Schwungradspeicher in der Fahrzeugtechnik
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Buchvorschau
Schwungradspeicher in der Fahrzeugtechnik - Armin Buchroithner
Armin Buchroithner
Schwungradspeicher in der Fahrzeugtechnik
../images/470454_1_De_BookFrontmatter_Figa_HTML.pngArmin Buchroithner
Graz University of Technology, Graz, Österreich
ISBN 978-3-658-25570-1e-ISBN 978-3-658-25571-8
https://doi.org/10.1007/978-3-658-25571-8
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Formelzeichen
Danksagung
Die Erstellung dieses Buchs wäre ohne die Mitarbeit der folgenden Personen nicht möglich gewesen:
Gunter Jürgens , der mich bereits vor etlichen Jahren bei der Durchführung meiner Diplomarbeit auf die Wichtigkeit der systematischen Analyse bestehender Systeme hingewiesen hat und mich ermutigt hat, dieses Buch zu verfassen.
Michael Bader , ohne dessen umfangreiche Unterstützung und permanente Einbringung von Know-how die Durchführung der zahlreichen empirischen Untersuchungen, welche Kern dieses Buchs darstellen, nicht möglich gewesen wäre.
Hannes Wegleiter undBernhard Schweighofer deren exzellente und mittlerweile jahrelange freundschaftliche Zusammenarbeit, nicht genug gewürdigt werden kann und in der Gründung der Arbeitsgruppe Energy Aware Systems resultierte.
Peter Haidl der mit grenzenlosem Idealismus wertvollen Inputs bezüglich der Untersuchung von Wälzlagern im Grenzbereich des technisch Machbaren beisteuerte.
Andreas Brandstätter undManes Recheis, die mit Hilfe numerischer und empirischer Methoden die Kreiselkinematik von Schwungrädern besser verständlich machten.
Clemens Voglhuber, der durch engagierte Mitarbeit bei der Untersuchung des Verlustmoments von Wälzlagern für Schwungradspeicher half neue Erkenntnisse zu gewinnen.
Christoph Birgel undRupert Preßmair , die besonderen Einsatz bei der Untersuchung von Rotoren und Sicherheitskonzepten für Schwungradspeicher zeigten.
Thomas Murauer undMartin Simonyi , die wichtige Ergebnisse betreffend das thermische Verhalten von Wälzlagern im Vakuum beigesteuert haben.
Besonderer Dank gilt auch meiner Lebensgefährtin und einer Familie, die mir stets den Freiraum gaben mich Projekten wie diesem Fachbuch zu widmen.
Zusammenfassung
Das Speichern von Energie muss als größte technologische Herausforderung des beginnenden 21. Jahrhunderts angesehen werden und spielt eine zentrale Rolle in der Dekarbonisierung unserer Gesellschaft. Effiziente Energiespeicher sind nicht nur für den Umstieg auf erneuerbare, volatile Energiequellen unerlässlich, sondern sind auch Schlüsselelement sämtlicher mobiler Anwendungen, wobei ihnen im Zusammenhang mit der nachhaltigen Mobilität eine ganz besondere Bedeutung beigemessen werden muss.
Dieses Buch behandelt das Design und die Optimierung von Schwungradenergiespeichern (Englisch:Flywheel Energy Storage Systems , FESS) in Fahrzeugen als Alternative zu konventionellen Lösungen wie chemische Batterien oder Kondensatoren. Eine mögliche Fahrzeugtopologie mit FESS ist in Abb. 1 . exemplarisch dargestellt. Trotz der vermeintlichen Einfachheit des physikalischen Prinzips, nämlich der Speicherung von Energie in kinetischer Form, sind bis dato nur wenige erfolgreiche, serienreife Lösungen am Markt verfügbar.
