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Denken in Strukturen und seine Geschichte: Von der Kraft des mathematischen Beweises
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eBook469 Seiten4 Stunden

Denken in Strukturen und seine Geschichte: Von der Kraft des mathematischen Beweises

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Über dieses E-Book

Wie kommt es, dass das „Buch der Natur in der Sprache der Mathematik“ geschrieben ist?

Was hat Mathematik mit Logik zu tun und was die Logik mit der Natur?

Wie haben die Menschen sich im Laufe der Geistesgeschichte diesen Fragen genähert?

Wie kommt es, dass man das Denken in Strukturen einer Maschine übertragen kann, und was bedeutet dabei die Digitalisierung?

Das sind die Fragen, denen in diesem Buch nachgegangen wird. Es wird dabei eine Geschichte des logisch-mathematischen Denkens erzählt, eines Denkens in Strukturen, das die Entwicklung  von Wissenschaft und Technik unserer modernen Welt entscheidend gefördert hat und diese Entwicklung heute immer stärker treibt. Sie hat aber nicht nur zu unserem heutigen digitalen Zeitalter geführt, sondern auch Einsichten in die Möglichkeit von Erkenntnissen überhaupt geliefert. 

SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum21. Aug. 2018
ISBN9783662563779
Denken in Strukturen und seine Geschichte: Von der Kraft des mathematischen Beweises

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    Buchvorschau

    Denken in Strukturen und seine Geschichte - Josef Honerkamp

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018

    Josef HonerkampDenken in Strukturen und seine Geschichtehttps://doi.org/10.1007/978-3-662-56377-9_1

    1. Einführung

    Josef Honerkamp¹  

    (1)

    Fakultät für Mathematik und Physik, Universität Freiburg, Freiburg, Deutschland

    Josef Honerkamp

    Email: josefhonerkamp@web.de

    Viele reden heute von einer digitalen Revolution. Zwar spürt man sie schon seit den 90er-Jahren, nun aber scheint sie bis in die letzten Winkel unseres privaten Lebens vorzudringen. Ob am feierabendlichen „Herd, am Arbeitsplatz, im Supermarkt, im Krankenhaus oder im öffentlichen Verkehr, in allen Lebens- und Arbeitsbereichen profitieren wir wie selbstverständlich von Datenbanken, Suchmaschinen, vernetzten Informations- oder Navigationssystemen und Smartphones. Roboter verrichten in Fabrikhallen mit größter Zuverlässigkeit und Geduld immer wiederkehrende Arbeiten, werden aber auch immer intelligenter, sodass unsere Autos vielleicht bald autonom auf der Autobahn fahren können. „Künstliche Intelligenz nennt man es, zu der man heutige Rechner durch bestimmte „Algorithmen" befähigen kann. Und das gelingt, weil man alle Information und Argumente durch digits, also Ziffern, ausdrücken kann, wobei man letztlich nur zwei davon braucht: 0 und 1.

    Wie ist diese „Kunst" entstanden und wo liegen ihre Wurzeln? Welche Art von Denken steckt dahinter und wie hat sich dieses Denken entwickelt? Und wie konnte es sich so weit entwickeln, dass wir es Maschinen übertragen konnten, die uns dann in diesem Denken übertrumpfen können? Was bedeutet es schließlich für unser Bild vom Menschen, wenn wir eine unserer Arten zu denken so weit verstehen, dass wir diese Art auch Maschinen lehren können?

    Das sind Fragen, die einen nachdenklichen Zeitgenossen umtreiben können, und ich will hier einige Antworten darauf geben. Der Leser möge aber nicht sofort zurückschrecken, wenn er merkt, dass es dabei besonders um Mathematik und Logik geht. Wie sollte es anders gehen? Logik beschreibt die „Grammatik" unseres Denkens und Mathematik ist eine Wissenschaft von Strukturen. Strukturen in der Welt machen uns diese Welt erst erkennbar – einmal davon abgesehen, dass es uns ohne Strukturen und deren Evolution gar nicht gäbe. Es geht also um ein Denken in Strukturen. Je mehr die Digitalisierung fortschreitet, umso bedeutsamer wird dieses Denken für unser Verständnis des Geschehens in der Welt.

    Das Bildungsideal des 19. Jahrhunderts, das einige noch hochhalten, wird der Moderne schon lange nicht mehr gerecht; mit der fortschreitenden Digitalisierung wird es völlig obsolet. Charakterisieren könnte man dieses Ideal dadurch, dass es allein ein Denken in Geschichten ist. In der Tat liegt uns dieses Denken näher und es ist aus guten Gründen auch präsenter in jeder sozialen Kommunikation. Aber es gilt auch hier: Man soll das eine tun und das andere nicht lassen.

