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Intelligenzminderung: Eine ärztliche Herausforderung
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eBook362 Seiten3 Stunden

Intelligenzminderung: Eine ärztliche Herausforderung

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Über dieses E-Book

„Geistige Behinderung und Minderbegabung“ – das ist in aller erster Linie ein Sammelbegriff für eine Vielzahl von Erscheinungsformen intellektueller Beeinträchtigung. Die verschiedenen Ausprägungsarten und die damit einhergehende Prognose spielen eine entscheidende Rolle – daher ist es von großer Bedeutung, dass Ärzte und Therapeuten sowohl diagnostisch als auch therapeutisch verantwortungsvoll handeln. Viele Kinder entwickeln auf der Basis ihrer Minderbegabung zusätzlich Verhaltensauffälligkeiten oder andere Begleitstörungen, wie zum Beispiel Aufmerksamkeitsdefizitstörungen, Tics oder Zwangsstörungen. Früh beginnende und geeignete Fördermaßnahmen sind notwendig, damit die Kinder die Fähigkeiten und Fertigkeiten erlernen können, die ihnen eine möglichst gute Teilhabe am sozialen Leben ermöglicht.

Die Reihe "Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen" verfolgt drei wesentliche Ziele: Interdisziplinärer Ansatz: Der Patient steht im Mittelpunkt - der Therapeut muss sein Bestes geben, die Störung zu diagnostizieren und adäquat zu behandeln. Psychiater und Psychologen sind hier gefordert, ihr Wissen beizutragen und über den Tellerrand zu blicken. Praxisrelevanz: Alle Theorie ist grau - diese Reihe gibt Ihnen die Tipps und Tricks an die Hand, mit denen Sie Ihren schwierigen Alltag meistern können. Didaktik und Struktur: Alle Bände sind gleich strukturiert und warten mit einer übersichtlichen Didaktik auf. Das Lesen soll Spaß machen, und die entscheidenden Informationen müssen schnell erfasst werden können.

SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum7. März 2011
ISBN9783642129964
Intelligenzminderung: Eine ärztliche Herausforderung

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    Buchvorschau

    Intelligenzminderung - Frank Häßler

    Frank HäßlerManuale psychischer Störungen bei Kindern und JugendlichenIntelligenzminderungEine ärztliche Herausforderung10.1007/978-3-642-12996-4_1© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011

    1. Ein Blick zurück: Menschen mit geistiger Behinderung in der Medizin/Psychiatrie

    Frank Häßler¹

    (1)

    Klinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter, Universität Rostock, Gehlsheimer Straße 20, 18147 Rostock

    Zusammenfassung

    Das Verhältnis der Psychiatrie zu Menschen mit geistiger Behinderung ist durch zahlreiche historische Hypotheken belastet, auf die im Folgenden etwas näher eingegangen werden soll.

    Das Verhältnis der Psychiatrie zu Menschen mit geistiger Behinderung ist durch zahlreiche historische Hypotheken belastet, auf die im Folgenden etwas näher eingegangen werden soll.

    1.1 Antike

    Bei fast allen archaischen Völkern war die Aussetzung und Tötung von Neugeborenen ein Mittel zur Geburtenregulierung und daher moralisch und rechtlich erlaubt. Von diesem Recht wurde offensichtlich selbst bei Neugeborenen ohne erkennbare körperliche Missbildungen und geistige Behinderungen häufig Gebrauch gemacht. Die Kindstötung war grundsätzlich dem Kindesvater erlaubt. Er hatte das Recht, das neugeborene Kind auszusetzen oder zu verkaufen, es als Opfergabe einem der vielen Götter oder einer Göttin zu weihen. Trotzdem bestanden zwischen den antiken Staaten merkliche Unterschiede.

    In Theben war es verboten, Kinder auszusetzen. Wenn der Vater sehr arm war, lieferte er das Kind gleich nach der Geburt bei den Behörden ab. Diese gaben es an geeignete und geneigte Bürger ab. Sie verpflichteten sich vertraglich, das Kind großzuziehen, wofür es ihnen später als Sklave oder Sklavin gehörte (Sarkady 1974).

