Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

In höheren Räumen: Der Weg der Geometrie in die vierte Dimension
In höheren Räumen: Der Weg der Geometrie in die vierte Dimension
In höheren Räumen: Der Weg der Geometrie in die vierte Dimension
eBook624 Seiten5 Stunden

In höheren Räumen: Der Weg der Geometrie in die vierte Dimension

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Das vorliegende Buch schildert, wie sich die Geometrie in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. allmählich von der Beschränkung der bis dato als selbstverständlich angenommenen Einzigartigkeit und Dreidimensionalität des Raumes befreite, was die Motive hierfür waren und welche Ergebnisse erzielt wurden. Unter diesen ragt ein Topos heraus: die Bestimmung der regulären Polytope im vierdimensionalen Raum. Nicht nur innermathematisch erregte die neue Geometrie Aufsehen; der Versuch, sie zur „wissenschaftlichen“ Erklärung spiritistischer Kunststücke heranzuziehen, führte bald dazu, dass die vierte Dimension in aller Munde war. Selten hat ein mathematisches Konzept eine solche Popularität erreicht wie die vierte Dimension; ein interessantes, heute fast vergessenes Kapitel zum Thema Mathematik und Öffentlichkeit wurde aufgeblättert. Dieses Buch schildert ausführlich den „Zöllner-Skandal“, ausgelöst durch die erwähnten Erklärungsversuche des Leipziger Astrophysiker Friedrich Karl Zöllner, und die Reaktionen hierauf seitens der Mathematiker, deren Strategie sich schlagwortartig als "Zurück in den Elfenbeinturm" charakterisieren lässt. Schließlich kommen die Beziehungen der vierten Dimension zu anderen Kulturgebieten wie bildende Kunst und Literatur zur Sprache. Philosophische Aspekte sind allgegenwärtig in der Geschichte der vierten Dimension.
Das Buch wendet sich an alle, die sich für die Geschichte der Mathematik und deren Einbettung in eine allgemeinere Kulturgeschichte interessieren. Es setzt wenig mehr als Schulgeometrie voraus.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. Feb. 2018
ISBN9783662547953
In höheren Räumen: Der Weg der Geometrie in die vierte Dimension

Ähnlich wie In höheren Räumen

Ähnliche E-Books

Mathematik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für In höheren Räumen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    In höheren Räumen - Klaus Volkert

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018

    Klaus VolkertIn höheren RäumenMathematik im Kontexthttps://doi.org/10.1007/978-3-662-54795-3_1

    1. Inkongruente Gegenstücke, Reliefs und erste Schritte

    Klaus Volkert¹ 

    (1)

    Didaktik und Geschichte der Mathematik, Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland

    Die ersten noch tastenden Versuche, auch in der Geometrie die Dreidimensionalität zu überwinden, begegnen uns in den 1840er-Jahren. Sie gehen alle in die gleiche Richtung, nämlich analytische Ausdrücke geometrisch zu interpretieren, oder, wie man manchmal liest, Algebra in geometrischer Einkleidung zu betreiben.

    Bevor wir uns diesen ersten Schritten zuwenden, sollen hier einige Belege für den aus heutiger Sicht vielleicht verblüffenden Widerstand gegen den vierdimensionalen Raum in der Geometrie, der noch in der ersten Hälfte des 19. Jhs. deutlich war, vorgestellt werden.

    Inkongruente Gegenstücke und das Problem der Orientierung

    Ein genuin geometrischer Anlass, der immer wieder mit der vierten Dimension in Verbindung gebracht wurde, war die Existenz von spiegelbildlichen, aber nicht deckungsgleichen Objekten im dreidimensionalen Raum. Je nach Kontext trugen (und tragen) diese unterschiedliche Bezeichnungen. In innermathematischen, in der Hauptsache geometrischen Zusammenhängen sprach man von symmetrischen Gebilden, unterschied also deutlich zwischen (modern gesprochen) Kongruenzbeziehungen mit und ohne Erhalt der Orientierung . Für erstere sagte man auch in Euklidischer Tradition „gleich und ähnlich, für letztere „symmetrisch . In den Naturwissenschaften, insbesondere in der Kristallographie, spricht man von Enantiomorphen , in der Chemie ist der Begriff (räumliches oder Stereo-) Isomer gängig. Kant hat in die Philosophie die bis heute gebräuchliche Ausdrucksweise „inkongruente Gegenstücke" eingeführt.

    Der erste Mathematiker, der sich ausführlich mit dem Phänomen der Symmetrie auseinander gesetzt hat, war unserer Kenntnis nach Adrien Marie Legendre (1754–1833). In seinem wohl bekanntesten Werk, den vielfach aufgelegten und übersetzten „Eléments de géométrie" von 1794, versuchte Legendre den Unterschied zwischen kongruenten¹ und symmetrischen Polyedern begrifflich zu fassen.² Im Buch VI seiner „Eléments" lautet die Definition XIV folgendermaßen:

    Ich nenne zwei Polyeder symmetrisch, wenn diese eine gemeinsame Basis besitzen und gleichartig konstruiert sind, wobei das eine oberhalb der die Basis enthaltenden Ebene liegt, das andere darunter. Dabei muss gelten, dass die Scheitel der homologen Raumwinkel gleichweit von der Ebene der Basis entfernt und auf ein und derselben zu dieser Ebene senkrechten Geraden liegen.³,i

    Diese Definition wird durch Abbildung 1.1 illustriert.

