsetzung, die Beteiligung von gesellschaftlichen Akteuren als Co-Forscher/innen sowie Maßnahmen zur individuellen und kollektiven Selbstbefähigung und Ermächtigung der Partner/innen (Empowerment) zeichnen partizipative Forschungsansätze aus. Der Begriff der Partizipation ist von zentraler Bedeutung. Er bezieht sich sowohl auf die Teilhabe von gesellschaftlichen Akteuren an Forschung als auch auf Teilhabe an der Gesellschaft. Ein grundlegendes Anliegen der partizipativen Forschung ist es, durch Teilhabe an Forschung mehr gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Es handelt sich also um ein klar wertebasiertes Unterfangen: Soziale Gerechtigkeit, Umweltgerechtigkeit, Menschenrechte, die Förderung von Demokratie und andere Wertorientierungen sind treibende Kräfte.
Partizipative Forschung ist kein einzelnes, einheitliches Verfahren, sondern ein „Forschungsstil" (Bergold und Thomas 2012, Absatz 2), der sich in hohem Maße durch Kontextualität und Flexibilität auszeichnet. Partizipative Ansätze wurden international in verschiedenen Anwendungskontexten mit unterschiedlichen theoretischen und praktischen Bezügen entwickelt und versperren sich vor diesem Hintergrund einer vereinheitlichenden Methodologie und einem einheitlichen methodischen Vorgehen. Michelle Fine und María Elena Torre drücken dies im Hinblick auf Participatory Action Research (PAR) wie folgt aus:
PAR is a deeply contextualized process for democratic and justice-based work that does not lend itself to a checklist of practices. (Fine und Torre 2008, S. 416)
In der partizipativen Forschung stehen die Menschen, die an ihr teilhaben, im Mittelpunkt – ihre Perspektiven, ihre Lernprozesse und ihre individuelle und kollektive (Selbst-) Befähigung. Partizipative Forschung ist damit nie ein rein akademisches Unterfangen, sondern immer ein Gemeinschaftsprojekt mit nicht-wissenschaftlichen, gesellschaftlichen Akteuren. Dies wird auch im folgenden Zitat deutlich:
Partizipative Forschungsmethoden sind auf die Planung und Durchführung eines Untersuchungsprozesses gemeinsam mit jenen Menschen gerichtet, deren soziale Welt und sinnhaftes Handeln als lebensweltlich situierte Lebens- und Arbeitspraxis untersucht wird. In der Konsequenz bedeutet dies, dass sich Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen aus der Konvergenz zweier Perspektiven, d. h. vonseiten der Wissenschaft und der Praxis, entwickeln. Der Forschungsprozess wird im besten Falle zum Gewinn für beide Seiten (…). (Bergold und Thomas 2012, Absatz 1)
Die Verschränkung verschiedener Perspektiven markiert einen zentralen Aspekt partizipativer Forschung und stellt eine Voraussetzung für die Erweiterung von Kompetenzen und Wissensbeständen dar. Allerdings eignet sich die im Zitat genannte klassische Unterteilung in „Wissenschaft einerseits und (gesellschaftliche) „Praxis
andererseits nur bedingt, denn die Perspektiven, die in der partizipativen Forschung verschränkt werden, sind häufig vielfältiger. Je nachdem, welcher Ansatz in welchem Kontext zur Anwendung kommt, sind verschiedene Gruppen und Einrichtungen beteiligt. Partizipative Forschung sucht die Zusammenarbeit über bestehende Systemgrenzen hinweg und nimmt damit häufig die Form von transdisziplinären und interprofessionellen Projekten an, die an Schnittstellen von mehr als zwei Systemen angesiedelt sein können. Hinzukommt, dass es innerhalb der Systeme oder Gruppen, die beteiligt werden, unterschiedliche Perspektiven geben kann. Sind beispielsweise Wissenschaftler/innen aus verschiedenen Disziplinen oder Arbeitsfeldern beteiligt, können sie sehr verschiedene Perspektiven haben. Das gleiche gilt für Vertreter/innen unterschiedlicher Professionen und Lebenswelten, sowie für Zuwendungsgeber und weitere Partner, die möglicherweise beteiligt sind.
Die immense Vielfalt partizipativer Ansätze und Begrifflichkeiten weltweit erschwert die Identifikation gemeinsamer Merkmale und Anliegen und deren Besprechung in einer Sprache. Im angloamerikanischen Raum wird teilweise der Begriff Action Research als Oberbegriff verwendet (vgl. Reason und Bradbury 2001a, 2008c). Im deutschsprachigen Raum dagegen wird in den letzten Jahren überwiegend der Begriff der partizipativen Forschung gewählt (vgl. Bergold und Thomas 2012; Langer forthcoming; Wright et al. 2010d). Diese Begriffswahl geschieht zum einen in Anlehnung an internationale Ansätze, die diesen Begriff in ihrer Bezeichnung beinhalten (wie Participatory Action Research oder Community-Based Participatory Research). Zum anderen geschieht sie vor dem Hintergrund der spezifischen Rezeptionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, wo der Begriff der Aktionsforschung stark mit dem Kontext der 1970er-Jahre verknüpft ist (von Unger et al. 2007). Der Begriff der partizipativen Forschung knüpft an diese Rezeptionsgeschichte an und setzt sich gleichzeitig von ihr ab. Denn obwohl partizipative Forschung in der Tradition der Aktionsforschung steht, rückt sie mit dem Begriff der Partizipation das Element der Beteiligung/Teilhabe (statt Aktion) stärker in den Mittelpunkt. Dadurch soll der Fehlschluss vermieden werden, dass es sich um puren Aktionismus oder Aktivismus handele – ein Vorwurf, der gegenüber der Aktionsforschung der 1970er-Jahre erhoben wurde. Die handlungsbezogenen, wertebasierten und politischen Komponenten sind wichtige Anliegen der partizipativen Forschung, aber es wäre unzutreffend, sie darauf zu reduzieren. Partizipative Forschung ist eine engagierte Forschung, die die Möglichkeiten der partnerschaftlichen Zusammenarbeit und empirischen Forschung nutzt, um die sozialen, politischen und organisationalen Kontexte, in die sie eingebettet ist, kritisch zu reflektieren und aktiv zu beeinflussen.