    Sparta ging eigene Wege mit abschreckender Härte. Nach spartanischer Auffassung war das Kind nicht Besitz des Vaters, sondern des Staates, und der Staat entschied über das Kind bereits von Geburt an. Missgestaltete Knaben wurden unmittelbar nach der Geburt getötet.

    Im Rom des 4. Jh. v. Chr. war die Tötung von behinderten Kindern kein Verbrechen, sondern kodifiziertes Recht: „Cito necatus tamquam ad deformitatem puer", schnell ums Leben gebracht wie ein missgestalteter Knabe (XII tabulis insignis – Zwölftafelgesetz; Huchthausen 1981).

    Vierhundert Jahre später rechtfertigt Seneca (2–65 n. Chr.) ohne Hass oder Zorn eine solche Tat als vernünftig:

    Tolle Hunde bringen wir um; einen wilden und unbändigen Ochsen hauen wir nieder, und an krankhaftes Vieh, damit es die Herde nicht anstecke, legen wir das Messer, ungestalte Geburten schaffen wir aus der Welt, auch Kinder, wenn sie gebrechlich und missgestaltet zur Welt kommen, ersäufen wir. Es ist nicht Zorn, sondern Vernunft, das Unbrauchbare von dem Gesunden abzusondern (Seneca, Bücher über den Zorn I 15; von Gleichen-Rußwurm 1925).

    Im antiken Rom war es somit üblich, lebensunfähige Menschen, Kinder mit körperlichen Abnormitäten und psychopathologisch auffällige Personen auszusetzen, zu verbannen oder gar zu töten. Einen weiteren Beweis dafür finden wir unter anderem in dem späteren Gesetzeswerk „Politeia", 410 n. Chr.:

    Wer siech am Körper ist, den sollen sie sterben lassen, wer an der Seele mißraten und unheilbar ist, den sollen sie sogar töten (Huchthausen 1981).

    Generell trugen die Angehörigen von „dementes, „debiles und „furiosi die Sorge und Verantwortung, woraus nicht selten freiheitsentziehende Unterbringungspraktiken resultierten. Wenn keine Angehörigen existierten, übernahm ein Betreuer, der „curator furiosi, o. g. Aufgaben bzw. Verpflichtungen. Kaiser Justinianus I. verankerte 542 n. Chr. Schutz, Versorgung und Pflege zum Wohle der Kranken in einem Gesetzwerk (corpus juris).

    1.2 Mittelalter

    Im christlichen Europa ist im Mittelalter die Behandlung der von Wahn Befallenen, der Besessenen, der Fallsüchtigen und der Melancholiker eher Sache der Priester und Mönche als die der Ärzte. Mehr oder minder geduldet und mit dem Lebensnotwendigsten versorgt, vegetieren geistig Behinderte in den ersten Klöstern, die im 5. bis 11. Jahrhundert entstehen.

    Mit erstaunlichem Niveau beeindruckt die Irrenpflege im arabischen Mittelalter. Aus der religiösen Verwurzelung im Islam, einer Religion, die in allen Geschöpfen Allahs Allmacht und Güte am Werk sieht, resultiert ein besonders enges Verhältnis der Narren und Schwachsinnigen zu Allah. Schon durch den Propheten Muhamed waren die arabischen Ärzte angehalten worden, sich in humaner Weise mit den Geistesstörungen zu beschäftigen. Der Koran macht Unterhalt und Pflege der Irren zu einer Standespflicht. In der Sure 4, Vers 4, heißt es:

    Ihr sollt den Schwachsinnigen nicht ihr Vermögen in die Hand geben, sondern es für sie verwalten; ernährt sie damit und kleidet sie, und sprecht Worte freundlichen Ratschlags zu ihnen (Koran 1959).

