Experten-Forum Powertrain: Simulation und Test 2019: Vom Prüfstand bis Big Data - ganzheitliche Validierung-in-the-Loop
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Über dieses E-Book
Ein Schlüssel zu treffsicherer und effizienter Produktentwicklung liegt in der nahtlosen Verknüpfung von Simulation und Test in allen Phasen. Mit diesem umfassenden Ansatz wird die Elektrifizierung der Antriebe zum Treiber von Innovationen. Dies wird beim Experten-Forum Powertrain mit der ATZlive-Veranstaltung Simulation und Test 2019 diskutiert. Die Tagung ist eine unverzichtbare Plattform für den Wissens- und Gedankenaustausch von Forschern und Entwicklern aller Unternehmen und Institutionen.
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Buchvorschau
Experten-Forum Powertrain - Johannes Liebl
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
J. Liebl (Hrsg.)Experten-Forum Powertrain: Simulation und Test 2019Proceedingshttps://doi.org/10.1007/978-3-658-28707-8_1
Die digitale Antriebsentwicklung der Zukunft: ganzheitlich, systematisch und kundenzentriert
Bruno Kistner¹ , Sabine Sanzenbacher¹, Jérôme Munier¹ und Peter Fietkau¹
(1)
Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG, Porschestraße 911, 71287 Weissach, Deutschland
Bruno Kistner
Email: bruno.kistner@porsche.de
1 Einführung
Die Digitalisierung ist das dominante Thema unserer Zeit. Welche Auswirkungen die aktuellen Entwicklungen im Detail für verschiedene Bereiche, wie beispielsweise der Antriebsentwicklung und der klassischen Berechnung bedeutet, ist jetzt noch nicht umfassend absehbar. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob die digitale Antriebsentwicklung – so wie sie jetzt ist – in dieser dynamischen Welt weiter Bestand hat. Wie können die immer größeren Anforderungen an die Entwicklungsgeschwindigkeit, Qualität und Komplexität gemeistert werden? Die Vermutung liegt nahe, dass es nicht mehr ausreicht, nur die Simulationstools linear weiter zu optimieren und die Ergebnisse dem Entwicklungsprojekt zur Verfügung zu stellen. Das ist langfristig zu kurz gedacht.
Wenn die digitale Antriebsentwicklung die Digitalisierung ernst nimmt, dann muss sie ganzheitlich betrachtet werden. Dies schließt nicht nur die technischen Weiterentwicklungen, sondern auch die Rolle des Berechnungsingenieurs ein. Er kann durch disruptive Ideen ersetzt werden, wenn er seine Kunden künftig nicht konsequent in den Mittelpunkt stellt. Die digitale Antriebsentwicklung bei Porsche hat sich deshalb zum Ziel gesetzt, den Kunden – sprich den Entwicklungsingenieur in seinen drei Ausprägungen „Konstruktion, Versuch, Applikation" in den Fokus zu rücken und den Antriebsstrang der Zukunft multidisziplinär zu entwickeln. Erst wenn den Kunden, die idealen Lösungen für ihre Frage- und Problemstellungen angeboten werden, kann sich die digitale Antriebsentwicklung zukunftsfähig transformieren.
Damit die Transformation erfolgreich ist, betrachtet die Porsche AG drei Dimensionen ganzheitlich:
1.
Individuelle Rollentransformation
Die Rolle des Berechnungsingenieurs muss sich ändern, hin zum vollwertigen Entwicklungspartner. Dazu ist eine Überprüfung des Skillsets und auch des Mindsets notwendig. Trainings und Enablement-Maßnahmen unterstützen die individuelle Weiterentwicklung.
2.
Neue Formen der Zusammenarbeit
Agile Arbeitsweisen lösen starre und unflexible Methoden ab. Das Prinzip „Fast Fail" sorgt für Schnelligkeit und Flexibilität. Die Zusammenarbeit zwischen Berechnung und Entwicklung darf kein Silo mehr sein. Eine maximale Orientierungshilfe für den Berechnungsingenieur bietet das Porsche-eigene Vorgehensmodell der digitalen Antriebssystem (dAS)-Systematik.
3.
Passgenaue Lösungen mit digitalen state-of-the-art Methoden
Den Kunden werden Tools und Systeme bereitgestellt, die auf Ihre Wünsche zugeschnitten sind, beispielsweise optimale Berechnungsverfahren für den Konstruktionsingenieur, Data Analytics und Data Mining für den Versuchsingenieur und die sogenannte X-in-the-Loop (XiL)-Umgebung von der Konzeptphase bis zum Start of Production (SOP) für den Applikationsingenieur.
