Präsentismus: Krank zur Arbeit – Ursachen, Folgen, Kosten und Maßnahmen
Von Daniela Lohaus und Wolfgang Habermann
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Über dieses E-Book
Ist Präsentismus eines der teuersten und gefährlichsten Phänomene der Weltwirtschaft?
Das Buch bietet erstmalig eine umfassende und strukturierte Darstellung von Präsentismus und erspart so mühevolle Recherchearbeit in verstreuten Publikationen. Wissenschaftlich Interessierte, Personalverantwortliche und Studierende profitieren von einer verständlichen Zusammenfassung der wichtigsten Forschungsergebnisse aus unterschiedlichen Kulturkreisen und für diverse Berufsgruppen. Die Autoren haben aus diesen Ergebnissen ein entscheidungsintegriertes Modell entwickelt, das erklärt, unter welchen Bedingungen es zu Präsentismus kommt.
Sie erfahren, wie Präsentismus erfasst wird und wie die monetären und immateriellen Kosten eingegrenzt werden können. Lernen Sie, wie verbreitet Präsentismus ist, was Mitarbeiter dazu motiviert, welche Vorteile mit diesem Verhalten verbunden sein können und dass dafür Belastungen und Konsequenzen in Kauf genommen werden.Dazu bekommen Sie einen Überblick über Maßnahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) zur gesundheitlichen Prävention und zur Bekämpfung erkrankungsbedingter Beschwerden von Beschäftigten als Ursachen von Präsentismus und Absentismus.
Das Buch ist für alle Fach- und Führungskräfte wie auch für Betriebsräte und präventiv tätige Professionals bestens geeignet.
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Buchvorschau
Präsentismus - Daniela Lohaus
© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018
Daniela Lohaus und Wolfgang HabermannPräsentismushttps://doi.org/10.1007/978-3-662-55701-3_1
1. Einleitung
Daniela Lohaus¹ und Wolfgang Habermann²
(1)
FB GS / Wirtschaftspsychologie, Hochschule Darmstadt, Darmstadt, Deutschland
(2)
H & L Karriereberatung, Lautertal, Deutschland
1.1 Ursprünge der Präsentismusforschung
1.2 Inhalt und Struktur des Buches
Literatur
In diesem Kapitel wird die Entwicklung der Präsentismusforschung dargestellt. Es wird auf Unterschiede im Verständnis des Begriffs Präsentismus sowie auf die wesentlichen Forschungsstränge eingegangen. Außerdem werden Inhalt und Struktur des Buches skizziert.
1.1 Ursprünge der Präsentismusforschung
Die gesundheitsbezogenen Kosten steigen in allen entwickelten Volkswirtschaften kontinuierlich an. Das ist vor allem eine Folge ihrer immer älter und damit für Erkrankungen anfälliger werdenden Bevölkerungen. Diese Kosten belasten nicht nur das Gesundheitssystem , sondern auch die Unternehmen, die ihre Mitarbeiter, bedingt durch den demografischen Wandel und den damit einhergehenden (voraussichtlichen) Mangel an Personal, wahrscheinlich bis in ein höheres Alter hinein beschäftigen müssen. Das bedeutet, dass sie vermehrt mit krankheitsbedingten Fehlzeiten und dadurch verursachten Produktivitätseinbußen zu rechnen haben. Verminderte Produktivität ist aber nicht nur durch Fehlzeiten (Absentismus) bedingt, sondern resultiert auch aus krankheitsbedingt eingeschränkten Leistungen bei Anwesenheit am Arbeitsplatz (Präsentismus): „It now appears that health related loss of productivity can be traced equally to workers showing up at work as well as to workers choosing not to" (Gosselin et al. 2013, S. 75).