    Die Weiterführung der humanistischen antiken Tradition in der Behandlung von Geisteskranken, die sogar psychotherapeutische Elemente enthielt, finden wir am ehesten in der arabischen Welt, basierend auf dieser vom Koran ausgehenden Toleranz und dem religiös eingeforderten Wohlwollen ihnen gegenüber. Dafür stehen Namen wie Ibn Sina (980–1037) mit dem „Canon medicinae", Maimonides (1135–1204), Ali Ibn Rabban und Ali Abbas. Entsprechend dieser Einstellung ging es auch um eine angemessene Unterbringung von Menschen mit geistiger Behinderung. In den arabischen Hochkulturen nahm die Errichtung von Krankenspitälern und Häusern für Geisteskranke im 8. und 9. Jahrhundert rasch zu, was sich bis in den iberischen Einflussbereich erstreckte. Ackerknecht nennt die Errichtung eines solchen Spitals in Bagdad um 750, in Kairo 873, in Damaskus um 800, in Aleppo 1270 und in Kaladun 1283. In der nordafrikanischen Stadt Fez bewohnten im 7. Jh. Geisteskranke ein ganzes Stadtviertel, das jedoch nicht den Charakter eines Ghettos hatte (Ackerknecht 1985).

    Bei der Behandlung und Unterbringung geistig behinderter Menschen ist für das 15. und 16. Jahrhundert sowohl zwischen der Stadt- und der Landbevölkerung als auch hinsichtlich der Zuordnung von Krankheitsbildern nach dem damaligen Stand der Medizin zu unterscheiden.

    Für die „harmlosen" Irren, zu denen schwachsinnige Kinder und Heranwachsende ebenso zählten wie Altersdemente und geistig Behinderte durch Verletzungen oder Krankheiten, waren grundsätzlich die Verwandten verantwortlich, bei denen sie wohnten und verpflegt wurden.

    Zeigte sich das Krankheitsbild derart, dass eine Gefährdung der Öffentlichkeit nicht zu befürchten war, so ließ man sie frei herumlaufen, steckte sie eventuell in ein Narrenkleid. Das Narrenkleid mit der Narrenkappe und die Insignien des Narrentums: Schellen und Marotte waren Freibrief und Schutzbrief zugleich. Mit Betteln und Sammeln von Almosen waren vor allem die Kinder und die Alten auf die Barmherzigkeit ihrer Mitbürger angewiesen.

    Auf Passionsaltären wurden insbesondere in der Ecce-homo-Szene (Verspottung) vereinzelt Schwachsinnige von den mittelalterlichen Meistern dargestellt. Ein Kind auf dem linken Flügel des Aachener Passionsaltars (Kölner Meister um 1505) trägt eindeutig mongoloide Züge.

    1.3 Neuzeit

    Die medizinische Behandlung von Geisteskranken hatte sich im christlichen Europa im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit kaum verbessert. Abgesehen von wenigen ärztlichen Schulen, wie in Salerno und Mailand, baute die Medizin im Allgemeinen auf Aberglaube und volkstümlicher Erfahrung auf, wie andere Handwerker spezialisierten sich einzelne Richtungen in der Chirurgie auf Zahnausreißen, Steinherausholen oder Aderlass. Die vorherrschende Befangenheit in Teufelsglauben und Hexenwahn können aber selbst so hervorragende Persönlichkeiten und Ärzte wie Paracelsus (1491–1541) und Johann Weyer (1515–1588) nicht überwinden. Ersterer ordnete in seinem Buch „Von den Krankheiten, die der Vernunft berauben, erschienen erst 1567, Epilepsie, Manie, Irrsinn, Veitstanz und Hysterie den Geisteskrankheiten zu und führte diese auf natürliche Ursachen zurück. Zu den „rechten unsinnigen Leut zählt Paracelsus neben Lunatici, Vesani, Melancholici und Obsessi auch die Insani.

