Disruption durch digitale Plattform-Ökosysteme: Eine kompakte Einführung
Von Michael Jaekel
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Buchvorschau
Disruption durch digitale Plattform-Ökosysteme - Michael Jaekel
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
M. JaekelDisruption durch digitale Plattform-Ökosystemehttps://doi.org/10.1007/978-3-658-28569-2_1
1. Prolog: Die zwei Gesichter der Disruption von Clayton Christensen
Michael Jaekel¹
(1)
Stuttgart, Deutschland
„Wir haben uns komplett verlaufen, kommen aber gut voran."
(Alice im Wunderland)
Der Autor Christof Keese, Vorstand beim Verlagshaus Axel Springer, bringt die Schimäre des im Silicon Valley vorherrschenden Begriffs Disruption in seinem Buch „Silicon Valley: Was aus dem mächtigsten Tal auf uns zukommt salopp auf den Punkt: „Disruption heißt Unterbrechung. Es ist die Chiffre für ein Lebensgefühl. Eine Art Gehirnwäsche, Motto für die richtige Methode, Märkte zu attackieren und Marktführer zu verdrängen, Glaubensbekenntnis für eine vom Erfolg beflügelte Erfinderkultur, die weiß, dass sie alles erreichen kann, wenn sie nur radikal genug denkt
[KEE]. Diese annähernde Beschreibung des Phänomens der „Disruption zeigt die eigentliche Bedeutung schemenhaft auf. Damit befindet sich Christof Keese aber in bester Gesellschaft [KEE, MAT, HEI, …]. Zumindest schwingt bei dieser Begriffsdeutung andeutungsweise mit, dass Disruption für die kreative Zerstörung bestehender Geschäftsmodelle steht oder für eine „Innovation, die eine bestehende Technologie, ein bestehendes Produkt oder eine bestehende Dienstleistung möglicherweise vollständig verdrängt
[WIKI01]. Wieder andere sprechen von der disruptiven Innovation, Sprunginnovation genannt, und meinen damit Unterbrechung oder Abbruch [GRU]. Von der Start-up-Szene im Silicon Valley wird die Disruption verstanden als schöpferische Zertrümmerung traditioneller Geschäftsmodelle und linearer Wertschöpfungsketten mittels digitaler Plattformen [JAE02]. Mit diesen variierenden Perspektiven wird der Begriff Disruption aber mittlerweile inflationär für fast alle durch digitale Technologien ausgelöste Veränderungen in der Wirtschaftswelt verwendet. Wohlwollend betrachtet stützen sich die Propheten der Disruption dann meist unreflektiert auf die einseitige Interpretation des Begriffs Disruption durch Clayton Christensen in seinem Buch „The Innovator’s Dilemma" [CHR01]. Darin schreibt er genauer von disruptiven Innovationen. Damit wird die Bedeutungsvielfalt des Phänomens der Disruption bei Weitem nicht kohärent beschrieben.
Angesichts der unklaren Definition des Begriffs Disruption läge es nahe, den Begriff als typisches Modewort abzutun. Damit würden Unternehmer einen Aspekt der Wirtschaft außer Acht lassen, der über die eigene Überlebensfähigkeit mitentscheidet. Der damalige Intel-Manager Andy Grove beschreibt in seinem Buch „Nur die Paranoiden überleben das Phänomen der „strategischen Wendepunkte
, das für Unternehmen von existenzieller Bedeutung sein kann. Die strategischen Wendepunkte zwingen Unternehmen zu einem Wandel oder initiieren einen selbstgewählten Wandel im Unternehmen [GRO, JAE]. Die strategischen Wendepunkte gehen im Kontext der Digitalisierung mit disruptiven Dynamiken einher. Übersetzt ins digitale Zeitalter spricht man von einem „disruptiven Ereignis („disruptive Event
) als Pendant zum strategischen Wendepunkt. Ein disruptives Ereignis zu erkennen und zu deuten, ist ein schwieriges Geschäft. Und es zwingt zu weit mehr, als das analoge Geschäftsmodell etablierter Unternehmen nach Schema F in die digitale Welt zu transformieren. Um das zu verstehen, lohnt es sich, den Begriff der Disruption in seiner Bedeutungsvielfalt aufzufächern. Nur so nützt dieser Begriff in der Praxis, sonst sind es nur Nebelschwaden.