Die Erforschung von Absentismus hat lange Tradition, Präsentismus hat erst in den letzten Jahren Interesse hervorgerufen
Um die volle Arbeitskraft ihrer Mitarbeiter zu erhalten und auch auf längere Sicht Erkrankungen zu verhindern, werden sich Organisationen zukünftig stärker für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter engagieren und dabei sowohl Absentismus als auch Präsentismus angehen müssen. Während die Beschäftigung mit Absentismus, also dem Fernbleiben vom Arbeitsplatz, obwohl man zur Arbeit eingeplant ist, für Wissenschaftler und Praktiker eine lange Tradition hat (310 veröffentliche Artikel zwischen 1970 und 2009, davon die meisten in HR-Zeitschriften; vgl. Bierla et al. 2013), ist das Interesse an Präsentismus, d. h. das Erscheinen am Arbeitsplatz, obwohl man krank ist, erst in den letzten Jahren gewachsen (vgl. auch Hansen und Andersen 2008). Hansen und Andersen führen die bislang noch geringere Aufmerksamkeit für Präsentismus im Vergleich zu Absentismus darauf zurück, dass es im Gegensatz zu Absentismus nicht formal registriert wird und dadurch schwieriger zu erfassen ist.
../images/441220_1_De_1_Chapter/441220_1_De_1_Figa_HTML.gifPräsentismus wurde in den USA zunächst unter reiner Kostenperspektive betrachtet, erst später wurde die Gesundheit der Betroffenen einbezogen
Das Interesse am Phänomen Präsentismus ist in zwei Regionen und mit verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkten entstanden: in den USA und in Europa. Der Begriff Präsentismus wurde wissenschaftlich erstmals 1955 in den USA verwendet, bezog sich damals aber lediglich auf die Anwesenheit am – im Gegensatz zur Abwesenheit vom – Arbeitsplatz (Steinke und Badura 2011). Im Fokus stand die Verringerung von Abwesenheitszeiten unter Kostengesichtspunkten. Erst um die Jahrtausendwende wurde der Aspekt der Gesundheit in die Betrachtung einbezogen. Das Thema wurde dann in den USA in erster Linie durch Mediziner bearbeitet, die den Zusammenhang zwischen Krankheit ganz allgemein oder spezifischen (chronischen) Krankheitsbildern und Arbeitsproduktivität erforschten (Johns 2010). Diese Art von Studien macht auch heute noch den Großteil der empirischen Arbeiten aus (Steinke und Badura 2011). Dabei geht es in erster Linie darum, wie gesundheitsbedingte Produktivitätseinschränkungen , z. B. durch eine entsprechende Medikation, reduziert werden können.
In Europa konzentriert sich die Forschung zu Präsentismus weitgehend darauf, welche Ursachen und Folgen es hat, krank zur Arbeit zu gehen. Präsentismus wird überwiegend als Reaktion auf Arbeitsplatzunsicherheit , die mit Restrukturierungs- und Personalabbaumaßnahmen einhergeht, und den damit verbundenen Anstieg von Stress und Krankheit betrachtet. Empirische Studien dazu wurden erstmals in den 1990er-Jahren durchgeführt (vgl. Böckerman und Laukkanen 2010).
Weitere Forschungsinitiativen entwickelten sich im Zusammenhang mit diesen Untersuchungen. Sie versuchten, das Phänomen Präsentismus eindeutig und interessenübergreifend zu definieren, Modelle der Wirkzusammenhänge der mit ihm verbundenen Variablen zu erstellen und Instrumente zu entwickeln, mit denen Präsentismus zuverlässig gemessen werden kann. Erst in den letzten Jahren werden die unterschiedlichen Forschungsstränge stärker zusammengeführt (Johns 2010).
Das Thema hat besonderen Aufschwung durch Hinweise erhalten, dass die Kosten von Präsentismus jene von Absentismus deutlich übersteigen
Das Thema hat besonderen Aufschwung erlebt, seitdem häufiger darauf hingewiesen wird, dass die Kosten von Präsentismus die von Absentismus übersteigen (z. B. Wang et al. 2010). Dabei wird die Produktivität unter Präsentismus gewöhnlich mit der Leistung verglichen, die erbracht wird, wenn keine gesundheitlichen Einschränkungen vorliegen, und nicht als Alternative zur Situation bei krankheitsbedingter Abwesenheit vom Arbeitsplatz gesehen (Fissler und Krause 2010). In der letztgenannten Perspektive ist Präsentismus in erster Linie für Unternehmen vorteilhaft, enthält unter bestimmten Umständen aber auch positive Aspekte für die betroffenen Beschäftigten selbst (Johns 2010).