Durch die Transformation auf allen drei Ebenen wird die Zufriedenheit des Kunden sichergestellt. Er kann nun folgendes gewährleisten:
Termingerechte Bereitstellung der Bauteile mit dem richtigen Reifegrad
Optimaler Lösungsraum, um zielgerichtet mit wenigen Versuchen zum Ziel zu kommen
Durchgängige Applikation ohne auf Hardware angewiesen zu sein
In diesem Beitrag wird im Folgenden vorrangig erläutert, wie die digitale Antriebsentwicklung passgenaue Lösungen für die Entwicklungsingenieure bereitstellt. Die Kernelemente lassen sich in drei Handlungsfeldern zusammenfassen:
1.
Systematische Simulation der Details mit Fokus auf dem Gesamtsystem
2.
Einsatz von datengetriebenen Modellen im Big Data-Umfeld
3.
Bereitstellung einer Simulationsumgebung für die XiL-Ansätze
Nicht außer Acht gelassen werden darf jedoch die Tatsache, dass eine reine Betrachtung der technischen Tools nicht ausreicht, um langfristig erfolgreich zu sein. Jeder Berechnungsingenieur muss sich die Frage stellen, ob er sich und seine Arbeitsweise flexibel genug ausgerichtet hat, um den Antriebsstrang der Zukunft mit zu entwickeln.
2 Systematische Simulation der Details mit Fokus auf das Gesamtsystem
Die Simulation im Bereich der Antriebsentwicklung hat sich mit der zunehmenden Rechenleistung sehr stark weiterentwickelt und ist in der Lage, schnell hochwertige und detaillierte Antworten auf eine große Anzahl an vielfältigen Fragestellungen zu liefern. Neben der kontinuierlichen Erhöhung der Modellauflösung, spielten drei weitere wesentliche Entwicklungsrichtungen der physikalischen Modellbildung eine entscheidende Rolle:
Die Erweiterung des Betrachtungsumfangs von isolierten Bauteilen zu Komponenten oder Systemen ermöglichte es, Wechselwirkungen besser zu berücksichtigen und gleichzeitig die Systemgrenzen an jene Stellen zu legen, wo gut definierte und beherrschbare Randbedingungen vorzufinden sind.
Die vernetzte Einbindung von unterschiedlichen Lösern, eröffnete die Möglichkeit, physikalische Zusammenhänge transdisziplinarisch zu betrachten (multiphysikalische Modellierung). Am Beispiel der Simulation einer Elektromaschine bedeutet dies, dass Elektromagnetik, Thermik und Mechanik gekoppelt simuliert werden.
Durch einen hohen Automatisierungsgrad, konnten die Durchlaufzeiten stark reduziert, die Anzahl an Einzelberechnungen erhöht (beispielhaft für Kennfeldberechnungen) und eine effizientere Auslastung der verfügbaren Rechenressourcen gewährleistet werden.
Dank dieser neuen Möglichkeiten erfuhren die physikalischen Modelle in den letzten Jahren einen kontinuierlichen und spürbaren Aufschwung, welcher in einer deutlichen Aufwertung der Ergebnisgüte der Detailbetrachtungen mündete.
Dieser sehr positive Trend lässt sich auch in Zukunft zweifelsfrei sehr gut fortschreiben. Die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Aussagen werden weiter zunehmen, die Vorhersagegüte wird steigen und die Anzahl an betrachteten Fällen oder Zuständen wird weiter wachsen. Gerade dieser Prozess der kontinuierlichen Verbesserung der Simulationsmethodik ist ein wichtiger Erfolgsfaktor, um in Zukunft Entwicklungszyklen zu beschleunigen und Kosten, dank des reduzierten und zielgerichteten Einsatzes von Hardwareversuchen, zu minimieren.
Letztendlich wächst die vom Berechnungsingenieur getragene Projektverantwortung, da die Bedeutung der Simulation innerhalb des Entwicklungsprozesses zunimmt. Welcher einst als reiner Ergebnislieferant agierte und wahrgenommen wurde, entwickelt sich unaufhaltsam zum mitverantwortlichen Entwicklungspartner.