    ../images/372011_1_De_1_Chapter/372011_1_De_1_Fig1_HTML.png

    Abbildung 1.1

    Wie symmetrische Polyeder zustande kommen (Legendre 1817, Bildtafel 9, Abbildung Nr. 202)

    In einer Nachbemerkung (Note VII, S. 305) erläutert Legendre noch, dass es nicht notwendig sei, dass die beiden Polyeder eine gemeinsame Basis besäßen. Zudem weist er auf die Analogie zum Spiegelbild hin.

    Legendre beweist einen Satz über symmetrische Polyeder (VI, 2):

    Bei zwei symmetrischen Polyedern sind die homologen Seitenflächen paarweise gleich⁴ und die Neigung⁵ zweier aneinander grenzender Seitenflächen eines dieser Körper ist gleich der Neigung der homologen Flächen des anderen.⁶

    ../images/372011_1_De_1_Chapter/372011_1_De_1_Fig2_HTML.png

    Abbildung 1.2

    Symmetrische Polyeder in allgemeiner Lage (d. h. ohne gemeinsame Grundfläche): Die Schokolade (links) passt nicht in die Packung (rechts), obwohl alle Maße stimmen!

    Hieraus folgt, dass es zu einem Polyeder genau ein symmetrisches gibt. Im Beweis dieses Satzes formuliert Legendre in einem Scholium eine wichtige Einsicht: Betrachtet man eine Ecke des Ausgangspolyeders und die homologe des symmetrischen Polyeders, so sind die Flächen, die in dieser Ecke jeweils zusammen stoßen, in umgekehrter Reihenfolge angeordnet.⁷ Damit war im Prinzip ein Zusammenhang zur Kombinatorik hergestellt, was wiederum für eine begriffliche Fassung von Orientierungsfragen sehr nützlich ist. Die Orientierung war ein Problem, das im 19. Jh. eine wichtige Rolle spielte.

    Im weiteren Verlauf des VI. Buches präzisiert Legendre mit Hilfe seines Begriffs symmetrischer Polyeder Resultate aus dem elften Buch von Euklids „Elementen". Der wesentliche Punkt, den Euklid nicht thematisiert, ist, dass ein Parallelflach (modern gesprochen ein Parallelepiped ) im Allgemeinen durch eine Diagonalfläche (wie BFHD in Abbildung 1.3) nur in symmetrische, nicht aber in kongruente Prismen zerlegt wird.

    ../images/372011_1_De_1_Chapter/372011_1_De_1_Fig3_HTML.png

    Abbildung 1.3

    Zerlegung eines Parallelflachs in zwei symmetrische Prismen (Legendre 1817, Bildtafel 9, Abbildung Nr. 207)

    Natürlich liegt es auf der Hand, die Situation bei Polyedern mit jener bei Polygonen zu vergleichen. Zerlegt man ein Parallelogramm durch eine Diagonale in zwei Dreiecke, so sind auch diese im Allgemeinen nur symmetrisch . Zur Deckung kann man sie dennoch bringen, wozu es aber einer Rotation um 180° im Raum um die Diagonale bedarf. Hieraus könnte man folgern, dass man – hätte man eine vierte Dimension zur Verfügung – auch symmetrische Polyeder zur Deckung bringen könnte. Klar ausgesprochen hat diese Erkenntnis August Ferdinand Möbius (1790–1868) in seinem „Barycentrischen Calcul" (1827):

    Es scheint sonderbar, dass bei körperlichen Figuren Gleichheit und Ähnlichkeit ohne Koinzidenz stattfinden kann, da hingegen bei Figuren in Ebenen oder bei Systemen von Punkten in geraden Linien Gleichheit und Ähnlichkeit mit Koinzidenz immer verbunden ist. Der Grund davon möchte darin zu sehen sein, dass es über den körperlichen Raum von drei Dimensionen hinaus keinen andern, keinen von vier Dimensionen gibt. Gäbe es keinen körperlichen Raum, …, so würde es eben so wenig möglich sein, zwei sich gleiche und ähnliche Dreiecke, bei denen aber die Folge der sich entsprechenden Spitzen nach entgegengesetztem Sinne geht, zur Deckung zu bringen. Nur dadurch kann man diese bewerkstelligen, dass man das eine Dreieck um eine seiner Seiten oder um irgend eine andere Gerade der Ebene, als um eine Achse, eine halbe Umdrehung machen lässt, bis es wieder in die Ebene fällt. Dann geht bei ihm und dem andern Dreiecke die Folge der sich entsprechenden Spitzen nach einerlei Sinn, und es kann mit den anderen durch Fortbewegung in der Ebene selbst, ohne weitere Zuhilfenahme des körperlichen Raums coincidirend gemacht werden.

    Nach einer kurzen Erläuterung des eindimensionalen Falles (Punktsysteme auf einer Geraden) kommt Möbius dann auf den uns interessierenden Sachverhalt zurück:

    Zur Coincidenz zweier sich gleichen und ähnlichen Systemen im Raume von drei Dimensionen A, B, C, D, … und A‘, B‘, C‘, D‘, …, bei denen aber die Punkte D, E, … und D‘, E‘, .. auf ungleichnamigen Seiten der Ebene ABC und $A'B'C'$ liegen, würde also, der Analogie nach zu schließen, erforderlich seyn, dass man das eine System in einem Raume von vier Dimensionen eine halbe Umdrehung machen lassen könnte. Da aber ein solcher Raum nicht gedacht werden kann, so ist auch die Coincidenz in diesem Falle unmöglich.