1.2 Inhalt und Struktur des Buches
Das Buch bietet einen Überblick über die Thematik Präsentismus (◘ Abb. 1.1). Es richtet sich an Mitarbeiter im Personalmanagement und im betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) und ist auch für Unternehmensleitungen und Selbstständige hilfreich. Wissenschaftlich an der Problematik Interessierte werden zu allen relevanten Aspekten Diskussionsansätze finden. Auf der Grundlage der umfassenden Betrachtung des Phänomens kann der Leser dessen Bedeutung für den eigenen organisationalen Kontext einschätzen. Das Buch enthält Hinweise zur Einführung passender gesundheitsfördernder Instrumente und zu adäquaten Arbeitsgestaltungs- und Führungskräfteentwicklungsmaßnahmen. Die Ausführungen machen darüber hinaus die Rolle der Unternehmenskultur in Bezug auf Präsentismus deutlich. Studierende der Themenfelder Psychologie und Wirtschaft sowie Gesundheitsmanagement wird es für die vielseitige Relevanz des Phänomens sensibilisieren und sie auf dessen Beachtung und Behandlung in der betrieblichen Praxis vorbereiten. Die inhaltliche Darstellung wird durch zahlreiche Grafiken unterstützt. Fallstudien veranschaulichen theoretische Inhalte an ausgewählten Beispielen aus der Praxis.
../images/441220_1_De_1_Chapter/441220_1_De_1_Fig1_HTML.gifAbb. 1.1
Leitfragen zur Inhaltsvorschau
In ► Kap. 2 wird der Begriff Präsentismus vor dem Hintergrund verschiedener Forschungsrichtungen definiert und gegen Absentismus, dem Fernbleiben von der Arbeit (aufgrund von Krankheit ), abgegrenzt. Präsentismus und Absentismus werden oft als Gegenpole verstanden (Preisendörfer 2010), und es wird empfohlen, bei empirischen Studien zu Präsentismus das Phänomen des Absentismus jeweils mit zu betrachten.
In ► Kap. 3 wird auf die Verbreitung eingegangen und die Bedeutung von Präsentismus aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Von Unternehmen wird häufig der Kostenaspekt in den Vordergrund gerückt, aber auch die Unternehmenskultur , die Präsentismus begünstigen oder verhindern kann, spielt eine Rolle. Von Bedeutung ist Präsentismus natürlich besonders für die jeweiligen Arbeitnehmer selbst. Aber auch Kollegen und Vorgesetzte sind von seinen Auswirkungen betroffen. Für das Verständnis von Präsentismus sind die Motive für dieses Phänomen entscheidend.
Die Erfassung bzw. Messung von Präsentismus ist Gegenstand von ► Kap. 4. Es werden gängige Instrumente zur objektiven und subjektiven Erfassung von Präsentismus mit ihren Stärken und Schwächen beschrieben. Ergänzt wird die Darstellung um verschiedene Verfahren zur Erfassung der Produktivität bzw. der Minderleistung der von gesundheitlichen Beschwerden beeinträchtigten Mitarbeiter. Produktivitätsmessungen werden gewöhnlich im Zusammenhang mit der Untersuchung von Präsentismus eingesetzt, um die mit dem Phänomen verbundenen Kosten bzw. Einbußen für die Organisation abschätzen zu können.
► Kap. 5 behandelt theoretische Ansätze zu Präsentismus. In der Vergangenheit verfolgte die Forschung das Thema vielfach nur beobachtend und vernachlässigte theoretische Begründungen. Inzwischen gibt es aber zunehmend Ansätze, relevante Variablen zu identifizieren und deren Wirkzusammenhänge mit Präsentismus nachzuweisen. Es werden grundlegende Modelle vorgestellt und bewertet.
Am Anfang eher losgelöst von theoretischen Ansätzen, heute stärker eingebunden in Modellüberlegungen, untersucht die Forschung Einflussfaktoren bzw. Bestimmungsgrößen für das Phänomen. Diese Variablen werden in ► Kap. 6 systematisch beleuchtet. Dabei werden Merkmale der Person, Aspekte der Arbeitstätigkeit und der Arbeitsumgebung sowie Charakteristika der Organisation aufgegriffen. Die Darstellung basiert auf einer Vielzahl wissenschaftlicher Studienergebnisse aus unterschiedlichsten wirtschaftlichen und kulturellen Kontexten .