Um dem Berechnungsingenieur System und Orientierung zu bieten und gleichzeitig sicherzustellen, dass die Detailtiefe beibehalten und das Antriebssystem gesamtheitlich entwickelt sowie abgesichert wird, wurde bei Porsche eine Struktur eingeführt: die dAS-Systematik. Über die prozessuale Beschreibung der Berechnungsaktivitäten hinaus, umschreibt sie die Form des Berichtswesens und strukturiert die Daten- und Dokumentenverwaltung. Die dAS-Systematik bedeutet Durchgängigkeit für das Projekt und Orientierung für den Ingenieur.
Der Dreh- und Angelpunkt dieser Idee ist denkbar einfach: strukturiert und konsequent vom Detail zum Gesamtsystem. So werden im ersten Schritt im Projekt wiederkehrende Einzelberechnungen mit hohem Detaillierungsgrad zu Systembetrachtungen zusammengefasst: die digitalen Antriebssysteme. Diese Aggregation erfolgt unabhängig von Disziplin oder organisatorischer Verortung der Aufgaben. Jede Detailberechnung, die einen Beitrag zur Systembetrachtung liefern kann, wird Teil des dAS. In einem Steckbrief ist festgehalten, welche Disziplin beteiligt ist, welche Tools verwendet werden und welche Teilaussagen bereitgestellt werden sollen. Am Beispiel des dAS „Abgasanlage", dessen Steckbrief beispielhaft in Abb. 1 dargestellt ist, wird ersichtlich, welche Vernetzung eine konsequente Systembetrachtung erforderlich macht.
../images/493176_1_De_1_Chapter/493176_1_De_1_Fig1_HTML.pngAbb. 1.
Beispielhafter Steckbrief – Übersicht der digitalen Antriebssysteme
Der Ladungswechsel liefert, neben Aussagen zum Gegendruckverhalten und zur Darstellbarkeit der Zielleistung, die notwendigen Randbedingungen für die 3D-Strömungssimulation der Gesamtabgasanlage in relevanten Betriebszuständen. Diese wiederum sichert eine verlustarme Durchströmung der Anlage ab, sowie eine gute Anströmung von Bricks und Sensoren. Zusätzlich generiert sie thermische Randbedingungen für den Hitzeschutz und für die thermomechanische Analyse der Bauteile. Als letzte Instanz des Absicherungsumfangs, beurteilt die FE-Analyse Verschraubungen, Dicht- und Halterungskonzepte und trifft Aussagen zur Haltbarkeit. Jeder Berichtsgröße liegen eindeutige Bewertungskriterien zugrunde, gepaart mit einer klar definierten Ampelsystematik. Insgesamt werden derzeit 13 digitale Antriebssysteme verfolgt, welche die Bauteile und Funktionen des gesamten Antriebsstranges umfassen. Dank der Modularität des Konzepts kann diese Zahl flexibel erweitert werden, beispielsweise um den Einsatz neuer Technologien von Beginn an zu begleiten oder um von der Einführung neuer Berechnungsmethoden umgehend profitieren zu können.
Die nächste Stufe der Aggregation wird mit der Integration mehrerer digitaler Antriebssysteme zu einem digitalen Prototyp (DPT) für den Antrieb durchschritten. Aus den dAS Abgasanlage, Betriebsfestigkeit Motor, Betriebsfestigkeit Getriebe und Aggregatedynamik, wird der DPT Betriebsfestigkeit Antriebsstrang. Dieser liefert Aussagen zur Zielerreichung des Antriebsstranges im Kontext des Gesamtfahrzeuges und wird im Rahmen eines zentral gesteuerten, der Fahrzeugentwicklung untergeordneten Prozesses, verfolgt. Der DPT-Prozess ist ein Kernaspekt der virtuellen Fahrzeugentwicklung. Dank dieser mehrstufigen Aggregation wird sichergestellt, dass wichtige Kernaussagen aus sehr genauen Detailbetrachtungen in die Bewertung komplexer Systeme, bis hin zum Gesamtfahrzeug, durchgängig Eingang finden.
Die zeitliche Eingliederung der dAS-Systematik innerhalb des Entwicklungsablaufes, wird für jedes dAS generisch verankert und wird unter Berücksichtigung der spezifischen Projektbedürfnisse angepasst. Aus Abb. 2 kann ein Eindruck einer solchen Planung gewonnen werden. Bei jedem System wird neben den Projekt- und DPT-Meilensteinen auch die jeweiligen Konstruktions- Beschaffungs- und Versuchs-Phasen berücksichtigt. Es kann damit zum Beispiel sichergestellt werden, dass geometrielastige dAS (Betriebsfestigkeit Motor, Getriebe etc.), jede Konstruktionsphase mit mindestens zwei Rekursionsschleifen begleiten. Das Ergebnis ist eine spürbare Steigerung des Hardwarereifegrads in jedem Bestellumfang. Analog ist es zweckmäßig, funktionsgetriebene dAS-Umfänge zeitlich an Versuchskampagnen anzulehnen.