    Bemerkenswert ist hier die starke Behauptung, dass ein solcher Raum noch nicht einmal gedacht werden könne – umso mehr, als Möbius ja offensichtlich eine klare Vorstellung von ihm hatte. Die Drehung im Vierdimensionalen wäre übrigens eine um eine Ebene – eine nicht ganz einfache Idee.

    Auch Karl Friedrich Gauß (1777–1855), bei dem übrigens Möbius eine Zeitlang studiert hatte, hat sich mit dem Problem von Kongruenz und Symmetrie auseinander gesetzt. Dies geschah allerdings – wie so manches bei Gauß – für die Zeitgenossen unbemerkt, nämlich in seiner Korrespondenz mit seinem Schüler Christian Ludwig Gerling (1788–1864). In ihrem Briefwechsel geht es zum einen um symmetrische, aber nicht-kongruente Dreiecke in der sphärischen Geometrie¹⁰ und den Satz, dass diese gleichen Flächeninhalt haben, zum andern aber auch um symmetrische Polyeder. Auch hier ist die Frage, die nach dem Volumen: Lässt sich beweisen, dass zwei symmetrische Polyeder gleiches Volumen haben, ohne von Grenzprozessen Gebrauch zu machen? In diesem Kontext findet sich eine interessante Bemerkung von Gauß :

    Was noch zu desiderieren wäre, ist der metaphysische Grund, warum es so ist (was bei Ihnen nur als eine wahrgenommene Tatsache auftritt) und damit auch die Erweiterung auf eine Geometrie von mehr als 3 Dimensionen, wofür wir menschliche Wesen keine Anschauung haben, die aber in abstracto betrachtet nicht widersprechend ist, und füglich höhern Wesen zukommen könnte. Um aber aus diesen Höhen wieder auf die Erde herunterzukommen, so ist es schade, dass die Gleichheit der Volumina körperlicher bloß symmetrischer, aber nicht kongruenter Gebilde, sich nur durch die Exhaustionsmethode , und nicht eben so elementarisch demonstrieren lässt, wie meines Wissens zuerst Sie bei der Area des sphärischen Dreiecks gezeigt haben.¹¹

    Der letzte Teil sollte Geschichte machen: David Hilbert (1862–1943) baute ihn nämlich in seinen Pariser Vortrag (1900) über mathematische Probleme als Problem Nummer drei ein; er fragte nach einem Beweis für die Unmöglichkeit des von Gauß Geforderten. Kurz nach seiner Rückkehr nach Göttingen legte ihm dann Max Dehn (1878–1952) das Gewünschte vor.

    Im Bereich der Philosophie hatte Immanuel Kant (1724–1804) dafür gesorgt, dass das Problem der symmetrischen Polyeder – er führte dafür die griffige Formel „inkongruente Gegenstücke ein – eine gewisse Prominenz erlangte. Dieses tritt an mehreren Stellen in seinen Werken auf und steht eigentlich immer im Zusammenhang mit der jeweils von Kant vertretenen Raumtheorie, welche sich ja wesentlich in der vorkritischen und in der kritischen Philosophie Kants unterschied. Es kann hier nicht darum gehen, dies alles erschöpfend zu diskutieren. Wir beschränken uns auf einige Bemerkungen. In der bereits erwähnten frühen Schrift „Von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1749), die Kants zweite Dissertation gewesen ist, erweist sich ihr Autor als recht spekulationsfreudig. Es heißt dort:

    Eine Wissenschaft von allen diesen möglichen Raumformen wäre unfehlbar die höchste Geometrie, die ein endlicher Verstand unternehmen könnte.¹²

    Bezüglich der inkongruenten Gegenstücke sei hier die wohl bekannteste Stelle im Werk Kants zu diesem Thema aus den „Prolegomena" (1783) zitiert. Darin werden wir einige interessante Informationen finden:

    Wenn zwei Ding in allen Stücken, die an jedem für sich nur immer können erkannt werden (…) völlig einerlei sind, so muss doch folgen, dass eins in allen Fällen und Beziehungen an die Stelle des anderen könne gesetzt werden, ohne dass diese Vertauschung den mindesten kenntlichen Unterschied verursachen würde. In der Tat verhält sich das so mit ebenen Figuren in der Geometrie; allein verschiedene sphärische zeigen, ohnerachtet ihrer völligen inneren Übereinstimmung, doch eine solche Verschiedenheit im äußeren Verhältnis, dass sich eine an die Stelle der anderen gar nicht setzen lässt; z. B. zwei sphärische Triangel von beiden Hemisphären, die einen Bogen des Äquators zur gemeinschaftlichen Basis haben, können völlig gleich sein, in Ansehung der Seiten sowohl als Winkel, so dass an keinem, wenn er allein und zugleich vollständig beschrieben wird, nichts angetroffen wird, was nicht zugleich in der Beschreibung des anderen läge, und dennoch kann einer nicht an die Stelle des anderen (nämlich auf der entgegen gesetzten Hemisphäre) gesetzt werden; und hier ist denn doch eine innere Verschiedenheit beider Triangel, die kein Verstand als innerlich angeben kann, und die sich nur durch das äußere Verhältnis im Raume offenbart. Allein ich will gewöhnlichere Fälle anführen, die aus dem gemeinen Leben genommen werden können.