In ► Kap. 7 werden die Kosten von Präsentismus thematisiert. Es werden verschiedene Ansätze zur Ermittlung der Kosten von Präsentismus für Unternehmen behandelt und diese Kosten den Kosten von Absentismus bzw. alternativem Absentismus gegenübergestellt. Präsentismuskosten aus der Sicht der Beschäftigten und Beispiele zur Verdeutlichung der Ungenauigkeiten und Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Kosten ergänzen diesen Schwerpunkt.
In ► Kap. 8 werden Angebote des betrieblichen Gesundheitsmanagements zur Vermeidung bzw. Reduzierung von Präsentismus beschrieben. Es werden Studien referiert, die die Auswirkungen von Prävention auf das Vorkommen von Präsentismus untersuchen. Dieses Kapitel enthält damit Hinweise auf relevante Maßnahmen der Personalpolitik zur Beeinflussung des Verhaltens der Belegschaft und des Managements.
► Kap. 9 stellt den aus Forschungssicht überwiegend negativen Konsequenzen von Präsentismus positive Auswirkungen in einer Zusammenfassung gegenüber. Nach dieser Darstellung wird ein Ausblick auf die Entwicklung von Präsentismus in der digitalen Welt der Zukunft gegeben.
Eine didaktische Besonderheit dieses Buches ist die Ergänzung der theoretischen Ausführungen zu den einzelnen Themenbereichen durch Fallstudien . Diese 17 Fallstudien sind das Ergebnis von Interviews mit Personen aus unterschiedlichen Berufen und Positionen, deren berufs- bzw. arbeitsbezogene Situationen, Präsentismushäufigkeit und Motive dafür von den Autoren erfragt wurden. Auch wenn die Antworten nicht im statistischen Sinne repräsentativ sein können, zeigen sie doch wie durch ein Brennglas fokussiert, welchen Schwierigkeiten man sich bei Erfassung des Phänomens gegenübersieht, wie unterschiedlich die Motivationslage sein kann und welche Auswirkungen mit Präsentismus verbunden sind. Um möglichst authentische Antworten aufzeichnen zu können, wurden die Befragungsergebnisse nicht in eine einheitliche Struktur „gepresst". Die Platzierung der Fallstudien in den einzelnen Kapiteln und Abschnitten des Buches erfolgte entsprechend den von den Autoren in den Antworten der Befragten wahrgenommenen Anliegen. Diese Zuordnung ist deshalb naturgemäß eher subjektiv als durch eindeutige Kriterien begründet.
Literatur
Bierla I, Huver B, Richard S (2013) New evidence on absenteeism and presenteeism. Int J Hum Resour Manage 24:1536–1550Crossref
Böckerman P, Laukkanen E (2010) What makes you work while you are sick? Evidence from a survey of workers. Eur J Public Health 20:43–46CrossrefPubMed
Fissler ER, Krause R (2010) Absentismus, Präsentismus und Produktivität. In: Badura B, Walter U, Hehlmann T (Hrsg) Betriebliche Gesundheitspolitik – Der Weg zur gesunden Organisation, 2., vollst. überarb. Aufl. Springer, Heidelberg, S 411–425
Gosselin E, Lemyre L, Corneil W (2013) Presenteeism and absenteeism: differentiated understanding of related phenomena. J Occup Health Psychol 18:75–86CrossrefPubMed
Hansen CD, Andersen JH (2008) Going ill to work – what personal circumstances, attitudes and work-related factors are associated with sickness presenteeism? Soc Sci Med 67:956–964CrossrefPubMed
Johns G (2010) Presenteeism in the workplace: a review and research agenda. J Organ Behav 31:519–542Crossref
Preisendörfer P (2010) Präsentismus. Prävalenz und Bestimmungsfaktoren unterlassener Krankmeldungen bei der Arbeit. Z Pers 24(2):401–408
Steinke M, Badura B (2011) Präsentismus – Ein Review zum Stand der Forschung. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund. http://www.baua.de/de/Publikationen/Fachbeitraege/Gd60.html. Zugegriffen am 14.02.2017
Wang JL, Schmitz N, Smailes E, Sareen J, Patten S (2010) Workplace characteristics, depression, and health-related presenteeism in a general population sample. J Occup Environ Med 52:836–842CrossrefPubMed
© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018
Daniela Lohaus und Wolfgang HabermannPräsentismushttps://doi.org/10.1007/978-3-662-55701-3_2
2. Begriffsklärungen
Daniela Lohaus¹ und Wolfgang Habermann²
(1)
FB GS / Wirtschaftspsychologie, Hochschule Darmstadt, Darmstadt, Deutschland
(2)
H & L Karriereberatung, Lautertal, Deutschland
2.1 Definition und Verständnis von Präsentismus
2.2 Stand der Präsentismusforschung
2.3 Absentismus in Abgrenzung zu Präsentismus
Literatur
Voraussetzung für ein Verständnis des Phänomens Präsentismus, der Forschung dazu und der Einordnung der Befunde ist die Klärung des Begriffs. Das Kapitel wird das unterschiedliche Verständnis von Präsentismus deutlich machen und zeigen, inwiefern die Divergenzen durch von einander abweichende Forschungslinien bedingt sind.