1.2 Dynamik und Dis-/Kontinuität
Partizipative Forschungsansätze finden international zunehmend Verwendung. Seit Lewin (1946) den Begriff Action Research eingeführt hat, haben sich partizipative Forschungsansätze in verschiedenen Regionen und Anwendungsfeldern herausgebildet und weiterentwickelt (vgl. Fals Borda 2001; Gustavsen 2001; Swantz 2008). Besonderen Zuspruch erfuhren die Ansätze in den 1970er-Jahren und aktuell seit den 1990er-Jahren. Im nordamerikanischen Raum hat sich beispielsweise seit den 1990er-Jahren der Ansatz Community-Based Participatory Research (CBPR) etabliert und international ist der Ansatz Participatory Action Research (PAR) weit verbreitet. Im Jahr 2001 erschien mit dem Handbook of Action Research (Reason und Bradbury 2001a) ein erstes englisch-sprachiges Überblickswerk. Mittlerweile ist das umfangreiche Handbuch in seiner zweiten, erweiterten Auflage erschienen (Reason und Bradbury 2008c). Vernetzungs- und Publikationsaktivitäten verdeutlichen den aktuellen Trend, dass sich partizipative Forschungsansätze in einer Wachstumsphase befinden (Dick 2011). Zu den aktiven Netzwerken im transatlantischen Raum gehören beispielsweise das nordamerikanische Community Campus Partnerships for Health (CCPH), das Urban Research-Base Action Network (URBAN), das europäische Collaborative Action Research Network (CARN) und in Deutschland das Netzwerk für Partizipative Gesundheitsforschung (PartNet). Eine Reihe von Zeitschriften bei angesehenen Verlagen widmen sich partizipativen Ansätzen, wie Action Research (Sage), Educational Action Research (Taylor & Francis), Action Learning: Research and Practice (Routledge), Systemic Practice and Action Research (Springer) und Progress in Community Health Partnerships (Johns Hopkins University Press). Auch in Zeitschriften und Handbüchern für qualitative Sozialforschung haben Beiträge zu partizipativer Forschung einen Platz (Brydon-Miller et al. 2011b; Levin und Greenwood 2011; Thesen und Kuzel 1999). Die Vielfalt der partizipativen Ansätze und Begrifflichkeiten nimmt dabei eher zu als ab (Dick 2011). Das ist der Entwicklung einer kohärenten Methodologie in der partizipativen Forschung nicht unbedingt zuträglich, entspricht aber den vielfältigen sprachlichen, (trans-)disziplinären und fachlichen Kontexten, in denen partizipative Ansätze entwickelt und weiterentwickelt werden.
Die Entwicklungen im deutschsprachigen Raum sind von einer besonderen Dynamik und einem Spannungsverhältnis zwischen Kontinuität und Diskontinuität geprägt. Anders als beispielsweise in Großbritannien, wo der Aktionsforschungsansatz seit den 1950er-Jahren kontinuierlicher besprochen wurde, begann seine Rezeption hierzulande vergleichsweise spät und erlebte in den studentenbewegten 1970er-Jahren eine ausgeprägte, aber kurze Blüte. Im Verlauf der 1980er-Jahren ebbte das Interesse wieder ab – so sehr, dass Herbert Altrichter und Peter Gstettner in den 1990er-Jahren zu dem Schluss kamen, die Aktions- oder Handlungsforschung sei aus der deutschsprachigen Forschungslandschaft wieder weitgehend verschwunden (Altrichter und Gstettner 1993). Sie führten verschiedene Gründe an, darunter die grundsätzliche methodologische Kritik an dem Ansatz: „Ist das noch Wissenschaft?" (Altrichter 1990). Probleme in der praktischen Umsetzung zeigten zudem, dass die Ziele, die von einigen Aktionsforscher/innen verfolgt wurden, nicht realisierbar waren. Mit dem Abklingen der Student/innen-Bewegung und einer konservativeren, weniger reformfreundlichen Forschungsförderpolitik verebbte in den 1980er-Jahren die Unterstützung, und die Schwächen der Gemeinschaft der Aktionsforscher/innen kamen zum Tragen: Die deutschen Aktionsforscher/innen waren untereinander zerstritten und hatten sich weder national noch international Verbündete gesucht. All das, so Altrichter und Gstettner (1993), trug dazu bei, dass die Aktionsforschung wieder von der Bildfläche verschwand – so schien es zumindest.
Auf den zweiten Blick lässt sich erkennen, dass auch in der deutschen Forschungslandschaft bestimmte Aspekte des Ansatzes weiter verfolgt wurden. Dies betraf einzelne Feldern und Disziplinen (wie die Gemeindepsychologie, die internationale Entwicklungszusammenarbeit, die Organisationsentwicklung und die Erziehungswissenschaft) und geschah unter neuem Namen (etwa der Praxisforschung in der Sozialen Arbeit) (vgl. von Unger et al. 2007). Einige