../images/470454_1_De_BookFrontmatter_Figb_HTML.jpgAbb. 1
Typischer Aufbau eines hybriden Antriebsstrangs mit Schwungradspeicher (FESS). Der Energiespeicher erlaubt Lastpunktverschiebung, Bremsenergierekuperation und „Boosting", z. B. bei Überholmanövern
Im ersten Teil des Buchs, derSupersystem-Analyse , werden Schwungradspeicher durch einen holistischen Ansatz im globalen Kontext bewertet. Äußere Einflüsse wie Fahrzeug, Fahrer, Betriebsstrategie und Umgebung, bis hin zu sozio-psychologische Aspekte werden im Hinblick auf ihre Wechselwirkung mit dem eigentlichen Speicher analysiert. Daraus werden nicht nur optimale Einsatzszenarien für FESS abgeleitet, sondern auch die für einen Markterfolg relevanten Entwicklungsziele definiert. Die Supersystem-Analyse stützt sich dabei auch auf eine detaillierte Untersuchung von über 50 historischen Schwungrad-Fahrzeugkonzepten, die im Zuge einer umfangreichen Literaturrecherche zur Evaluierung des Stands der Technik ermittelt wurden.
Auf Basis der im Zuge derSupersystem-Analyse eruierten technisch-energetischen spezifischen Zieleigenschaften von Schwungradspeichern folgt im zweiten Teil eine detaillierte Betrachtung des Subsystems von FESS. Es werden jene kritischen Komponenten innerhalb des FESS identifiziert, welche für das Erreichen dieser Wunschspezifikationen verantwortlich sind. Unter dem Gesichtspunkt maximaler Kostenreduktion werden konkrete technische Lösungen für Schlüsselkomponenten diskutiert und deren Eignung durch empirische Untersuchungen validiert. Der Fokus liegt dabei klar auf der Optimierung von Gehäuse, Lagerung und Rotor, wobei zu jedem der drei Baugruppen praxisrelevante Fallbeispiele anhand von Prototypen gegeben werden.
Abschließend wird ein alternatives, stationäres FESS-Konzept präsentiert, welches die spezifischen Probleme mobiler Schwungradspeicher größtenteils umgeht, aber dennoch einen Beitrag zur nachhaltigen Mobilität zu leisten vermag.
Abkürzungen
ASM
Asynchronmaschine
ATTB
Advanced Technology Transit Bus
CFK
Carbon Fiber Komposite
CMO
Clean Motion Offensive
CVT
Continuously Variable Transmission
E3oN
Effizienter elektrischer Energiespeicher für den öffentlichen Nahverkehr
EMT
Institut für Elektrische Messtechnik und Messsignalverarbeitung
EV
Electric Vehicle
FESS
Flywheel Energy Storage System
FFG
(Österreichische) Forschungsförderungsgesellschaft
FTP
Federal Test Procedure
GRM
Geschaltete Reluktanzmaschine
IME
Institut für Maschinenelemente und Entwicklungsmethodik
KERS
Kinetic Energy Recovery System
LESS
Lebensdauererhöhung von Schwungrad-Speichersystemen
NASA
National Aeronautics and Space Administration
NEDC
New European Driving Cycle
Nfz
Nutzfahrzeug
Pkw
Personenkraftwagen
PMS
Permanenterregte Synchronmaschine
PTO
Power Take-Off (Zapfwelle)
PV
Photovoltaik
Ref.