../images/493176_1_De_1_Chapter/493176_1_De_1_Fig2_HTML.pngAbb. 2.
Auszug aus der generischen dAS-Planung
Das Berichtswesen regelt die Verantwortlichkeiten innerhalb dieser neuen Umgebung und sichert den lückenlosen und adäquaten Informationsfluss von der Arbeitsebene bis in die höchsten Projektgremien. Um der Prozessstruktur gerecht zu werden, wurden neue Rollen und Gremien definiert. Als Erstes wurde für jedes Projekt eine Zuständigkeitsmatrix etabliert. Projektspezifisch wird jedem dAS ein Verantwortlicher zugeordnet, welcher die Einzelberechnungen für seinen Betrachtungsumfang koordiniert. Dieser dAS-Verantwortliche trägt alle Detailergebnisse zu seinem System zusammen und formuliert eine Beurteilung des betrachteten Systems. Übergeordnet wird der Output der beteiligten dAS vom projektverantwortlichen Berechnungsingenieur, dem digitalen Antriebsverantwortlichen (DAV), zentralisiert. Neben seiner Vertreterrolle im Serienentwicklungsteam, in dem er den Projektstatus aus Sicht der digitalen Entwicklung wiederspiegelt, verantwortet er zudem die Planung und Koordination der dAS-Aktivitäten. Insbesondere stellt er sicher, dass relevante Projektgegebenheiten in die Arbeitsebene und an die dAS-Verantwortlichen herangetragen werden.
An der Spitze der Pyramide der Abb. 3, steht der digitale Prototyp mit dem entsprechenden Berichtsgremium. Dort werden die Aussagen zum Gesamtantriebstrang eines Fahrzeugprojektes berichtet. Diese Rolle übernimmt der DPT-Teamvertreter aus der Berechnung, welcher gleichzeitig der DAV sein kann.
../images/493176_1_De_1_Chapter/493176_1_De_1_Fig3_HTML.pngAbb. 3.
Berichtswesen in der gesamten dAS-Umgebung
Ein Schlüsselaspekt des Erfolgs der dAS-Systematik besteht in der Durchgängigkeit von Informationen, welche dank klarer Rollenverteilung und geeigneter Gremienstruktur gegeben ist. Gerade diese Durchgängigkeit ist nur in Verbindung mit einer geeigneten Dateninfrastruktur möglich. An dieser Stelle findet bei der Porsche AG ein System zum Simulationsdatenmanagement (SDM) Anwendung. Hier findet der dAS-Verantwortliche die von ihm benötigten Eingangsdaten in Form von Geometrie- oder Technologiedaten, nach dAS-Umfang sortiert und nach Projektphase strukturiert vor. Gleichermaßen legt er seine Ergebnisse im SDM in der bestehenden dAS-Struktur ab und verlinkt diese anschließend mit den von ihm herangezogenen Eingangsdaten. Somit wird nicht nur die Revisionssicherheit sichergestellt, sondern auch gegenüber dem Projektverantwortlichen DAV eine absolute Nachvollziehbarkeit gewährleistet.
2.1 Einsatz von datengetriebenen Modellen im Big Data-Umfeld
Durch die zunehmende Komplexität der Antriebsstränge, stetig steigende Variantenvielfalt und kürzer werdende Entwicklungszeiten wird es für den Entwicklungsingenieur immer schwieriger, alle Zusammenhänge zu erfassen und mit physikalischen Modellen zu beschreiben. Datenbasierte Methoden können im Entwicklungsprozess unterstützen, um zielgerichtet alle Anforderungen an ein modernes Antriebssystem zu erfüllen und dem Kunden ein leistungsfähiges und komfortables Fahrzeug an die Hand geben zu können. Der während des Entwicklungsprozesses erzeugte Datenumfang übersteigt oft die Möglichkeiten einer herkömmlichen Analyse. Komplexe Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Einflussparametern können mangels passender Modelle nicht abgebildet werden. Moderne Analysemethoden des maschinellen Lernens ermöglichen es, zielgerichtet während der Entwicklung anfallende Informationen, zum Beispiel in Form von Mess- oder Simulationsdaten, zu nutzen, um Problemursachen zu identifizieren und effizient Lösungen abzuleiten. Die Treiber dieser neuen Methoden sind zum einen die Verfügbarkeit von großen Datenmengen und die Möglichkeit diese mittels hocheffizienten Grafikkarten Prozessoren oder Cloud Computing zu verarbeiten. Zudem sind in den letzten Jahren eine Vielzahl von Algorithmen entstanden, die auf diese Rahmenbedingungen spezialisiert sind und Daten, Muster und Zusammenhänge zwischen Eingangs- und Ausgangsgrößen erkennen können. Dadurch lassen sich neue Felder erschließen und gezielt Produktverbesserungen erarbeiten.