Den Urknall der Disruption im wirtschaftlichen Kontext bildet das Werk „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung des österreichisch-amerikanischen Ökonomen Joseph Alois Schumpeter. In diesem Werk thematisiert Schumpeter die Idee der kreativen Zerstörung. Er drückt es sogar noch drastischer aus, wenn er schreibt: „Wirtschaftlicher Fortschritt in einer kapitalistischen Gesellschaft bedeutet Chaos
[SCHU]. Dabei bilden Innovationen, die von Unternehmen vorangetrieben werden, um sich auf dem Markt durchzusetzen, den Auslöser für die schöpferische Zerstörung [WIKI04, JAE]. Denn so Schumpeter: „Dieser Prozess der schöpferischen Zerstörung ist das für den Kapitalismus wesentliche Faktum" [GANS]. Von Schumpeter und seinem Konzept der kreativen Zerstörung führt der Weg weiter zu Richard Foster mit seinem erweiterten S-Kurven-Modell als Instrument des strategischen Innovationsmanagements. Das von dem ehemaligen Mitarbeiter der weltweit tätigen Unternehmensberatung McKinsey weiterentwickelte S-Kurven-Modell basiert auf dem Technologielebenszyklus-Modell nach Arthur D. Little. Danach entwickeln sich Technologien entlang eines idealtypischen Lebenszyklus: von der Entstehungsphase über die Wachstumsphase zu der Reifephase sowie der Phase der Alterung bzw. der Abschöpfung. Die S-Form des Technologiekonzeptes ergibt sich aus dem Zusammenhang der Leistungsfähigkeit (Performance) einer Technologie und dem dazugehörigen Aufwand (effort = Forschungs- und Entwicklungsaufwand). Durch die Steigung der Kurve wird der Gewinn an Leistungsfähigkeit durch einen zusätzlichen Aufwand an Forschungs- und Entwicklungsarbeit abgebildet – letztendlich die Produktivität von Entwicklung und Forschung [GANS, WIKI10]. Entscheidend ist die dem Modell zugrunde liegende Annahme, wonach technologische Möglichkeiten hinsichtlich des Entwicklungspotenzials immer an immanente technische Leistungsgrenzen stoßen. Damit dient das S-Kurven-Modell zur Erkennung von potenziellen Techniksprüngen. Aus Abb. 1.1 wird deutlich, dass der Aufwand bei neuen technologischen Möglichkeiten in der Anfangsphase hoch ist, bis der Prozess an einem gewissen Punkt umkehrt und ein geringer Aufwand zu enormen Leistungssteigerungen führt. Das Verdienst von Foster bestand darin, das bekannte S-Kurven-Konzept mit dem Konzept der „technologischen Diskontinuität („technological discontinuity
) zu verbinden.
Abb. 1.1
Sprunginnovation oder das Phänomen technologischer Diskontinuität im S-Kurven-Modell (in enger Anlehnung an [FAR, GANS])
Neu aufkommende technologische Möglichkeiten bringen anfänglich eine geringere Performance als bestehende technologische Möglichkeiten. Das erklärt, warum etablierte Unternehmen an bestehenden technologischen Lösungen festhalten und nicht auf die neue technologische Möglichkeit setzen. Die neuen Spieler im Markt wiederum, unbelastet von einer Unternehmenshistorie, nutzen konsequent die neuen technologischen Möglichkeiten. Die „digitalen Start-ups in der expandierenden Digitalsphäre reizen die neuen technologischen Möglichkeiten bis zu dem Punkt aus, an dem sich die S-Kurve nach oben beugt und „außer Kontrolle
gerät. Hinter diesem Punkt stellen die etablierten Unternehmen keine veritablen Wettbewerber mehr dar [GANS]. Abb. 1.1 zeigt, dass die neuen technologischen Möglichkeiten auf eine neue Ebene „gesprungen" sind. Daher der im Deutschen oft zitierte Begriff der „Sprunginnovation".