Referenz (Literaturquelle)
SynRM
Synchrone Reluktanzmaschine
TUG
Technische Universität Graz
USV
Unterbrechungsfreie Stromversorgung
VIMS
Vollintegrierter Mehr-Scheiben Aufbau
VKM
Verbrennungskraftmaschine
WLTP
Worldwide Harmonized Test Procedure
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung 1
1.1 Zum Aufbau des Buchs 3
1.2 Motivation für eine holistische Betrachtung des Systems Speicher-Fahrzeug-Umgebung 5
1.3 Ausgangssituation – Europa in der Energiewende 12
1.4 Die Rolle des Transportsektors 13
1.5 Die Zukunft der Mobilität 15
Literatur 18
2 Komplexität, Bedeutung und Gesamtsystemabhängigkeit der Fahrzeugbetriebsstrategie 21
2.1 Systembetrachtung – Fahrzeug, Fahrer und Umwelt 21
2.2Subsystem des Schwungradspeichers 22
2.2.1 Grundlagen kinetischer Energiespeicher 23
2.2.2 Unterscheidung nach Übertragung der gespeicherten Energie 24
2.2.3 Systemkomponenten eines FESS 32
2.3 Stand der Technik im Bereich der Schwungradspeicher 35
2.3.1 Bestehende Systeme – Stationäre Anlagen 35
2.3.2 Mobile Schwungradspeicher für Fahrzeuge 37
Literatur 45
3Supersystem eines mobilen Schwungradspeichers 49
3.1 Fahrzeug und Fahrzeugtopologie 49
3.2 Eigenschaften des Primärantriebs 51
3.3 Eigenschaften mobiler Energiespeicher 52
3.4 Geografie, Infrastruktur und Verwendungszweck des Fahrzeugs 54
3.4.1 Geografie und Infrastruktur 54
3.4.2 Verwendungszweck des Fahrzeuges 59
3.5 Fahrer und Energiepsychologie 61
Literatur 63
4 Interaktion zwischenSub- undSupersystem eines mobilen Schwungradspeichers 65
4.1 Beispiele der direkten Beeinflussung vonSuper- undSubsystem des FESS 66
4.2 Optimierung imSupersystem 68
4.2.1 Einfluss des Fahrzyklus auf das FESS 68
4.2.2 Energiebedarf des Fahrzeugs 70
4.2.3 Rentabilität eines FESS im Fahrzeug 74
Literatur 78
5 Optimierung des Speichereinsatzes imSupersystem 79
5.1 Emotion versus Ratio – Personenkraftwagen versus Nutzfahrzeug 79
5.2 Aspekte desSupersystems von öffentlichem Nahverkehr und Nutzfahrzeugen 80
5.2.1 Energetische Betrachtung von Nutzfahrzeugen 81
5.2.2 Betriebsbedingungen für Hybridantriebe und Anforderungen an den Energiespeicher 85
5.3 Individualverkehr und Pkw 88
5.3.1 Aspekte desSupersytems Pkw 88
5.3.2 Fahrer und Psychologie 92
5.3.3 Zieleigenschaften mobiler Schwungradspeicher 95
5.4 Energetische Threshold-Spezifikationen 96
5.4.1 Bestimmung von energetischenThreshold Kriterien für FESS 96
5.5 Relevante Erkenntnisse der Systembetrachtung 101
5.5.1 Zusammenfassung – Optimierung desSupersystems eines FESS 102
5.5.2 Allgemeingültige, erstrebenswerte FESS Verbesserungen 102
Literatur 103
6 Optimierung imSubsystem 107
6.1 Abweichung zwischenWunsch- undIst-Eigenschaften 107
6.1.1 Analyse von Kosten und Gewicht der Systemkomponenten zweier Prototypen 108
6.2Systeminterne Interdependenzen – Wechselwirkungen zwischen kritischen Komponenten 112
6.2.1 Kategorisierung der Zusammenhänge 114
6.2.2 Kritische Interdependenzen imSubsystem des FESS 115
6.2.3 Identifikation kritischer Komponenten 117
6.3 Ergebnis: Kritische Komponenten im FESS 118
Literatur 120
7 Rotoren für mobile Schwungradspeicher 121
7.1 Wesentliche physikalische Zusammenhänge des FESS-Rotordesigns 121
7.2 Analyse bestehender Systeme/Stand der Technik 125
7.2.1 Schwungräder aus Faserverbundkunststoffen 125
7.2.2 Schwungräder aus Stahl 137
7.3 Anforderungen abgeleitet ausSupersystem-Analyse 140
7.4 Lösungsansatz/Fallbeispiel: BeispielCMO-Rotor 141