    Was kann wohl meiner Hand oder meinem Ohr ähnlicher und in allen Stücken gleicher sein als ihr Bild im Spiegel? Und dennoch kann ich eine solche Hand, als im Spiegel gesehen wird, nicht an die Stelle ihres Urbildes setzen; denn wenn dieses eine rechte Hand war, so ist jene im Spiegel eine linke, und das Bild des rechten Ohres ist ein linkes. Nun sind hier keine inneren Unterschiede, die irgendein Verstand nur denken könnte; […] Wir können daher auch den Unterschied ähnlicher und gleicher, aber doch inkongruenter Dinge (z. B. widersinnig gewundener Schnecken) durch keinen einzigen Begriff verständlich machen, sondern nur durch das Verhältnis zur rechten und linken Hand, welches unmittelbar auf Anschauung beruht.¹³

    Kant möchte die inkongruenten Gegenstücke nützen, um seine Raumtheorie zu stützen. In der kritischen Philosophie ist der Raum eine Form der reinen Anschauung. Deshalb argumentiert hier Kant dafür, dass der Unterschied zwischen symmetrischen Figuren im Raum kein begrifflicher, sondern ein anschaulicher sei. Auffallend ist, dass Kant neben den Alltagsbeispielen (Hand [es kommt auch noch der Handschuh hinzu], Ohr, Schnecke) gerade das sphärische Dreieck auswählt. Das mag daran liegen, dass dieses Problem schon vor Kant in der Fachliteratur diskutiert wurde, nämlich bei Johann Andreas von Segner (1704–1777). Segner ist heute noch bekannt als Erfinder eines Vorläufers der Pelton-Turbine, er war aber auch ein erfolgreicher Autor mathematischer Lehrbücher – ein typischer Vertreter der Anfanggründe-Literatur, wie sie im 18. Jh. im deutschsprachigen Raum sehr erfolgreich war.¹⁴ Kant zitiert Segner gelegentlich.¹⁵ In Segners „Deutlichen und vollständigen Vorlesungen über die Rechenkunst und Geometrie" (1767) liest man:

    Wir haben hier also zwo in allen Stücken gleiche dreiseitige Ecken, welche doch nicht in einander passen können. Von dieser Art sind alle dreiseitigen Ecken¹⁶, deren Seiten und Winkel zwar gleich sind, aber in verkehrter Ordnung liegen. Es schicken sich nämlich zwei Ecken in einander, oder die eine passt in die andere, wenn sie dergestellt in diese gebracht werden kann, dass aus den zwo Ecken nur eine wird. […] so werden dieselben nicht in einander passen, man mag sie kehren wie man will, und doch sind dergleichen dreiseitige Ecken gleich zu nennen, und werden auch wirklich gleich genannt, weil in der einen nichts ist, so in der andern nicht in eben der Größe vorkäme. Denn die verschiedenen Lage, […], kann in der Größe der dreiseitigen Ecken selbst nichts ändern.¹⁷

    In der zugehörigen Figurentafel (vgl. Abbildung 1.4) sieht man das Phänomen der inkongruenten sphärischen Dreiecke in No. 363. Dabei denkt sich Segner, wie ja schon das Zitat zeigt, meist die Ecken des Dreiecks verbunden mit dem Mittelpunkt der Sphäre. Dies unterstreicht den Charakter der sphärischen Geometrie als einer Mittlerin zwischen ebener Geometrie und räumlicher: Achtet man nur auf das Dreieck, so ist man quasi in der ebenen Geometrie, nimmt man die Verbindungen zum Mittelpunkt der Sphäre hinzu, so gewinnt die Situation räumlichen Charakter. Der wesentliche Unterschied zum ebenen Fall symmetrischer nicht-kongruenter Dreiecke ist, dass man ihre sphärischen Entsprechungen auch nicht unter Verwendung einer Drehung im Raum zur Deckung bringen kann, was letztlich an ihrer Krümmung liegt.

    ../images/372011_1_De_1_Chapter/372011_1_De_1_Fig4_HTML.png

    Abbildung 1.4

    Figurentafel aus Segner 1767

    Bemerkenswert ist schließlich auch, dass Segner das Phänomen mit der umgekehrten Ordnung der Stücke der Dreiecke in Verbindung bringt – und damit Legendre vorwegnimmt.

    In seinem „Lehrbuch der niederen Sphärik" (1835)¹⁸ beschreibt Christoph Gudermann (1798–1852) die Situation symmetrischer sphärischer Dreiecke folgendermaßen:

    Erklärung. Wenn zwei Dreiecke in allen Seiten und Winkeln übereinstimmen, aber die Reihenfolge, in welcher diese Stücke beim einen Dreiecke mit einander verbunden sind, die umgekehrte oder entgegengesetzte von derjenigen ist, in welcher die gleich großen Stücke des anderen Dreiecks mit einander verbunden sind, so heißen die Dreiecke symmetrisch oder auch symmetrisch gleich.

    Zusatz 1. Zwei symmetrische Dreiecke können im Allgemeinen nicht so übereinander gelegt werden , dass sie sich decken.