2.1 Definition und Verständnis von Präsentismus
Der Begriff Präsentismus wurde in der Vergangenheit für eine Vielzahl vage verwandter Phänomene genutzt
Obwohl der Begriff „Presentee" – gemeint ist ganz allgemein jemand, der anwesend ist – im literarischen Kontext bereits 1892 von Mark Twain verwendet wurde, tauchte er im wissenschaftlichen Zusammenhang erst in den 1950er-Jahren auf und bezog sich auf Anwesenheit am im Gegensatz zu Abwesenheit vom Arbeitsplatz (vgl. Steinke und Badura 2011). Erst in den 1980er-Jahren entstanden zeitgemäße Definitionen (Johns 2010). Diese variieren allerdings extrem in ihrer Bandbreite und umfassen eine Vielzahl unterschiedlicher Phänomene (◘ Abb. 2.1). Ihnen ist lediglich gemeinsam, dass Personen physisch an ihrem Arbeitsplatz anwesend sind. So gibt es Definitionen, die Präsentismus als Überstunden machen auffassen oder als verlängerte Anwesenheit am Arbeitsplatz, um einen guten Eindruck zu erzeugen, und wieder andere, die darunter die Fähigkeit verstehen, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu erledigen (vgl. Steinke und Badura 2011). Sie unterscheiden sich außerdem in ihrer Bewertung, indem Präsentismus entweder als positiv oder als negativ angesehen wird (vgl. Johns 2010). Nicht alle Definitionen nehmen Bezug auf eingeschränkte Gesundheit oder verminderte Produktivität .
../images/441220_1_De_2_Chapter/441220_1_De_2_Fig1_HTML.gifAbb. 2.1
Bandbreite des Verständnisses von Präsentismus
Eine allgemein akzeptierte einheitliche Definition für Präsentismus existiert bislang nicht
Eine allgemein akzeptierte Definition für Präsentismus gibt es bislang nicht. Allerdings wird in Übereinstimmung mit den meisten Organisationsforschern inzwischen eine knappe und auf gesundheitliche Einschränkungen bezogene Definition verwendet. Präsentismus bezeichnet danach das Phänomen, dass Mitarbeiter zur Arbeit kommen, obwohl sie gesundheitliche Einschränkungen physischer oder psychischer Art erleben, die berechtigten Anlass bieten, der Arbeit fernzubleiben. Die Definition macht deutlich, dass es weder eine Zuschreibung bestimmter Gründe oder Motive für dieses Verhalten gibt, noch eine Zuschreibung von Konsequenzen, die mit dem Verhalten verbunden sind. Sie enthält außerdem keine Wertung in positiver oder negativer Richtung. Dadurch wird eine Konfundierung von Ursache und Wirkung sowie eine einseitige Bewertung des Phänomens vermieden (Johns 2010). Wohl um Präsentismus als krankheitsbezogen von anderen Definitionen abzugrenzen, verwenden viele Wissenschaftler inzwischen sogar den im Grunde genommen tautologischen Begriff sickness presenteeism, also „Krankheitspräsentismus" (z. B. Bergström et al. 2009; Hansen und Andersen 2008; Johansen et al. 2014). Sie tragen damit zu einem eindeutigen Verständnis bei, denn inzwischen gibt es auch den Begriff des non-work presenteeism (Chern Wan et al. 2014). Darunter ist zu verstehen, dass sich Arbeitnehmer während der Arbeitszeit mit Dingen beschäftigen, die nicht zu ihrer Arbeit gehören, und in dieser Zeit nicht produktiv sind. Diese Auffassung kommt auch zum Ausdruck, wenn Präsentismus als „lost time at work" bezeichnet wird (Brooks et al. 2010). Vingård et al. (2004) lehnen den Begriff sickness presenteeism allerdings mit der Begründung ab, er suggeriere, dass es ungewöhnlich sei, krank zur Arbeit zu gehen. Nach ihrer Ansicht gilt für die meisten Personen, die berufstätig sind, dass sie trotz verschiedener gesundheitlicher Einschränkungen keine Krankschreibungen in Anspruch nehmen.