7.4.1 SystembeschreibungClean Motion Offensive Flywheel 141
7.4.2 Das CMO-Rotorkonzept 143
7.5 Lösungsansatz/Fallbeispiel:VIMS-Flywheel 148
7.5.1Aufbau desVIMS- Rotors 151
7.5.2 Bersttest desVIMS-Rotors 156
7.5.3 Zusammenfassung der Ergebnisse – Vollintegrierter Mehrscheibenrotor (VIMS ) 165
Literatur 168
8 Gehäuse 173
8.1 Anforderungen abgeleitet ausSupersystem-Analyse 173
8.2 Sicherheitstechnische Anforderungen an mobile Energiespeicher 176
8.3 Analyse bestehender Systeme/Stand der Technik 180
8.3.1 Beispiel: Lamellengehäuse für Faserverbundrotoren stationärer FESS 180
8.4 Relevante Erkenntnisse aus vorhergehenden Forschungsprojekten 181
8.4.1 Partikelkinematik 182
8.5 Konstruktive Ausführungen von Gehäusen 186
8.6 Analytische Berechnungsmethoden zur Auslegung des Berstschutzes 188
8.6.1 Berechnung nach Lockheed Missiles Company 188
8.6.2 Berechnung nachGiancarlo Genta 190
8.6.3 Berechnung nachNASA 191
8.7 Anwendung der Berechnungsvorschriften und Gegenüberstellung der Ergebnisse 192
8.7.1 Zusammenfassung und Plädoyer für empirische Gehäuseuntersuchungen 194
8.8 Qualitative Analyse und Übersicht bisheriger Berstversuche 195
8.9 Empirische Untersuchungen von Schutzgehäusen 197
8.9.1 Kommerziell verfügbare Schleuderstände und Services 199
8.9.2 Aufbau des Berstprüfstands 201
8.9.3 Methode und Versuchsablauf 203
8.9.4 Energiebilanz 207
8.9.5 Zusammenfassung bisheriger Ergebnisse 210
Literatur 213
9 Lagerung 217
9.1 Analyse bestehender Systeme und Stand der Technik 217
9.2 Anforderungen abgeleitet aus derSupersystem-Analyse 218
9.2.1 Ermittlung der Lagerlasten 220
9.3 Gyroskopische Reaktionskräfte in Schwungradspeichern 221
9.3.1 DasSupersystem der Lagerung – Analyse der Umgebungsparameter 221
9.3.2 Einfluss FESS-spezifischer Betriebsbedingungen auf die Lagerung 222
9.4 Komplexität und Bedeutung der FESS-Lagerauslegung 225
9.5 Bestimmung gyroskopischer Lagerlasten 226
9.5.1 Schritt 1: Analytische Abschätzung 226
9.5.2 Schritt 2: Numerische Simulation 229
9.5.3 Schritt 3: Empirische Verifikation 236
9.5.4 Conclusio bezüglich gyroskopischer FESS-Lagerlasten 239
9.6 Unwuchtkräfte in Schwungradspeichern 241
9.6.1 Wuchten und Wuchtmöglichkeiten am FallbeispielVIMS- Rotor 243
9.7 Nachgiebige Lagersitze für Wälzlager in FESS 257
9.7.1 FallbeispielCMO- Lagerung 257
9.7.2 Untersuchung alternativer Lagersitzkonzepte – PraxisbeispielLESS 260
9.8 Thermische Eigenschaften der Lagerung 266
9.8.1 Prüfstand zur Ermittlung der Wärmeleitfähigkeit von Wälzlagern 267
Literatur 270
10 Stationäre FESS für die moderne Mobilität 273
10.1 Verringerung des Verlustmoments von FESS-Lagern 274
10.1.1 Lagerkonzepte für stationäre Schwungradspeicher 274
10.2 Lasten und Reibungsverluste in Wälzlagern für FESS-Anwendungen 275
10.2.1 Lagerlasten von stationären Schwungradspeichern 276
10.2.2 Analytische Bestimmung des Verlustmoments 276
10.3 Lagerlastreduktion bei Schwungradspeichern mit Wälzlagern 278
10.3.1 Reduktion der Axiallasten 278
10.4 Reduktion der Radiallasten 285
10.4.1 Lagersitz aus Gusssilikon 285
10.5FlyGrid – Schwungradspeicher für EV-Schnelladestationen und Netzintegration 291
10.5.1 Entwicklungen in der Elektromobilität 292
10.5.2 Ziele desFlyGrid Projektes 292
10.5.3 Kernelement Schwungradspeicher 293
Literatur 295
11 Zusammenfassung und Ausblick 297
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019