    Zusatz 2. Zwei Gegendreiecke sind immer symmetrisch, aber nicht umgekehrt.

    Zusatz 3. Um zu einem Dreieck das symmetrische herzuleiten, braucht man nur sein Gegendreieck zu konstruieren.

    Zusatz 4. Sind zwei Dreiecke symmetrisch im Bezug auf ein drittes, so sind sie kongruent.

    Zusatz 5. Sind zwei Dreiecke symmetrisch, so sind auch ihre reziproken Dreiecke¹⁹ symmetrisch.

    Anmerkung. Zwei symmetrische Dreiecke, und auch die ihnen zugehörigen körperlichen Ecken sind in ähnlicher Art von einander verschieden, wie die rechte Hand von der linken, oder wie die Form eines Gegenstandes von der seines Bildes in einem ebenen Spiegel .²⁰

    Die inkongruenten Gegenstücke sollten – neben den Knoten - in späteren Diskussionen um einen empirischen Beweis für die Existenz einer vierten Dimension (siehe Abschnitt 5.​1) eine wichtige Rolle spielen. Sie stellten auch eine Herausforderung an die Geometrie dar, insofern es um ihre begriffliche Erfassung ging, zu der (neben Segner ) Legendre den Grundstein legte.

    Es ist offenkundig, dass die inkongruenten Gegenstücke etwas mit dem zu tun haben, was wir heute Orientierung nennen. Das wird bei Kant deutlich in seiner Rede von der rechten und der linken Hand oder wenn er davon spricht, dass der linke Handschuh nicht auf die rechte Hand passt. Das Thema Orientierung war ein wichtiges mathematisches Forschungsfeld im 19. Jh.; die scheinbar einfache Antwort, die uns heute einfällt,²¹ war keineswegs einfach.

    Dies hat beispielsweise W. Fiedler (1832–1912) deutlich gesehen. In einem offenen Brief zu K. F. Zöllner schreibt er:

    Ich kann in dieser Betrachtung des großen Denkers [Kant; K. V.] nur finden, daß ihm eben noch die Unterscheidung des Sinnes in der Geometrie fremd war, welche durch Möbius ausgebildet worden ist; …²²

    An dieser Stelle sei nur erwähnt, dass einige Phänomene, die in den Naturwissenschaften des 19. Jhs. entdeckt wurden, genau dieses Erfordernis auch aufwarfen, indem sie eine elaborierte Sprache für räumliche Verhältnisse verlangten. Das bekannteste und wohl wirkmächtigste unter diesen Phänomenen war die elektromagnetische Induktion, 1820 entdeckt von Hans Christian Örsted (1777–1852) und im Anschluss genauer untersucht von André Marie Ampère (1775–1836).²³

    Angenommen (vgl. Abbildung 1.5), ein Strom durchfließt die Leiterschleife, in welche Richtung dreht sich dann eine Magnetnadel, die in dieser Leiterschleife steht? In Ermangelung jeglicher mathematischer Begrifflichkeit, die zu dieser Beschreibung geeignet gewesen wäre, erfand Ampère ein einprägsames Bild: den Ampère’schen Schwimmer²⁴ und dazu passend die Schwimmerregel. Durchquert der Schwimmer den Leiter in Stromrichtung und blickt er dabei auf die Magnetnadel, so wird deren Nordpol von ihm aus gesehen nach links abgelenkt.²⁵ Ein ähnliches Problem stellt sich bei der (linearen) Polarisation des Lichts, die schon etwas früher von Louis Malus (1775–1812) 1809 entdeckt worden war.²⁶ In der zweiten Hälfte des 19. Jhs. brach sich allmählich die Idee Bahn, dass die räumliche Anordnung das chemische und physikalische Verhalten von Substanzen beeinflusst – kurz, die Stereochemie entstand. Ein erster überzeugender Beweis hierfür gelang Louis Pasteur (1822–1895) im Jahre 1848, der zeigen konnte, dass ein Razemat (Salz der Traubensäure) aus zwei symmetrischen (chiralen) Kristallsorten (Stereo-Isomeren ) besteht, welche das Licht entgegen gesetzt linear polarisieren.²⁷ Diese Wirkung hebt sich im Razemat auf.

    ../images/372011_1_De_1_Chapter/372011_1_De_1_Fig5_HTML.png

    Abbildung 1.5

    Versuchsanordnung zur elektromagnetischen Induktion (Originalzeichnung von Ampère)

    Auch in der Kristallographie zeigten sich viele Fragen zur räumlichen Strukturierung. Zum einen sind hier Gitterstrukturen zu nennen, wie sie Auguste Bravais (1811–1863) einführte, aber auch die Wirklinien der deutschen Kristallographen wie Moritz Ludwig Frankenheim (1801–1869), Christian Samuel Weiß (1780–1856) und andere warfen räumliche Fragen auf.²⁸

