Seltene Erkrankungen und der lange Weg zur Diagnose: 15 persönliche Fallgeschichten
Von Lorenz Grigull
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Buchvorschau
Seltene Erkrankungen und der lange Weg zur Diagnose - Lorenz Grigull
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021
L. GrigullSeltene Erkrankungen und der lange Weg zur Diagnosehttps://doi.org/10.1007/978-3-662-62753-2_1
1. Höhenkrankheit
Lorenz Grigull¹
(1)
Biomedizinisches Zentrum, ZSEB – Zentrum für seltene Erkrankungen, Bonn, Deutschland
Lorenz Grigull
Email: Lorenz.grigull@ukbonn.de
Reiseplanung
Inga möchte Grundschullehrerin werden und studiert noch. Dieses Jahr nutzt sie die Gelegenheit, Erfahrungen an einer deutschen Schule in Chile zu sammeln. Ihre Freundin Sabine, die sie noch aus gemeinsamen Lübecker Zeiten kennt, arbeitet dort seit über 2 Jahren an einer Privatschule und hat Inga den Kontakt zur Schulleitung vermittelt. Die drei sind sich schnell einig, Sabine organisiert ein Zimmer bei Freunden im Dachgeschoss einer Wohnung ganz in der Nähe der Schule, und alle freuen sich über den Besuch und die Unterstützung im Klassenraum. Die Reisepläne sind flugs geschmiedet, die eigene Wohnung in Lübeck wird für 4 Monate untervermietet, die eigenen Sachen bei den Eltern untergestellt, und das Nötigste für die Reise passt in einen großen Trekking-Rucksack. Als sportlich-durchtrainierte Mittzwanzigerin freut sich Inga auch schon darauf, Wandertouren in den Bergen machen zu können. Fit genug fühlt sie sich ja, aber ob ihr eingerostetes Schulspanisch für den Alltag reichen wird? Vielleicht schafft sie es ja sogar noch, einen Intensivsprachkurs vor der Abreise zu absolvieren?
Viele neue Impressionen
Ohne Sprachkurs, aber mit viel Schwung und Vorfreude im Gepäck landet Inga 8 Wochen später am Flughafen von Santiago de Chile. Sabine holt sie ab und hilft in den ersten Tagen, damit sie sich besser zurechtfinden kann. Dank der freundlichen Aufnahme lebt Inga sich schnell ein und bereut die Entscheidung keine Sekunde. Ihre Eindrücke auf dem für Inga bis dahin völlig unbekannten Kontinent sind atemberaubend schön, auch die Arbeit mit den Kindern an der Schule macht ihr viel Freude. Die Klassengröße liegt deutlich unter den Verhältnissen in Deutschland, die Schüler sind neugierig und lieb, sodass sie sich schnell daheim und angekommen fühlt. Einziger Wermutstropfen ist die dünne Luft in ihrer neuen Heimat, sodass Inga – anders als früher bei körperlicher Aktivität an der Ostseeküste – immer schnell außer Puste kommt. Sie merkt zunächst, dass ihre Laufwege kürzer werden. Ein Weg in der Schule vom Lehrerzimmer in den Kartenraum zieht sich endlos wie Gummi, und sie kommt richtig ins Schnaufen auf dem Weg. „Naja, das sind halt die ungewohnte Höhe hier in den Bergen und die dünne Luft. Das wird schon wieder", tröstet sie sich und ignoriert geflissentlich, dass Santiago gar nicht so hoch liegt.