A. BuchroithnerSchwungradspeicher in der Fahrzeugtechnikhttps://doi.org/10.1007/978-3-658-25571-8_1
1. Einleitung
Armin Buchroithner¹
(1)
Graz University of Technology, Graz, Österreich
Im Jahr 1973 bekamen die westlichen Industriestaaten die uneingeschränkte Abhängigkeit von nahöstlichen Ölimporten erstmals schmerzhalt zu spüren. Die amerikanische Beteiligung am vierten arabisch-israelischen Krieg führte zu einem Ölboykott, welcher die gesamte Welt überraschte und in weiterer Folge eine Vielzahl von Initiativen zur Untersuchung und Förderung alternativer und erneuerbarer Energiequellen auslöste. Im November 1974 wurde die Internationale Energieagentur (IEA) unter U.S. Präsident Jimmy Carter gegründet, welche ein Startbudget von 25 Mrd. U.S. Dollar erhielt [1]. Doch nur kurze Zeit darauf, im Jahr 1979, als Ayatollah Khomeini zur iranischen Revolution aufrief und damit das zweite Ölembargo auslöste, schien die westliche Welt ähnlich überrascht und schlecht vorbereitet wie nur fünf Jahre zuvor.
Mehr als 35 Jahre sind seither vergangen, und trotz aller Klimakonferenzen und Absichtserklärungen der Industrienationen (wie z. B. dem Kyoto-Protokoll) hat sich das globale Verkehrsbild bzw. unser Energiekonsum kaum verändert. Ganz im Gegenteil: Die immer mächtiger werdenden Schwellenländer wie Indien, und vor allem China streben mit gewaltigem Energiehunger dem Zugang zu den größten verbleibenden Erdöl- und Erdgasreserven des Planeten entgegen. Aber ganz gleich, ob der „peak oil" bereits erreicht wurde, oder sich die Analysten geirrt haben und die Vorkommen doch noch etliche Jahrzehnte reichen: Das Verbrennen von fossilen Energieträgern und der damit verbundene CO2-Ausstoß haben schon jetzt zu einer spürbaren Klimaveränderung geführt, welche verheerende Folgen für den gesamten Planten haben [2].
Aber kann die technische Wissenschaft diese Probleme durch Steigerung der Energieeffizienz lösen? In wie weit könnten effiziente Energiespeicher wie das in diesem Buch im Detail diskutierte Schwungrad zu einer Verbesserung der Situation beitragen?
„Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott., lautet ein Zitat, welches dem deutschen Quantenphysiker Werner Heisenberg nachgesagt wird. Etwas weniger dramatisch, aber meist ähnlich irreführend gestaltet sich für viele Techniker der erste Kontakt mit dem Schwungradspeicher. Die charmante Einfachheit des zugrunde liegenden physikalischen Prinzips und die lange Liste an theoretischen Vorteilen gegenüber chemischen Energiespeichern verleiteten in den 60er- und 70er-Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts etliche Wissenschaftler dazu, das Schwungrad als „Allheilmittel
gegen steigende Energiepreise und das Fehlen mobiler Speicher beinahe prophetenhaft anzukündigen. Zahlreiche populärwissenschaftliche Zeitschriften propagierten in dieser „goldenen Ära" der Schwungradspeicher, welche ihren Höhepunkt während der beiden schon erwähnten Ölkrisen 1973 und 1979 erlebte, teils fragwürdige Anwendungen dieser Speichertechnologie. Alles sollte mit Schwungrädern angetrieben werden: Von der Handbohrmaschine zum Motorboot [3]. Nichts desto trotz wurden bereits zu dieser Zeit beachtliche Energieeinsparungspotenziale von 25 % und mehr durch Antriebskonzepte mit Schwungradspeicher aufgezeigt. Ein erfolgreiches Beispiel ist der in Abb. 1.1 VW T2 Hybrid, welcher von Institut für Kraftfahrwesen und Kolbenmaschinen der RWTH Aachen aufgebaut wurde.