    Hohe Hospitäler in Hessen

    1527 beschloss der Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen, im Zuge der Säkularisierung drei Klöster und eine Pfarrei zu Armenhospitälern umzuwandeln, die als „Hohe Hospitäler" in die Geschichte Hessens eingingen. Bereits Ende des 16. Jahrhunderts hatte sich die ursprünglich auf 100 Pfleglinge ausgerichtete Zahl der Hospitaliten verdoppelt, von denen psychisch Kranke und geistig Behinderte ein Viertel ausmachten. Narren und Simple oder Menschen mit blödem Verstand teilten Räumlichkeiten, Mahlzeiten, Arbeitsplätze und Gottesdienste mit den körperlich Kranken, den Krüppeln und den armen Alten. Die Versorgung oblag auch hier den Seelsorgern und den Aufwärterehepaaren. Ein studierter Arzt wurde erst 1821 eingestellt.

    Ähnliche Zustände herrschten auch an anderen Einrichtungen bis weit in das 19. Jahrhundert vor.

    Erste Gesetze zum Schutz von Geisteskranken

    Im Zuge der Aufklärung befasste sich nun die gesetzgeberische Seite mit dem Schutz von Geisteskranken, nachdem diese bis dato nur von strafrechtlichen Verfolgungen ausgenommen waren. Basierend auf der „Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. von 1532 wurden „furiosi, „dementes, „phrenetici, „insani und „mencapti in der Praxis straffrei gelassen. 1774 erließ das Parlament in England das erste europäische Gesetz zum Schutz von Geisteskranken. Österreich folgte unter Kaiser Joseph II. mit den Direktiven für das Krankenwesen. Derselbe Kaiser errichtete 1784 den Irrenturm im Hauptspital von Wien. Zur selben Zeit prangerten Pinel und Esquirol in Frankreich die Missstände in den Anstalten an und wiesen auf die Not der bedauernswerten Kranken hin. Andererseits sah Pinel im Idiotismus die Abwesenheit aller geistigen Fähigkeiten (Baruk 1990). Menschen mit geistiger Behinderung sprach man menschliche Gefühle und Regungen ab und missbrauchte sie zum Ergötzen eines zahlenden Publikums. Auch im Wiener Narrenturm wurden Patienten zur Freude von Erwachsenen und Kindern gegen Entgeld vorgeführt. Geistesgestörte und Missgestaltete gehörten ebenso zum „Personalbestand" von Schaustellern und Wandertruppen.

    Beginn der modernen Psychiatrie

    Die zunehmende Entfaltung der Psychiatrie im 19. Jahrhundert wurde einerseits durch humanitäre Grundsätzein Fortführung der Ideen der französischen Revolution geprägt, andererseits basierte sie auf den Fortschritten in Medizin und Biologie und wurde gesellschaftlich durch die sich durchsetzende staatliche Erkenntnis der sozialen Gerechtigkeit als stabilisierender Faktor erst ermöglicht.

    In Deutschland waren es vor allem die Leiter der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreich gegründeten modernen Anstalten, die ein Aufblühen der Psychiatrie einleiteten. Die Wortprägung „Psychiatrie" stammt von dem Hallensischen Stadtphysikus J. Ch. Reil aus dem Jahre 1808.

    Die erste Schule für Kretinen nahm unter der Leitung des Lehrers Guggenmoos ihre Arbeit 1816 in Salzburg auf. 1840 wurde durch J. Guggenbühl die erste Anstalt für Kretinen auf dem Abendberg bei Interlaken errichtet. Am Ende des 19. Jahrhunderts existierten in Preußen 3600 Betten in 28 sogenannten Idiotenanstalten (Bilz 1898).

    Nach Henze (1934) dominierten im 19. Jahrhundert drei unterschiedliche Richtungen die Schwachsinnigenfürsorge:

    die philantropisch-karitative = sozialpädagogische Richtung, in deren Rahmen mit der zweiten Welle der Rettungshausbewegung in den Jahren 1840–1860 „Idiotenanstalten" entstanden,

    die schulpädagogische Linie, die wesentlich die Anfänge der Hilfsschulpädagogik beeinflusste,

    die medizinische Richtung, die die Schwachsinnigen als geistig krank und ärztlicher Pflege bedürftig ansah.