Von Richard Foster führt der Weg zu Clayton Christensen, der Aspekte von Technologien identifizierte (später von anderen Innovationen), die er als disruptiv bezeichnete. Disruptiv sind diese Technologien nach Christensen, weil sie mit einer herausragenden Leistungsstärke und schnellen Leistungsverbesserungen einhergehen, die andere Technologien nicht aufweisen. In seinem Buch „The Innovator’s Dilemma hat Clayton Christensen dann den Begriff „Disruptive Innovation
geprägt. Prinzipiell müssen Unternehmen auf disruptive Innovationen reagieren, aber nach Christensen besteht das Dilemma für etablierte Unternehmen in der Trägheit des eigenen Erfolges. Gefangen in der vorherrschenden Branchenlogik entsprechen die Entscheidungen des Managements genau den Marktanforderungen, aber damit werden die Unternehmensentscheider zu „Geiseln ihrer Kunden" [KEE, MAT, CHR01]. Tauchen disruptive Innovationen auf, die eine vorherrschende Branchenlogik von etablierten Anbietern konterkarieren, entsteht ein Dilemma. Aus diesem Dilemma kommen die etablierten Anbieter kaum heraus. Es entwickelt sich ein zweiseitiges Dilemma. Das Management etablierter Unternehmen kann sich einerseits auf deren bestehende Kunden fokussieren und genau das liefern, was diese verlangen. Sie machen im herkömmlichen Sinn alles richtig. Aber disruptive Angreifer werden diese Unternehmen mit technologischen Innovationen mittel- bis langfristig aus dem Markt hinauskatapultieren. Das liegt an der herausragenden Leistungsstärke und schnellen Leistungsverbesserungen von „disruptiven Innovationen, auch „Sprunginnovationen
genannt. Die etablierten Unternehmen bemerken das erst im Zeitablauf, aber dann ist es schon zu spät.
Andererseits könnten Unternehmenslenker erkennen, dass sich für das Unternehmen durch disruptive Angreifer ein existenzielles Bedrohungsszenario entwickelt. Folglich ändern sie das bestehende Geschäftsmodell und setzen auf radikal neue, unterentwickelte Märkte. Damit werden sie die Anforderungen der bestehenden Kunden zunehmend vernachlässigen. Es ist der Ritt auf dem Unbekannten, verbunden mit hohen Risiken und der zunehmenden Aushöhlung der bestehenden Grundlage des Unternehmens [KEE, CHR01]. Am Anfang ist nicht klar, ob sich die neu entstehenden Märkte so entwickeln, dass sie die Überlebensfähigkeit des Unternehmens ermöglichen.