Abb. 1.1
Ein früher Schwungradhybrid: Der VW T2 der RWTH Aachen, 1977. (Bildrechte: Institut für Kraftfahrwesen und Kolbenmaschinen, RWTH Aachen)
Aber welche wissenschaftlichen Ziele und technische Eigenschaften müssen de facto erreicht werden, um dieser Technologie zu einem endgültigen Durchbruch und tatsächlichem Markterfolg zu verhelfen? Welche Anwendung ist die vielversprechendste und lohnendste? Findet der Schwungradspeicher sein Zuhause im Rennsport, wo schon im Jahr 2008 namhafte Rennställe in den Königsklassen Formel 1 und Les Mans etliche Erfolge einfahren konnten, wie auch in und Abb. 1.2 und 1.3 dargestellt? Wird er zum luxuriösen Add-On für hochmotorisierten Oberklasse SUVs, das dem zahlungskräftigen Käufer scheinheilig den grünen Mantel der Bremsenergierekuperation umhängt? Oder bleibt der vielzitierte „Gyrobus" der Maschinenfabrik Oerlikon (MFO) aus dem Jahr 1955 (siehe Abb. 1.4), der als modernisierte Neuauflage der Firma PUNCH Flybrid auf Straßen neuerdings für Aufregung sorgt, der Prototyp einer idealen Anwendung?
../images/470454_1_De_1_Chapter/470454_1_De_1_Fig2_HTML.jpgAbb. 1.2
Les Mans Rennfahrzeug mit Schwungradspeicher von PUNCH Flybrid im Jahr 2011. Das zugehörige Flywheel-Modul ist in Abb. 1.3 dargestellt. (Bildrechte: PUNCH Flybrid)
../images/470454_1_De_1_Chapter/470454_1_De_1_Fig3_HTML.jpgAbb. 1.3
Mechanisches Schwungradmodul für ein Les Mans Rennfahrzeug der Firma PUNCH Flybrid, welches als Kinetic Energy Recovery System (KERS) eingesetzt wurde. (Bildrechte: PUNCH Flybrid)
../images/470454_1_De_1_Chapter/470454_1_De_1_Fig4_HTML.jpgAbb. 1.4
Der Legendäre MFO Gyrobus. Aufladen des Schwungrades mit Pantographen (links) und Chassis des Busses beim Zusammenbau (rechts). (Bildrechte: Historisches Archiv ABB Schweiz, N.3.1.53232 und N.3.1.54566)
Um all diese Fragen zu beantworten reicht eine isoliert-technische Betrachtung des Schwungrads an sich nicht aus, weshalb dieses Buch einen holistischen Ansatz verfolgt, der weit über die Optimierung einiger weniger Komponenten des eigentlichen Energiespeichers hinausgeht.
1.1 Zum Aufbau des Buchs
Für den Leser öffnet sich – wie in Abb. 1.5 dargestellt – der Blickwinkel ausgehend vom Schwungradspeicher per se, und eine Analyse des Supersystems, welche versucht die komplexen Zusammenhänge zwischen Energiespeicher, Fahrzeug und Umgebung zu untersuchen, führt zur Ermittlung erstrebenswerter Spezifikationen und Zieleigenschaften des Speichers. Danach wird der Leser von der obersten hierarchischen Ebene hinabgeführt in das Subsystem, zu Betrachtungen mit hohem Detailgrad, wo kritische Komponenten und deren systeminterne Interdependenzen eruiert werden. Den wissenschaftlichen Kern des Buchs stellt die empirische Untersuchung und detaillierte Schilderung praktischer Lösungsansätze im Bereich des Rotordesigns, des Lagerkonzeptes und der Schutzgehäuse dar.