    1875 wird durch den Leiter der Alsterdorfer Anstalten, Sengelmann, die Konferenz der Idiotenanstalten ins Leben gerufen, wo die allgemeine Beschulung propagiert wird und somit auch die Einordnung von Schwachbefähigung, welche dem späteren Konzept der Debilität entspricht. 1880 entsteht die erste Hilfsschule in Elberfeld; 1920 werden bereits 43.000 Kinder in Hilfsschulen unterrichtet. Ein Großteil der debilen Kinder wird in Heilerziehungsheimen betreut. In dieser Zeit konstituiert sich auch die großen Wohlfahrtsverbände, die bis auf den heutigen Tag eng mit der Betreuung und Pflege von Menschen mit schwerer und schwerster geistiger Behinderung verbunden sind. 1848 entsteht die Innere Mission der evangelischen Kirche, 1863 das Rote Kreuz, 1897 der Caritasverband der katholischen Kirche, 1919 die Arbeiterwohlfahrt und 1924 der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband.

    Für die medizinische Richtung mag stellvertretend Griesinger stehen, der in Geisteskrankheiten nicht nur Gehirnkrankheiten sah, sondern auch eine psychosoziale Komponente. In Bezug auf die Idiotenanstalten schrieb er: „Wie die Irrenanstalten die Voraussetzung für die Erkenntnis der Irren, so machen die jetzt zu gründenden Idiotenanstalten erst das Kennenlernen dieser Intelligenzmängel möglich" (Jantzen 1982). Leider blieb Griesingers Theorie nur eine unter vielen neuen psychiatrischen Ansätzen.

    Sozialdarwinismus und Rassenhygiene der Nationalsozialisten

    Um die Jahrhundertwende war der ursprüngliche Optimismus, Geisteskrankheiten heilen zu können, weitestgehend einem therapeutischen Nihilismus gewichen. Hinzu kamen die weit verbreiteten biologistischen Ansichten des Monisten Ernst Haeckel (1834–1919), der unter anderem mit Begriffen wie Lebenswert, Kontraselektion und Vorwegnahme von rassenhygienischen Positionen den Grundstein für den späteren Sozialdarwinismus legte.

    Diese theoretischen Überlegungen beeinflussten maßgeblich die Entwicklung der Rassenhygiene, die ihre Umsetzung in der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik fand. Bereits am 14. Juli 1933 wird das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Kraft gesetzt. Damit begannen Verschärfungen der repressiven Verwahrung und die Unterbindung der Fortpflanzungsfähigkeit bei geistig Behinderten und psychisch Kranken, die als erbkrank galten. Zwangssterilisationen waren an der Tagesordnung. Der schwerwiegendste und perfideste Eingriff in die Anstaltsversorgung war der von 1940 bis August 1941 durchgeführte Massenmord (T4-Aktion), der vermutlich 70.000 Patienten das Leben kostete. Die Psychiatrie, die von einer „sozialen Psychiatrie über die „Sippenpsychiatrie zur „Vernichtungspsychiatrie degeneriert war, hatte ärztliches Ethos verraten und beschmutzt.

    1.4 Neuansätze in der Gegenwart

    Sowohl dieser geschichtliche Hintergrund als auch die vorwiegend traditionellen medizinischen Konzepte der geistigen Behinderung mit einem biologistisch determinierten defizitären Ansatz haben zu einer Vordenker- und Vorreiterrolle der Heil- und Behindertenpädagogik bis hin zur Rehabilitationspädagogik in der Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung geführt. Auch die Krankenhausreform der Nachkriegsjahre reaktivierte alte Ausgliederungswünsche, um sich in klinifizierten Häusern, d. h. modernen Psychiatriekliniken, den „Heilbaren und Behandlungsfähigen" zuzuwenden.