Ausflug ins Gebirge
Zwei Wochen später fährt sie mit Freunden aus Deutschland auf einen Folkloremarkt, der auf 2700 Meter Höhe liegt. Die Fahrt mit dem klapprigen und pickepackevollen Bus, die kurvige Strecke und die tolle Aussicht machen schon allein die Fahrt dorthin zu einem einmaligen Erlebnis. Die Bushaltestelle liegt etwas außerhalb des kleinen Bergdörfchens, sodass die Gruppe nach dem Ausstieg noch einen kleinen Fußmarsch vor sich hat. Der Weg führt sie auf einer asphaltierten Straße immer bergab bis zum Örtchen und von dort zum Markt, wo sie bereits ein farbenfrohes Getümmel und laute Musik erwarten. Nach 20 Minuten dort angekommen staunt Inga über die gute Kondition ihrer Freunde, denn sie ist als einzige nach dem kurzen Fußweg bergab von der Bushaltestelle zum Marktplatz außer Puste. „Merkt ihr denn nichts von der dünnen Luft? fragt sie in die Runde, die Arme in die Seite gestemmt und tief ein- und wieder ausatmend. „Naja, etwas anders als daheim fühlt es sich schon an, aber schlimm war’s nicht
, erwidern die anderen. Als auch Inga wieder ausgeruht ist, bummeln sie gemeinsam von Stand zu Stand, erstehen wunderbare Mitbringsel und bemerken gar nicht, dass seit ihrer Ankunft schon fast 3 Stunden vergangen sind. „Zeit für den Rückmarsch ruft Inga ihren Freunden zu, „wir sollten vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein
.
Außer Puste
Beladen mit den bunten Souvenirs vom Markt tritt die Gruppe also den Weg zur Bushaltestelle an. Der Rückweg führt sie die steile Straße aus dem Dorf bergauf bis zur windschiefen Haltestelle. Aus der Ferne können sie erkennen, dass sich dort bereits einige Fahrgäste bereithalten. Leider muss Inga schon nach wenigen Schritten bergauf stehenbleiben: „Ich kann nicht mehr, japst sie, ich kann keinen Schritt mehr laufen. Die Freunde stehen etwas ratlos um sie herum, keiner sonst ist kurzatmig. Inga kämpft mit den Tränen: „Es tut mir leid, ich kann KEINEN SCHRITT mehr gehen. Es – fühlt – sich – an, als – ob – mir – jemand – die – Luft -abschnürt, es – geht – nicht
, bricht es abgehackt und mühsam aus ihr heraus. „Ich – weiß – nicht, wie – ich – da – jemals – hochkommen – soll, stammelt sie mit tränenerstickter Stimme. Betretene Gesichter bei den Freunden. „Komm, wir tragen dich
, sagen schließlich Max und Jonathan, nehmen Inga abwechselnd auf ihre Schultern, aber kommen dabei selbst an ihre Grenzen. Schließlich wird ein vorbeifahrender Mofafahrer angehalten und ihm mit Händen und Füßen das Problem erklärt. Gegen ein gutes Trinkgeld erklärt er sich bereit, Inga mitzunehmen, und die kleine Gruppe kommt so doch noch rechtzeitig zum Bus. Trotz Chauffeur ist Inga fix und fertig, als sie endlich im Bus nach Hause sitzt. Von Ausflügen in die Berge und von Höhenluft hat sie die Nase gestrichen voll.
Probleme im Alltag
Den weiteren Aufenthalt in Südamerika verbringt Inga dann etwas umsichtiger. Sie vermeidet körperliche Anstrengungen, obwohl ihr auch schon die Treppen im Alltag zur Herausforderung werden. Ihr WG-Zimmer liegt 2 Treppen hoch, und sie muss sich die Stufen jeden Abend förmlich hochkämpfen. Stufe für Stufe geht sie die Treppe hoch. Inga kommt sich vor wie Reinhold Messner ohne Sauerstoff auf dem Weg zum Gipfel des Mount Everest, so groß erscheint ihr die Anstrengung. In ihrer Verzweiflung sucht sie Rat beim Arzt vor Ort. Inga erklärt die Symptome, so gut es mit der Sprachbarriere eben geht. Der Arzt untersucht sie und findet nichts Auffälliges. „Kein wirklicher Trost, denkt sich Inga, denn die Treppe schafft sie ja trotz der günstigen ärztlichen Einschätzung nicht. Aber sie weiß sich zu helfen. Um schwere Lasten zu vermeiden, hat sie sich angewöhnt, Tee zu trinken. So muss sie statt schwerer Flaschen nur noch die Teebeutel die Treppe hochschleppen. Selbst das fällt ihr zunehmend schwer. „Egal