../images/470454_1_De_1_Chapter/470454_1_De_1_Fig5_HTML.pngAbb. 1.5
Aufbau und Verlauf des Buchs aus Sicht des Lesers
Um eine gewisse Praxisnähe zu gewährleisten sind in diesem Buch häufig Anwendungseispiele angeführt. Besonders wichtige Kernaussagen werden hervorgehoben und erlauben es, die wesentlichen Aspekte des jeweiligen Kapitels auch beim Diagonallesen zu erfassen. Zur besseren Übersicht kommen in Tabellen oft Piktogramme zum Einsatz.
Sämtliche Grafiken, welche über keine explizite Quellenangabe verfügen wurden vom Autor selbst erstellt.
1.2 Motivation für eine holistische Betrachtung des Systems Speicher-Fahrzeug-Umgebung
Wie bereits in der Einleitung betont wurde, zieht unser Mobilitätsverhalten, welches sich (wie Abschn. 2.1 noch genauer beschreiben wird) vorwiegend auf den Straßenverkehr stützt, tief greifende wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Auswirkungen nach sich. Ebenso ist das Thema des transportbezogenen Energieverbrauchs kein isoliert technisches, da die Effizienz der Mobilität von vielen Faktoren – seien sie persönlicher Natur, oder Umwelteinflüsse – abhängt. Diese Systemabhängigkeit der Effizienz gilt gleichermaßen für ein ganzheitliches Mobilitätskonzept, welches sich aus unterschiedlichen Transportmitteln zusammensetzen kann, wie für den Pkw an sich. Selbst eine hochoptimierte Verbrennungskraftmaschine vermag die Defizite einer schlechten Fahrweise des Endkunden nicht immer zu kompensieren. Das Energieeinsparungspotenzial durch Fahrertraining mag in einigen Fällen sogar um ein Vielfaches höher, als jenes, welches durch motorentechnische Maßnahmen erreichbar ist. Es bedarf keinerlei technischen Hintergrundwissens, um zu verstehen, dass die Verdoppelung der Anzahl der Fahrzeuginsassen auch eine Verdoppelung des Wirkungsgrades der Personenbeförderung mit sich bringt – eine Effizienzsteigerung, die keine aktuell verfügbare technische Maßnahme zu vollbringen vermag.
Doch die alleinige Verfügbarkeit effizientester Technologien reicht nicht aus. Die seit mehr als 100 Jahren verfügbare Wärmepumpe zur Beheizung des Gebäudesektors konnte trotz ihrer nachweislich hohen Effizienz ohne entsprechendes Marketing keine wirtschaftlichen Erfolge feiern [6].
Die Idee, ein Schwungrad als Energiespeicher für ein Fahrzeug zu verwenden wurde erstmals 1791 dokumentiert. Es handelt sich um ein Dreirad, entwickelt von dem russischen Mechaniker Ivan Petrovich Kulibin (1735–1818), welches durch Muskelkraft angetrieben wurde, beim Bergabfahren und Verzögern Energie in ein Schwungrad aus Stahl speiste und diese beim Beschleunigen wieder abgab (vergleiche Abb. 1.6). Der maximale Energieinhalt des Schwungrades erlaubte es, eine ebene Strecke von etwa 400 m autark zurückzulegen [8]. Das Prinzip war also schon mindestens seit dieser Zeit bekannt, ihm wurde aber lange Zeit keine Beachtung geschenkt. Seit damals wurde die Effektivität des Systems durch etliche Prototypen und Kleinserien demonstriert. Aus einfachen, geschmiedeten Stahlschwungrädern wurden hochleistungsfähige Energierückgewinnungssysteme für dein Einsatz im Rennsport. Abb. 1.7 zeigt einen Kohlefaserrotor der Firma Ricardo plc während des dynamischen Wuchtens.
../images/470454_1_De_1_Chapter/470454_1_De_1_Fig6_HTML.jpgAbb. 1.6
Russischer Anstecker mit Darstellung des „Kulibin-Dreirads", dem ersten Schwungradfahrzeug von 1791
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