Präsentismus: Mitarbeiter kommen zur Arbeit, obwohl sie gesundheitliche Einschränkungen physischer oder psychischer Art erleben, die berechtigten Anlass bieten, der Arbeit fernzubleiben. Im Gegensatz zu Absentismus ist Präsentismus nicht immer für andere wahrnehmbar, da nicht unbedingt ersichtlich ist, ob bzw. in welchem Ausmaß die betroffene Person gesundheitlich eingeschränkt ist.
Die meisten Definitionen von Präsentismus verzichten darauf, sich auf Motive und Folgen von Präsentismus zu beziehen, um Ursache und Wirkung nicht zu vermengen
2.2 Stand der Präsentismusforschung
In der europäischen Forschungslinie wird Präsentismus als Verhalten verstanden, dessen Ursachen und Wirkungen – vor allem im Hinblick auf die Betroffenen – interessieren
In der Präsentismusforschung sind innerhalb dieses Verständnisses zwei Hauptstränge zu identifizieren (vgl. Steinke und Badura 2011). Demnach wird Präsentismus (a) als das Verhalten von Mitarbeitern, die krank zur Arbeit kommen, sowie (b) als Produktivitätseinbuße verstanden. Bei der erstgenannten Richtung wird danach gefragt, wie krank sich ein Mitarbeiter fühlt und inwiefern dieser Zustand eine Krankschreibung gerechtfertigt hätte. Untersucht werden dabei häufig auch die Ursachen bzw. Motive für dieses Verhalten sowie seine Folgen, wobei sich Letztere zwar auf die Konsequenzen für die Gesundheit der Betroffenen konzentrieren, aber auch andere Wirkungen einbeziehen. Die Motive für Präsentismus können durch die Persönlichkeit , die Arbeit bzw. die Organisation wie auch durch gesellschaftliche Faktoren bedingt sein. Präsentismus wird nach dieser Auffassung als Ergebnis eines komplexen individuellen Entscheidungsprozesses verstanden, bei Krankheit zur Arbeit zu gehen. Dieses Verständnis spiegelt sich in erster Linie in der europäischen Forschungslinie wider (z. B. Aronsson und Gustafsson 2005; Bergström et al. 2009; Gustafsson Sendén et al. 2016). Der Schwachpunkt dieser Auffassung von Präsentismus liegt darin, dass es als Missstand betrachtet wird, wenn Mitarbeiter mit gesundheitlichen Einschränkungen arbeiten gehen. Die betriebliche Realität begünstigt eine Zunahme dieses Verhaltens. Außerdem kann es auch bei bestimmten psychischen Erkrankungen durchaus sinnvoll sein, weiterhin zu arbeiten (Steinke und Badura 2011).