    Innermathematisch bot die Schraubenbewegung²⁹ Anlass, über Orientierungsfragen³⁰ nachzudenken, von der Euler gezeigt hatte, dass sie die allgemeinste Bewegung eines Festkörpers im Raum darstellt. Auch räumliche (kartesische) Koordinatensysteme warfen die Frage nach Links- und Rechtssystemen auf. All dies ließ sich aber in der damals zur Verfügung stehenden mathematischen Sprache behandeln. Ein bekanntes frühes Beispiel, in dem Orientierungsfragen anklingen, findet sich im Briefwechsel von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) mit Samuel Clarke (1675–1759). Diese Korrespondenz, in der Clarke die Positionen Newtons vertrat und den man auf dem Hintergrund der Prioritätsstreitigkeiten sehen muss, behandelte u.a. auch die unterschiedlichen Ansichten der Protagonisten zur Natur des Raumes: Während Leibniz eine relationale Auffassung vertrat – der Raum ist nichts anderes als das Nebeneinander der Dinge in ihm –, argumentierte Newton für den absoluten Raum: Der ist so etwas wie ein großer Container und existiert folglich auch, wenn alle Gegenstände aus ihm verschwunden sind.³¹ In diesem Kontext formulierte Leibniz in seinem dritten Schreiben vom 25.2.1716 folgenden Einwand³²:

    Der Raum ist etwas vollkommen Gleichförmiges, und ohne die Dinge, die sich in ihm befinden, ist jeder Punkt des Raumes in überhaupt nichts verschieden von einem anderen Punkt des Raumes. Daraus folgt, vorausgesetzt der Raum ist etwas an sich selbst und nicht nur die bloße Ordnung der Körper untereinander, dass es unmöglich einen Grund dafür gibt, warum Gott – die Lage der Körper untereinander beibehaltend – die Körper so und nicht anders in den Raum platziert hat und warum er nicht alles (beispielsweise) durch eine Vertauschen von Osten und Westen umgekehrt angeordnet hat.³³

    Leibniz hat also bereits klar gesehen, dass der Raum zwei unterschiedliche Orientierungen haben kann, daraus aber keine weiteren Konsequenzen gezogen.

    Eine wesentliche Neuerung, nämlich die Einführung negativer Richtungen, zeichnete sich in Lazare Nicolas Marguerite Carnots (1753–1823) Buch „Géométrie de position (Titel der deutschen Übersetzung: „Geometrie der Stellung³⁴) von 1803 ab, der – vereinfacht gesprochen - negative Zahlen mit Strecken zu assoziieren versuchte.³⁵ Konsequent durchgeführt findet sich diese Idee dann im bereits genannten „Barycentrischen Calcul" von A. F. Möbius 1827, der Carnots Ansätze auf den Raum erweiterte.

    ../images/372011_1_De_1_Chapter/372011_1_De_1_Fig6_HTML.png

    Abbildung 1.6

    August Ferdinand Möbius (Zeichnung von N. Oswald)

    Schon ganz am Anfang heißt es dort:

    §1. Vorerinnerung. Die Bezeichnung eines Teils einer geraden Linie durch Nebeneinanderstellung der zwei Buchstaben, womit man die Grenzpunkte desselben benannt hat, soll hier nicht allein als Ausdruck für den absoluten Wert des Teils gebraucht werden, sondern zugleich durch die verschiedene Stellung der Buchstaben angeben, ob dieser Wert, nach der einmal festgesetzten positiven Richtung der Linie, als positiv oder negativ zu betrachten ist.³⁶

    Folglich ist AB + BA = 0. Schwieriger wird es natürlich beim Dreieck, allgemeiner bei ebenen Polygonen.

    §17. Der Perimeter eines Dreiecks kann von einem darin sich bewegenden Punkte nach doppeltem Sinne durchlaufen werden. Heiße die eine Bewegung, z. B. die von der Linken nach der Rechten, wenn man sich innerhalb der Fläche des Dreiecks, und das Auge auf sie herabsehend denkt, die positive , die andere von der Rechten nach der Linken, die negative. Ist nun das Dreieck, wie gewöhnlich, durch irgend eine Zusammenstellung der drei an die Spitzen gesetzten Buchstaben ausgedrückt, so bezeichne dieser Ausdruck den positiven oder negativen Werth der Fläche des Dreiecks, je nachdem die Bewegung eines Punktes, durch den man sich den Perimeter des Dreiecks so beschrieben denkt, dass er die Spitzen in der durch den Ausdruck gegebenen Folge trifft, nach der vorhin gemachten Bestimmung positiv oder negativ ist.³⁷

    Folglich ist: ABC + ACB = 0.

    Schließlich behandelt Möbius den räumlichen Fall (vgl. Abbildung 1.7):

    §19. Eine dreiseitige Pyramide wird durch irgendeine Zusammenstellung (BCAD) der vier an ihre Spitzen gesetzten Buchstaben (A, B, C, D) bezeichnet. Um nun auch hier durch die Folge der Buchstaben in der Zusammenstellung ausdrücken zu können, ob der körperliche Inhalt der Pyramide positiv oder negativ genommen werden solle, und durch dieses Mittel zu ebenso allgemeinen Formeln, wie vorhin für das Dreieck zu gelang en, so denke man sich das Auge an die durch den ersten Buchstaben (B) in der Komplexion bezeichnete Spitze gestellt, und nach dem durch die drei übrigen Buchstaben bezeichneten Dreieck (CAD) als Grundfläche hinsehend. Je nachdem nun der Folge dieser Buchstaben, nach der in §17 gegebenen Regel, der positive oder negative Wert der Dreiecksfläche entspricht, stelle auch der Ausdruck der Pyramide den positiven oder negativen Werth ihres körperlichen Inhalt vor. (Denkt man sich die Fläche ACD der Pyramide [Fig. 5] in der Ebene des Papiers und die Spitze B vor [hinter] derselben liegend, und wird wie vorhin die Bewegung von der Linken nach der Rechten für die positive genommen, so drückt BCAD den positiven [negativen] Wert der Pyramide aus.³⁸