, sagt sie sich, dann hechle ich mich eben hoch. Im Flachland wird es wieder besser werden, denkt Inga sich und passt die Rundreisepläne entsprechend an: Noch zwei kleinere Touren auf Höhe des Meeresspiegels vielleicht, aber die Berge werden gemieden. Gemeinsam mit ihrer Freundin Sabine überlegt sie, wie sie weiter vorgehen soll. „Vielleicht hast du dir auch irgendeine Infektion eingefangen? meint die Freundin. „So ganz ohne Fieber? Und außerdem hab’ ich mich doch gegen alles impfen lassen
entgegnet Inga ratlos. „Lass dich in Deutschland einfach mal durchchecken. Und warte ab, wahrscheinlich wird es dir zu Hause ohnehin wieder besser gehen. Dir fehlt nur Schwarzbrot, bringt Sabine ihre Einschätzung schmunzelnd auf den Punkt. Wenig später schon müssen sich die Freundinnen verabschieden. „Gib mir Bescheid, was die Ärzte bei Dir herausfinden
, ruft Sabine Inga am Abfluggate hinterher. Inga zeigt ihr nur lachend einen Vogel, sie fühlt sich eigentlich schon jetzt wieder viel zu fit, um überhaupt zum Arzt gehen zu wollen.
Daheim in Deutschland
Zurück in Deutschland geht das Elend mit Ingas Leistungsschwäche allerdings leider doch weiter: Auch im norddeutschen Flachland muss sie feststellen, dass der Gang die Treppe hoch ein mühsames Unterfangen für sie bleibt. Sie keucht wie eine altersschwache Dampflok und braucht nach dem Treppensteigen wirklich Zeit, um wieder zu Luft zu kommen. „Was ist nur mit mir los?, fragt sich Inga besorgt, „Vielleicht liegt es daran, dass ich zuletzt zu wenig Sport gemacht habe?
Ihre Versuche, wieder ins Training hineinzufinden, scheitern jedoch kläglich. Wohlgemerkt, es liegt nicht am Willen oder der Bereitschaft! Inga will Sport machen, aber sie schafft es einfach nicht. Nach einer Runde auf dem Sportplatz oder im Park ist sie so außer Puste, dass sie fast ein Taxi nehmen muss, um wieder nach Hause zu kommen. Sie beobachtet auch, dass ihr Bauch dicker geworden ist, und macht in ihrer Ratlosigkeit sogar einen Schwangerschaftstest. Das Ergebnis ist – wie sie schon erwartet hatte – negativ. Aber die Atemnot bleibt, einmal fällt sie sogar nach dem Einkauf um. „Mir ist schwarz vor Augen geworden, vielleicht ist mein Blutdruck zu niedrig? „Egal, du musst dringend zum Arzt
drängt ihr Freund Thomas.
Viele Arzttermine
Dem Hausarzt erzählt sie ihre Geschichte: Von Südamerika, von der Wanderung den Berg hinauf, von den Treppen und dass sie so schlecht Luft bekommt. Der Arzt beruhigt sie mit guten Worten. „Sie sehen doch ganz fit aus. Und bei der Untersuchung von Herz und Lunge kann er ebenfalls nichts Besonderes finden. „Vielleicht ist es ja etwas Allergisches
, vermutet er und schickt sie zur weiteren Diagnostik zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt. „Allergisch?" denkt Inga Das ist aber komisch. Aber sie vertraut der ärztlichen Einschätzung und vereinbart einen Termin.
Der HNO-Arzt ist sehr zufrieden mit Ingas Befunden. „Alles in Ordnung, so erläutert er die Werte. Eine Allergie besteht nicht, und keiner der Befunde erklärt die Probleme, die sie ihm geschildert habe. „Vielleicht macht es Sinn, dass Sie sich mal seitens der Lunge beim Pulmologen untersuchen lassen?