Neben der Durchführung der Simulation ist es bei der Porsche AG auch Aufgabe der digitalen Antriebsentwicklung dem Entwicklungsingenieur Tools an die Hand zu geben, mit denen er diese neuen Methoden sicher und einfach einsetzen kann, ohne die hierfür erforderliche Theorie im Detail kennen zu müssen.
Dem Entwicklungsingenieur können bei der Analyse großer Datenmengen, zum Beispiel in Form von Messdaten, rechnergestützte Methoden auf Basis von Data Analytics, Data Mining oder Künstlicher Intelligenz (KI) zur Verfügung gestellt werden.
Mit diesen Methoden ist es möglich bisher unbekannte Zusammenhänge oder Interaktionen zwischen einzelnen Messgrößen zu beschreiben. Ein Anwendungsbeispiel aus der Entwicklung ist die Ursachenanalyse eines Geräuschphänomens einer nassen Anfahrkupplung. Mit herkömmlichen Analysemethoden, wie zum Beispiel der Sichtung der Messdaten im Zeitbereich konnten keine eindeutigen Zusammenhänge abgeleitet werden. Die Vielzahl an Einflussparametern sowie komplexe mechanische Zusammenhänge, gepaart mit Software- und Regelungseinflüssen sind auch durch sehr erfahrene Entwicklungsingenieure nicht mehr zu überblicken. Die zur Ursachenanalyse eingesetzten Methoden des Data Analytics zeigt Abb. 4.
../images/493176_1_De_1_Chapter/493176_1_De_1_Fig4_HTML.pngAbb. 4.
Beispielhafte Prozesskette zum Data Mining
Als Zielsignal für die notwendige Analyse dient das mithilfe eines Mikrofons aufgezeichnete Geräuschsignal während einer Kupplungsaktuierung. Während der Messung werden über 3000 weitere Messsignale ermittelt, welche die messbaren Rahmenbedingungen während der Aktuierung der Kupplung enthalten. Anhand der Analyse sollen Zusammenhänge zwischen den gemessenen Signalen und dem Geräuschpegel ermittelt werden. Zunächst wird durch eine Frequenzanalyse ermittelt, ob es sich bei der durchgeführten Aktuierung um eine auffällige oder unauffällige Schaltung handelt. Im ersten Analyseschritt werden durch Korrelations-, Regressionsanalysen und Entscheidungsbäume diejenigen Faktoren ermittelt die den größten Einfluss auf das Zielsignal, den Geräuschpegel, haben. In einem weiteren Schritt werden die Wechselwirkungen mittels einer Korrelations-Heatmap dargestellt. Der Entwicklungsingenieur hat nun die Möglichkeit diese zu sichten und zu bewerten. Abschließend können auffällige Signale im Zeitbereich visualisiert werden, um so die Ursachenanalyse zu unterstützen und eine effiziente Lösungsfindung zu ermöglichen.