    Möbius zählt dann alle Anordnungen der vier Buchstaben auf, welche Pyramiden mit demselben Inhalt liefern. Diese zerfallen in zwei Gruppen, welche wir heute als gerade und ungerade Permutationen von vier Elementen sehen würden. Bemerkenswert ist, wie viele Anthropomorphismen Möbius in seinen Ausführungen verwendet. Ein deutliches Zeichen dafür, dass die mathematische Theorie (und Terminologie) der Orientierung damals noch in den Kinderschuhen steckte. Möbius entwickelt dann auf dieser Basis seinen abstrakten und reichlich formalen baryzentrischen Kalkül. Im Übrigen erkennt er auch deutlich, dass gerade das Zusammenspiel zwischen der Orientierung der Figuren und derjenigen der Geraden, der Ebene oder des Raumes es ist, die das Wesen der Orientierungsfrage ausmacht.³⁹

    ../images/372011_1_De_1_Chapter/372011_1_De_1_Fig7_HTML.png

    Abbildung 1.7

    Figur 5 aus Möbius 1827, Tafel I

    Eine überraschende Wendung erhielt die Geschichte des mathematischen Orientierungsbegriffs durch die Entdeckung der nicht-orientierbaren Flächen durch A. F. Möbius und etwa zeitgleich (1858) durch Johann Benedikt Listing (1808–1882). Während Listing (vgl. Abbildung 1.8) seiner säkularen Entdeckung wenig Aufmerksamkeit schenkte,⁴⁰ kommentierte Möbius diese doch recht ausführlich.

    ../images/372011_1_De_1_Chapter/372011_1_De_1_Fig8_HTML.png

    Abbildung 1.8

    Nicht-orientierbare Flächen bei Listing (Listing 1862, 109 Anm. 1)

    Bei Möbius ergibt sich das heute nach ihm benannte Band, also das Beispiel einer nicht-orientierbaren berandeten Fläche, aus einer systematischen Untersuchung heraus. Verkürzt gesagt geht es darum, Flächen zu triangulieren und zu fragen, ob diese Triangulierung kohärent vorgenommen werden kann. Ist dies der Fall, so sagt Möbius, es gelte das „Kantengesetz" . Dann heißt es (vgl. Abbildung 1.9):

    Die einfachste mit dem Kantengesetz in Widerspruch stehende Reihe ist demnach

    $$\ldots ABCDEABC\ldots$$

    In der Tat folgt hieraus rückwärts die sich periodisch wiederholende Reihe von Dreiecken

    $$(R)\ldots, ABC, BCD, CDE, DEA, EAB, \ldots$$

    Von denen, da man ihre Sinne abwechseln positiv und negativ zu nehmen hat, das erste ABC und das auf EAB nächstfolgende ABC, als das sechste Dreieck - … - entgegengesetzten Sinnes werden.⁴¹

    Möbius kommentiert dann das merkwürdige Ergebnis seiner Überlegungen:

    §. 9. Die Eigentümlichkeit der Struktur eines Polyeders , welches mit dem Kantengesetz in Widerspruch ist, kann dadurch sehr bezeichnend ausgedrückt werden, dass man, auf der Oberfläche eines solchen Polyeders fortgehend, ohne auf diesem Wege irgend einmal die Fläche, auf welcher man geht, zu durchbrechen, auf die entgegen gesetzte Seite der Fläche, von welcher man ausging, gelangen kann.⁴²

    Er führt dann die sprechende Bezeichnung „einseitige Zone (sprich: Fläche) ein im Unterschied zu den gewöhnlichen „zweiseitigen. Im Weiteren gibt Möbius noch „eine sehr anschauliche Vorstellung mittelst eines Papierstreifens"⁴³ seiner einseitigen Fläche (vgl. Abbildung 1.10) und schließt:

    Auch hat diese Fläche nur eine Seite; denn wenn man sie – um dieses noch auf andere Weise vorstellig zu machen – von einer beliebigen Stelle aus mit einer Farbe zu überstreichen anfängt und damit fortfährt, ohne mit dem Pinsel über die Grenzlinie hinaus auf die andere Seite überzugehen, so werden nichtsdestoweniger zuletzt an jeder Stelle die zwei daselbst einander gegenüberliegenden Seiten der Fläche gefärbt sein.⁴⁴

    Einseitige, oder wie man heute meist sagt: nicht-orientierbare⁴⁵ – Flächen stellten eine beträchtliche Herausforderung dar. Das führt in die Geschichte der frühen Topologie , die mit Poincarés Arbeiten aus den Jahren 1892 bis 1905 einen gewissen Abschluss fand.⁴⁶ Insbesondere entwickelte man hierbei neue hauptsächlich topologische Methoden, um den Begriff der Orientierung zu fassen.