Inga ist zu allem bereit, holt sich bei ihrem Hausarzt eine Überweisung zum Lungenfacharzt und stellt sich dort 4 Wochen später vor. Die Zwischenzeit übersteht sie, weil sie redlich lernt, sich anzupassen: kein Rennen dem Bus hinterher, keine Treppen und alles immer schön langsam machen. An Sport ist gar nicht zu denken, aber es lebt sich ja auch ohne Sport, erinnert sich Inga an Churchills Worte.
Die Facharzt-Odyssee
Beim Pulmologen erzählt sie dann wieder ihre Geschichte. „Bald kann ich mir die Geschichte auch ins Handy reinsprechen und den Ärzten vorspielen, denkt sich Inga, erzählt aber dennoch auch diesem Arzt von ihrer Not: die Reise nach Chile, die Höhe, die Berge, die Luftnot und so weiter. Der Lungenarzt macht sich ein paar Notizen, hört Inga ab und bietet ihr dann verschiedene Untersuchungen an, die zum Teil kostenpflichtig für Inga sein würden. Kein Problem, Inga würde ihr Sparbuch plündern, damit sie endlich wüsste, was mit ihr los ist, aber so teuer ist es nicht. Die IGeL-Leistungen, die der Arzt ihr empfiehlt, zeigen dessen Freude normale, gesunde Ergebnisse. „Ich darf Sie beruhigen, Frau K.
, eröffnet er ihr. „Sie haben eine kerngesunde Lungenfunktion und …. Weiter kommt der Arzt nicht, denn Inga unterbricht ihn: „Aber ich komme doch nicht die Treppe hoch!
Fast schon etwas genervt fordert der Arzt Inga auf, ihm doch mal zu zeigen, wie sie die Treppe steigt. Gesagt – getan: die Praxis liegt im 2. Stock, Inga geht mit dem Arzt ins Treppenhaus und steigt einen Absatz hinunter und wieder herauf. Als sie schnaufend vor dem Arzt steht, hat er eine überraschende Diagnose für Inga parat: „Frau K., sie atmen falsch!, erläutert er ihr und löst damit großes Erstaunen bei ihr aus. „Wie, ich atme falsch? Aber das Atmen verlernt man doch nicht?!
Der Lungenexperte bleibt bei seiner Entscheidung und empfiehlt ihr klar und deutlich: „Frau K., Sie können nicht atmen! Treiben Sie Sport, dann regelt sich das von alleine!"
Ratlos kommt Inga nach Hause und berichtet Thomas von einem frustrierenden Arztbesuch. Thomas schüttelt auch nur den Kopf darüber, dass seine Freundin angeblich „falsch atmet". Nichtsdestotrotz nehmen sich die beiden den Rat, mehr Sport zu machen, zu Herzen. Leider scheitern Ingas Versuche, Sport zu machen, allesamt kläglich. Egal, was sie macht, sie muss jede sportliche Aktivität mangels Ausdauer sofort wieder abbrechen.
Als nächstes wird Inga zum Kardiologen geschickt, weil ihre Leistungsminderung natürlich auch „vom Herzen kommen könnte, wie der Hausarzt vermutet. Beim Herzspezialisten erzählt sie abermals ihre Geschichte, spult die Chronologie ihrer Leidensgeschichte wie vom Tonband ab: Südamerika, die Höhenluft, die Treppen …. Beim Herzexperten folgen auch die nächsten Untersuchungen: EKG, Echo, und Langzeit-EKG. Alles wieder mit Normalbefunden, also ohne Erklärung für ihre Leistungsminderung. Nur bei den Blutfettwerten gibt es eine Auffälligkeit, Ingas Cholesterin ist leicht erhöht. Für die Kardiologin ist alles klar: „Machen Sie mehr Sport und ernähren Sie sich einfach fettarm, dann wird das wieder!
Inga ist verzweifelt und zornig: „Das ist doch Quatsch, mein Cholesterin erklärt doch nicht, warum ich als junge Frau nicht mehr die Treppe hochkomme. Ich will doch endlich wieder Sport machen, schaffe es aber nicht mehr." Sie muss vor Wut fast weinen, als sie Thomas am Abend wieder