../images/441220_1_De_2_Chapter/441220_1_De_2_Figa_HTML.gifIn der amerikanischen Forschungstradition wird Präsentismus als Produktivitätsminderung verstanden, die es zu reduzieren gilt
Präsentismus ist überwiegend negativ konnotiert. Als Vergleichsmaßstab dienen gesunde, voll produktive Mitarbeiter, nicht gesundheitlich genauso beeinträchtigte, die der Arbeit fernbleiben
In der zweiten Forschungslinie richtet sich die Frage darauf, wie stark sich die Befragten in ihrer Arbeitsproduktivität beeinträchtigt fühlen. Ursachen für und Folgen von Präsentismus auf der Ebene des Individuums spielen dabei keine Rolle. Von den meisten Wissenschaftlern, die sich aus dieser Sicht mit der Thematik beschäftigen, wird Präsentismus demnach als das messbare Ausmaß verstanden, in dem Krankheiten, gesundheitliche Beschwerden und Symptome einen negativen Einfluss auf die Arbeitsproduktivität von Mitarbeitern haben, die sich dafür entscheiden, trotz dieser Einschränkungen zu arbeiten (vgl. Halbesleben et al. 2014). Es stehen demnach die Konsequenzen für den Arbeitgeber, vor allem in finanzieller Hinsicht, im Fokus. Der negative Einfluss der gesundheitlichen Einschränkungen bezieht sich sowohl auf die Quantität als auch auf die Qualität der eigenen Arbeit, aber auch auf die der Kollegen. Als Messlatte dient demnach der gesunde, in seiner Produktivität nicht eingeschränkte Mitarbeiter und nicht der Mitarbeiter, der bei den gleichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Arbeit fernbleibt. Diese Auffassung ist vor dem Hintergrund des epidemiologischen und demografischen Wandels , der mit vermehrten, häufig auch chronischen Krankheiten einer älter werdenden Belegschaft einhergeht, zu sehen (vgl. Steinke und Badura 2011). Zugenommen haben außerdem psychische und stressinduzierte Erkrankungen, die wahrscheinlich auch durch die zunehmende Arbeitsverdichtung bedingt sind. Das Hauptinteresse an der Erforschung dieser negativen Konsequenzen für die Arbeitsproduktivität besteht entsprechend darin, Ansatzpunkte für Gegenmaßnahmen, d. h. medizinische oder andere Interventionen , zu identifizieren, durch die die Arbeitsproduktivität verbessert werden kann (z. B. Burton et al. 2006).
Gesundheitliche Beschwerden bedeuten nicht automatisch, dass auch die Arbeitsfähigkeit eingeschränkt ist
Dieses Verständnis von Präsentismus ist in der US-amerikanischen Forschung vorherrschend (z. B. Burton et al. 2004; Collins et al. 2005; Hemp 2004), in der eine Vielzahl von Forschungsarbeiten im medizinischen Kontext durchgeführt werden. Die dort zu beobachtende Konzentration auf chronische Krankheiten sehen Steinke und Badura (2011) allerdings als erheblichen Schwachpunkt dieser Forschungslinie, da auch akute und periodische Krankheiten die Produktivität deutlich mindern können. Vingård et al. (2004) weisen außerdem auf den Umstand hin, dass viele Personen mit gesundheitlichen Problemen trotzdem nicht in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sind. Johns (2011) kritisiert zudem, dass die medizinisch orientierten Studien mehrheitlich zumindest implizit davon ausgehen, dass die hohen mit Präsentismus verbundenen Produktivitätsverluste durch ausschließlich medizinische Interventionen drastisch reduziert werden könnten. Ein Beispiel für diese Sichtweise ist die Studie von Oberender und Partner (2010). Zusammenfassend sind die beiden Forschungsstränge in ◘ Abb. 2.2 dargestellt.
../images/441220_1_De_2_Chapter/441220_1_De_2_Fig2_HTML.gifAbb. 2.2
Gegenüberstellung des europäischen und des US-amerikanischen Forschungsansatzes zu Präsentismus
Gesundheit und Krankheit sind die beiden Pole eines Kontinuums
In Bezug auf beide Forschungslinien zu Präsentismus (wie auch zu Absentismus) ist zu beachten, dass Gesundheit und Krankheit nicht als dichotom, sondern als Pole eines Kontinuums gesehen werden (◘ Abb. 2.3). Die Endpunkte markieren einerseits uneingeschränkte Gesundheit ohne medizinischen Befund, bei der die Person keinerlei Beschwerden wahrnimmt und voll produktiv ist, und andererseits manifeste Krankheit, bei der ein objektiver medizinischer Befund gegeben ist, mit dem auch subjektiv gravierende gesundheitliche Beeinträchtigungen und eine Verminderung der Leistungsfähigkeit