Nach Clayton Christensen ist dieses zweiseitige Dilemma nicht auflösbar. Ein Ausweg ergäbe sich theoretisch, wenn die Unternehmen beide Ansätze gleichzeitig verfolgen. Dies gelingt nach Christensen nur in den seltensten Fällen. Die meisten Unternehmen sind in ihrer dominanten Branchenlogik gefangen. Sie können sich mit ihren etablierten Unternehmensprozessen und dem etablierten Geschäftsmodell nicht erfolgreich diesem Dilemma stellen. In diesem Kontext spricht Christensen vom „Innovator’s Dilemma", weil meist die innovativen Unternehmen von diesem Dilemma betroffen sind. Die innovativen Unternehmen richten sich, wie es die Branchenlogik vorgibt, konsequent an den bestehenden Kundenbedürfnissen mittels evolutionärer Innovationen aus. Disruptiven Angreifern mit disruptiven Innovationen haben sie kaum etwas entgegenzusetzen [CHR01]. Vor allem Start-up-Unternehmen können die schöpferische Zerstörung etablierter Geschäftsmodelle bewirken, da sie viel zu gewinnen haben und kaum etwas zu verlieren [RAM]. Die Start-up-Unternehmen greifen auf kostengünstige technologische Cloud-Computing-Technologien (siehe Abschn. 2.1) zurück, womit sie ein Experiment nach dem anderen durchführen können, bis dann endlich der große Wurf dabei ist. Die Start-up-Unternehmen erproben ihre Ideen und Produkte zunächst auf Nischenmärkten, um Erfahrungen zu sammeln. Erst wenn das Experiment in einer Nische funktioniert, expandieren die Start-up-Unternehmen und attackieren etablierte Unternehmen. Die etablierten Unternehmen können kaum auf die flexiblen und innovativen Spieler im Markt reagieren. Dieses Szenario beschreibt Christensen in seinem Buch „The Innovator’s Dilemma wie folgt: „Disruptive Innovation beschreibt einen Prozess, bei dem ein Produkt oder eine Dienstleistung ihren Anfang in einer zunächst simplen Anwendung am unteren Ende des Marktes nimmt und dann unaufhörlich nach oben aufsteigt, wo es früher oder später dann den etablierten Wettbewerber ersetzt
[CHR01]. Nicht nur die etablierten Unternehmensprozesse, ausgerichtet an der vorherrschenden Branchenlogik, führen zum Untergang. Es ist meist die Unternehmenshistorie, die einem notwendigen Kulturwandel im Unternehmen trotzt. Dieser Aspekt zeigt sich in der Praxis als beharrlich und erfordert ein umfassendes Change-Management. Das Gefangensein in der Branchenlogik führt dazu, dass etablierte Unternehmen das disruptive Ereignis in der Praxis ignorieren. Der Ausgangspunkt ist oft in Nischenmärkten zu finden, der für etablierte Unternehmen: a) uninteressant und schwer prognostizierbar ist, b) dem Geschäftsmodell zuwiderläuft und c) mit großen Unsicherheiten behaftet ist. Zudem verlieren d) disruptive Innovationen im internen Unternehmenswettstreit um Ressourcen gegen etablierte Lösungen, mit denen Umsatz gemacht wird. So kommt es dann zu systemimmanenten Verzögerungen in etablierten Unternehmen, bis es zu spät ist [MAT]. Obgleich Kodak das disruptive Element erkannt und reagiert hat, waren die Trägheitskräfte der Unternehmenshistorie zu groß, um den Untergang zu vermeiden. In dem Buch „The Innovator’s Solution" differenziert Clayton Christensen zusammen mit Michael Raynor zwei Quellen disruptiver Innovationen: „low-end disruption" und „new-market disruption. Bei der „Low-End
-Disruption entreißt der neue Spieler in einer Marktnische Kundenanteile des etablierten Anbieters. Anders bei der „New-Market-Disruption: Der Disruptor gewinnt hier mit seiner technologischen Innovation Neukunden, die zuvor niemals das Produkt des etablierten Anbieters genutzt haben [CHR, JAE02]. Nach Joshua Gans erzeugen beide Quellen disruptiver Innovationen nur die „nachfrageseitige Disruption
[GANS]. Es fehlt das Gegenstück in Form der „angebotsseitigen Disruption, das sich aus architektonischen Veränderungen von Geschäftsmodellen ergibt. Dazu aber gleich mehr. Die Theorie „disruptiver Innovationen
von Clayton Christensen bildete das wissenschaftliche Fundament des Begriffs Disruption in der akademischen Welt. Damit wurden die bisherigen Erkenntnisse zur Disruption von Schumpeter über Foster erweitert und auf ein neues Niveau gehoben, ohne das Phänomen letztlich kohärent zu beschreiben. Im populärwissenschaftlichen Kreis erlebte die Theorie disruptiver Innovationen einen weltweiten Siegeszug. Auf diesem Verständnisniveau bewegt sich heute der Großteil aller Publikationen zum Thema „Disruption". Sie