    Reformbeginn 1975

    Einen ersten Schritt zu einer Reform stellten die Empfehlungen der Psychiatrie-Enquete 1975 dar, worin die Trennung der Versorgung psychisch Kranker und geistig Behinderter sowie die Schaffung von eigenständigen Behinderteneinrichtungen außerhalb der Krankenhäuser angemahnt wurde.

    1975 betrug der Anteil geistig Behinderter an der Gesamtzahl aller Psychiatriepatienten im Bundesdurchschnitt 18,5%. Aus der gleichen Zeit stammen die „Normalisierungsprinzipien" für heilpädagogische Heime. Aber erst die sozialpsychiatrisch akzentuierte Reform in den 80er-Jahren hat im deutschsprachigen Raum zu einem tiefgreifenden Umdenken angeregt und dank der Heil- und Behindertenpädagogik auch die geistig Behinderten erreicht.

    Die neu definierte Rolle der Psychiatrie in der Betreuung geistig behinderter Menschen zeigte sich in klinikinternen Verbesserungen, der Hinwendung zu kleineren, therapeutisch orientierten Fachkrankenhäusern mit vorrangiger Förderung der sozialen Kompetenz und moderneren Behandlungsstrategien, d. h. Integration psychotherapeutischer Verfahren neben der Psychopharmakatherapie. Begleitend wurden gemeindenahe Wiedereingliederungsmaßnahmen und die Integration entwicklungspsychologischer, sozioökologischer und psychoedukativer Modelle in ein Gesamtbehandlungskonzept eingeführt.

    UN-Behindertenkonvention

    Zwei Jahre nach ihrer Unterzeichnung trat am 26. März 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention auch in Deutschland in Kraft. Ziel dieses von über 130 Staaten gezeichneten Übereinkommens ist, die Chancengleichheit behinderter Menschen zu fördern und ihre Diskriminierung in der Gesellschaft zu unterbinden. Mit dieser Zielsetzung steht die Konvention unmittelbar für das Empowerment der in der und von dieser Gesellschaft behinderten Menschen (Aichele 2008). Die Konvention listet die individuellen subjektiven Rechte der Menschen mit Behinderung auf. Dazu gehören unter anderem das Recht auf Leben (Artikel 10), das Recht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht und Schutz der Rechts- und Handlungsfähigkeit (Artikel 12), das Recht auf Zugang zur Justiz (Artikell 13), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Artikel 14), Freiheit vor Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch (Artikel 16), das Recht auf seelische und körperliche Unversehrtheit (Artikel 17), das Recht auf unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gesellschaft (Artikel 19), das Recht auf Gesundheit (Artikel 25; ▶ Übersicht) und das Recht auf Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben (Artikel 29).

    Artikel 25 – Gesundheit lautet:

    States Parties recognize that persons with disabilities have the right to the enjoyment of the highest attainable standard of health without discrimination on the basis of disability. States Parties shall take all appropiate measures to ensure access for persons with disabilities to health services that are gender-sensitive, including health-related rehabilitation. In particular, States Parties shall:

    Provide persons with disabilities with the same range, quality and standard of free affordable health care and programmes as provided to other persons, including in the area of sexual and reproductive health and population-based public health programmes;

    Provide those health services needed by persons with disabilities specifically because of their disabilities, including early identification and intervention as appropriate, and services designed to minimize and prevent further disabilities, including among children and other persons;

    Provide these health services as close as possible to people’s own communities, including in rural areas;

    Require health professionals to provide care of the same quality to persons of disabilties as to others, including on the basis of free and informed consent by, inter alia, raising awareness of the human rights, dignity, autonomy and needs of persons with disabilities through training and the promulgation of ethical standards for public and private health care;

    Prohibit discrimination against persons with disabilities in the provision of health insurance, and life insurance where such insurance is permitted by national law, which shall be provided in a fair and reasonable manner;

    Prevent discriminatory denial of health care or health services or food and fluids on the basis of disabilty.