Neben dem Einsatz bei der Analyse von Zusammenhängen und Wechselwirkungen, bieten datenbasierte Methoden auch die Möglichkeit neue Felder zu erschließen und somit gezielt die Komplexität zu reduzieren oder Produktverbesserungen einzubringen. Die Nutzung von Vorwissen aus vergleichbaren, bekannten Anwendungen kann durch die Anwendung von KI-Methoden nutzbar gemacht und auf neue Probleme angewandt werden. Diese Methoden verwenden künstliche neuronale Netze, die der Funktionsweise eines menschlichen Gehirns nachempfunden sind. Die Beschreibung von künstlichen Neuronalen Netzen erfolgte bereits 1943 und geht auf McCulloch und Pitts [1] zurück. Allerdings besteht aufgrund der benötigten Rechenleistung erst seit einigen Jahren die Möglichkeit diese Methode auf größere Datenmengen anzuwenden. In Abb. 5 ist die grundsätzliche Funktionsweise dargestellt. Künstliche neuronale Netze bestehen aus verschiedenen Schichten. Einer Eingabeschicht die im vorliegenden Fall die Messdaten in Vektorform aufnimmt, einer oder mehrerer Zwischenschichten und einer Ausgabeschicht welche die Zielgrößen ausgibt. Die Übergabe der Informationen erfolgt mittels gerichteter Graphen. Als Deep Learning wird eine besondere Form dieser neuronalen Netze bezeichnet. In solchen Netzen werden besonders viele versteckte Schichten verwendet und trainiert. Ein solcher Aufbau ermöglicht es, die für künstliche neuronale Netze charakteristischen Fähigkeiten wie Lern-, Verallgemeinerungs-, Assoziations- und Abstraktionsfähigkeit darzustellen. Mittels großer Datenmengen können diese Netze auf spezifische Problemstellungen hintrainiert werden. In der späteren Nutzung können die Netze dann in der Datenanalyse – bei bekannten Eingangsgrößen – passende Ausgangsgrößen liefern, oder Zusammenhänge erkennen. Mit Deep Learning Netzen konnten in den letzten Jahren spektakuläre Durchbrüche im Bereich des maschinellen Lernens erreicht werden, wie zum Beispiel der Sieg eines solchen Netzes beim Spiel „Go" gegenüber dem amtierenden Weltmeister.
../images/493176_1_De_1_Chapter/493176_1_De_1_Fig5_HTML.pngAbb. 5.
Aufbau eines neuronales Netzes
Abb. 6 zeigt das Vorgehen bei der Nutzung der neuronalen Netze sowie zwei Beispiele, wie KI-Methoden verwendet werden, um die Funktion einzelner Sensoren im Fahrzeug nachzubilden oder den Fahrerwunsch zu prognostizieren, um proaktiv das Verhalten des Antriebsstrangs zu beeinflussen. Im Falle des ersten Anwendungsbeispiels kann mithilfe eines künstlichen neuronalen Netzes der Entfall von Sensorik zur Erfassung des Gelenkwellenmoments erreicht werden. Zunächst wird das Netz dazu mit Datensätzen trainiert, welche die gemessenen Gelenkwellenmomente enthalten. Nach Abschluss des Trainings kann das Netz dazu verwendet werden, für Datensätze aus Fahrzeugen ohne Drehmomentsensorik, die Gelenkwellenmomente zu berechnen. Somit kann beispielsweise in allen Fahrzeugen die Belastung der Gelenkwellen beurteilt werden. Die erzielte Genauigkeit des Modells ist auch für dynamische Fahrmanöver sehr gut. Teure Messtechnik, die oft hochdynamischen Manövern nicht standhält kann somit eingespart werden, ohne dabei Wissen über das Verhalten des Antriebsstrangs zu verlieren.
../images/493176_1_De_1_Chapter/493176_1_De_1_Fig6_HTML.pngAbb. 6.
Anwendungsbeispiele für die Nutzung datenbasierter Modelle in der Entwicklung
Im zweiten Anwendungsbeispiel wird mithilfe eines künstlichen neuronalen Netzes die gewünschte Fahrpedalposition eines Fahrers zum Zeitpunkt
$$ t_{k + 1} = t_{k} + \Delta T $$prädiziert. Kann die Fahrpedalposition richtig ermittelt werden, so ist es möglich den Antriebstrang in optimaleren Betriebspunkten zu betreiben. Einerseits können Emissionen reduziert werden, indem proaktiv bewertet wird ob der Start einer Diagnose unter den zu erwartenden Betriebsbedingungen sinnvoll ist. Andererseits kann das Ansprechverhalten des Motors durch eine proaktive Regelung verbessert werden.
Trainiert wird das Netz ebenfalls mit Messdaten aus verschiedenen Fahrzeugen, die durch unterschiedliche Fahrer betrieben wurden. Die Prädiktionsgüte ist während der Beschleunigungsphasen bereits als gut zu bezeichnen. Eine weitere Optimierung der Prädiktionsgenauigkeit ist das Ziel der aktuell laufenden Entwicklungsarbeit. Ebenso wie die Migration des momentan nur außerhalb des Fahrzeugs anwendbaren Modells, auf ein online im Steuergerät lauffähiges Modell. Im Fahrzeug soll dann sowohl das Feintraining des Algorithmus als auch die Prädiktion des Fahrpedalwerts möglich sein.
2.2 Bereitstellung einer Simulationsumgebung für die XiL-Ansätze
Neben der Durchführung der Simulation ist es bei der Porsche AG auch