    ../images/372011_1_De_1_Chapter/372011_1_De_1_Fig9_HTML.png

    Abbildung 1.9

    Identifikationsschema des Möbius-Bandes: Entstehung aus fünf Dreiecken in einer Periode

    ../images/372011_1_De_1_Chapter/372011_1_De_1_Fig10_HTML.png

    Abbildung 1.10

    Möbius‘ anschauliche Vorstellung (Möbius 1886, 484)

    Es gibt allerdings noch einen Zusammenhang zwischen nicht-orientierbaren Flächen und der vierten Dimension: Versucht man, auch noch den verbleibenden Rand des Möbius-Bandes zu beseitigen, indem man die Kanten AA‘ und BB‘ in Möbius‘ Illustration ebenfalls identifiziert,⁴⁷ so bemerkt man, dass dies im dreidimensionalen Raum nicht möglich ist. Nicht-orientierbare geschlossene Flächen lassen sich erst in den vierdimensionalen Raum einbetten.

    Die Reliefperspektive

    Ein anderer Kontext, in dem man auf die Begrenzungen, welche der dreidimensionale Raum auferlegt, aufmerksam wurde, war die Zentralperspektive oder, mathematisch gesprochen, die Zentralprojektion . Möchte man von einem Zentrum (Augpunkt) aus eine Fläche auf eine andere projizieren, so kann man dies begrifflich einfach fassen als eine Abbildung einer Ebene auf eine andere im Raum. Technisch gesehen ist es vorteilhaft, die beiden Ebenen und den Punkt in eine einzige Ebene zu bringen. Dieser Vorgang, Umklappung genannt, beruht darauf, dass man die Bildebene um die Durchschnittsgerade von Objekt- und Bildebene dreht, bis sie mit der letzteren zusammenfällt. Zugleich muss man das Zentrum der Projektion , den Augpunkt, eine entsprechende Drehung ausführen lassen. Die Drehachse ist dabei die Verschwindungsgerade, die ja definitionsgemäß im einfachsten Fall⁴⁸ senkrecht unter dem Zentrum in der Objektebene liegt. Eben betrachtet ergibt sich eine Zentralkollineation . Johann Heinrich Lambert (1728–1777) hat diesen Vorgang in seiner „Freyen Perspective" (1759) verwendet.⁴⁹ Eine ähnliche Konstruktion spielte in der darstellenden Geometrie Monge‘s eine zentrale Rolle (rabattement ).

    Auch das traditionelle Anliegen der bildenden Kunst, einen Teil des Raumes auf eine Ebene vermöge Zentralprojektion abzubilden, lässt sich im Raum veranschaulichen. Dazu braucht man nur einen Punkt, das Zentrum, eine Ebene und einen Raumteil, z. B. einen Polyeder.

    Schwierig wird es jedoch, will man analog zur Situation Ebene/Ebene einen Raum zentral auf einen Raum projizieren. Dazu müsste man eine vierte Dimension hinzunehmen, mit deren Hilfe man die drei Objekte Punkt, Bild- und Objektraum unterbringen könnte. Solche Situationen ergeben sich nicht etwa nur im Rahmen abstrakter Spekulationen, sie treten schon auf, wenn man eine räumliche Szene als Relief darstellen möchte. Dieses soll ja nicht eine verkleinerte, aber ähnliche Abbildung der Szene liefern,⁵⁰ sondern diese in perspektivischer Sicht wiedergeben. Eines der bekanntesten frühen Beispiele hierfür sind die Reliefs an den Türen des Baptisteriums des Florentiner Domes, geschaffen von Lorenzo Ghiberti (1378–1455). Poncelet hat vielleicht deshalb in seinem Buch von 1822 die Bezeichnung „Relief-Perspektive eingeführt. Einen weiteren Kontext, in dem diese Frage wichtig war, bildete der Entwurf von Bühnenbildern . In der Historiographie der Perspektive wird die Frage kontrovers diskutiert, inwieweit schon die griechische Antike solche Techniken verwendet habe; nicht kontrovers ist hingegen, dass sich Johann Heinrich Lambert mit ihr beschäftigte. Abbildung 1.11 zeigt ein Schaubild aus seiner „Freyen Perspective:

    ../images/372011_1_De_1_Chapter/372011_1_De_1_Fig11_HTML.png

    Abbildung 1.11

    Konstruktion eines Bühnenbildes (Lambert 1943, 364)

    Wilhelm Fiedler (1832–1912) war ein wichtiger Vertreter der darstellenden Geometrie in der zweiten Hälfte des 19. Jhs.⁵¹ In seinem Lehrbuch dieser Disziplin von 1875 heißt es:

    Der Modelle bedient sich der Techniker, […], nur selten für seine Zwecke und er benutzt überdiess gewöhnlich nur die ähnlich verjüngten, die alle am Object vorkommenden Winkel unverändert und alle Längenmessungen nach einerlei Verhältniss verjüngt zeigen. Wiederum aber hat die bildende Kunst von alter Zeit her einerseits in der Plastik oder Bildhauerei andererseits in der Decoration der Schaubühne sich Aufgaben zu stellen gehabt, welche die Benutzung allgemeinerer Principien fordern, die offenbar dem Vorgange des Sehens entnommen werden müssen. Ich will die Lösung dieser Aufgabe zusammenfassend kurz als die Kunst der Reliefbildnerei bezeichnen – denn zur Wissenschaft, zur regelrechten Kenntniss, ist sie erst sehr spät geworden, […]⁵²

    Will man den Ausweg mit

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1