    Menschen mit Behinderungen sollen danach nicht nur die gleichen Gesundheitsleistungen wie andere Menschen auch erhalten, sondern es sollen ihnen darüber hinaus auch Gesundheitsleistungen angeboten werden, die

    speziell wegen ihrer Behinderung benötigt werden, soweit angebracht, einschließlich Früherkennung und Frühintervention, sowie Leistungen, durch die, auch bei Kindern und älteren Menschen, weitere Behinderungen möglichst gering gehalten oder vermieden werden sollen.

    Inwieweit diese Ziele auch umgesetzt und in gesetzlichen Grundlagen verankert werden, bleibt abzuwarten.

    Frank HäßlerManuale psychischer Störungen bei Kindern und JugendlichenIntelligenzminderungEine ärztliche Herausforderung10.1007/978-3-642-12996-4_2© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011

    2. Worum es geht: Ausgangslage, Definition und Klassifikation

    Frank Häßler¹

    (1)

    Klinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter, Universität Rostock, Gehlsheimer Straße 20, 18147 Rostock

    Zusammenfassung

    Art und Schweregrad der intellektuellen Beeinträchtigung bestimmen wesentlich den Umgang im Alltag hinsichtlich Unterstützung, Begleitung, Betreuung, Beaufsichtigung und Pflegeaufwand und damit auch die körperlichen, emotionalen und auch finanziellen Belastungen der Familienangehörigen wie auch der Betreuer in den Einrichtungen. Um möglichst frühzeitig effiziente Hilfen installieren zu können, bedarf es einer fundierten rechtzeitigen Diagnostik. Dennoch kann die frühzeitige Feststellung einer intellektuellen Behinderung auch unerwünschte Wirkungen haben: Stigmatisierung, Vernachlässigung weiterer Förderung, Beeinträchtigung der emotionalen Beziehung u. a.

    2.1 Kindes- und Jugendalter

    Art und Schweregrad der intellektuellen Beeinträchtigung bestimmen wesentlich den Umgang im Alltag hinsichtlich Unterstützung, Begleitung, Betreuung, Beaufsichtigung und Pflegeaufwand und damit auch die körperlichen, emotionalen und auch finanziellen Belastungen der Familienangehörigen wie auch der Betreuer in den Einrichtungen. Um möglichst frühzeitig effiziente Hilfen installieren zu können, bedarf es einer fundierten rechtzeitigen Diagnostik. Dennoch kann die frühzeitige Feststellung einer intellektuellen Behinderung auch unerwünschte Wirkungen haben: Stigmatisierung, Vernachlässigung weiterer Förderung, Beeinträchtigung der emotionalen Beziehung u. a.

    Ausgehend von diesen Besonderheiten gilt es, Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderungen, die einen Anspruch auf eine angemessene gesundheitliche Versorgung haben, durch spezialisierte gesundheitsbezogene Leistungen im präventiven, kurativen und rehabilitativen Bereich eine weitestgehend selbstständige und selbst bestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Dieses Ziel steht in völligem Einklang mit den Schwerpunktsetzungen des Grünbuchs der Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 14.10.2005 (Häßler 2007).

    Zwischen Anspruch und Erfordernissen bezüglich der gesundheitlichen Versorgung von geistig behinderten Kindern und Jugendlichen mit und ohne psychische Störungen und der Realität klafft –mit gewissen territorialen Ausnahmen – eine große Lücke, die sich in erster Linie auf strukturelle, aber auch inhaltlich diagnostisch-therapeutische Aspekte bezieht. Eine Erhebung an kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken, in die die Angaben von 74 der insgesamt 136 befragten Kliniken eingingen, zeigte, dass der Anteil der ambulant und stationär behandelten geistig behinderten Patienten bei jeweils 6% lag (Hennicke 2005). An der Rostocker Klinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter lag der Anteil

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