    Das „andere" Denken wurde aber gerne gelassen. Es ist vielleicht mühsamer und nicht so unterhaltsam. Der Bildungsbürger vergangener Zeiten schwärmt vom antiken Erbe oder spricht vom christlich-jüdischen Erbe des Abendlands. Bei der Berufung auf das christliche Erbe blendet man die ganze Entwicklung von Wissenschaft und Technik seit der Renaissance aus, bezieht sich nur auf die religiöse Geschichte Europas und, damit verbunden, auf die Entwicklung von Sitten und Gebräuchen in unserem Teil der Welt.

    Aber auch beim antiken Erbe ist der Bildungsbürger „einäugig". Wenn man sich dieses Erbe genauer anschaut, entdeckt man, dass es in den frühsten Kulturen schon jeweils zwei Entwicklungsstränge gab, die dann im antiken Griechenland zu einer ersten Blüte gelangten. Der holländische Wissenschaftshistoriker Floris Cohen charakterisiert diese beiden Stränge in seinem Buch Die zweite Erschaffung der Welt mit den Etiketten „Athen und „Alexandria (Cohen 2010). Dabei meint er mit „Athen die Entwicklung philosophischer Fragen und Ideen durch Sokrates, Platon, Aristoteles und anderen Denkern, mit „Alexandria die Weiterentwicklung des logisch-mathematischen Denkens durch die pythagoreische Schule, durch Euklid und Archimedes, um nur einige Namen zu nennen, die halbwegs bekannt sind. Hier gab es schon das „Denken in Geschichten, nämlich als „Athen, und das „Denken in Strukturen als „Alexandria.

    Viele Bildungsbürger verbinden aber unsere kulturellen Wurzeln der Antike allein mit den griechischen Autoren des Denkens in Geschichten. Vor dem Hauptgebäude der Freiburger Universität stehen zwei Denkmäler, eins für Homer und eins für Aristoteles. Jeder, der an diesen vorbei dem Hauptgebäude zustrebt und sie bemerkt, denkt an Dichtung und Philosophie, Signum der „höheren Bildung . Dabei hat Aristoteles die Philosophie nicht so sehr als steile Thesen und Geschichten über „das Ganze verstanden, sondern eher als eine Lehre von der Strukturierung der Gedanken, als Suche nach einer Ordnung und einem Überblick über die Begründungen und deren Zusammenhänge in einem Gedankengebäude. Das wird aber nur selten so gesehen.

    Diese Situation ist bezeichnend für die gängige Rezeption des griechischen Erbes seit Jahrhunderten. Alle Bildungsbewegungen, die an antikes Wissen und an antike Vorstellungen anknüpfen wollten, alle Spielarten des „Humanismus konzentrierten sich auf literarische Werke. Eine „Formung des Menschen und „Bildung des Geistes konnte danach nur durch eine gute Kenntnis von Literatur, Musik und Kunst gelingen, also durch das, was man früher eine schöngeistige Bildung nannte. Auch die Geschichte der politischen und religiösen Entwicklungen wird dazu gezählt, um Antworten auf die Frage danach, „woher wir kommen finden zu können. Der „rechnende Geist" dagegen galt als kalt und profan.

    Das antike Erbe, das sich jedoch am stärksten in der Dynamik der heutigen Welt widerspiegelt, ist aber der Strang „Alexandria" der antiken Kultur. In der Spätantike kam es allerdings zum Niedergang des logisch-mathematischen Denkens . Erst nach etwa 1500 Jahren, in denen es den Menschen vorwiegend darum ging, ihre Seele zu retten, erlebte dieses Denken eine Renaissance, in der die Grundlagen für die moderne Welt gelegt wurden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich begann eine dritte höchst fruchtbare Periode logisch-mathematischen Denkens, die zur treibenden Kraft für alle wissenschaftlichen und technischen Innovationen unserer Zeit wurde.

    Der Mensch, der sich in der heutigen Zeit zurechtfinden will, sollte also mit beiden Augen die Geistesgeschichte sehen.

    Ich hoffe, mit dieser Geschichte des Denkens in Strukturen die Leserin und den Leser motivieren zu können, sich auch mit dieser „anderen Seite der Kultur zu beschäftigen, mit dem anderen Auge also noch besser sehen zu wollen und mit diesem auch „das Schöne zu suchen. Dieses ist vielleicht nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Wenn man aber etwas Arbeit investiert, erlebt man, dass „Schönheit auch etwas mit „Grundsätzlichem und „Tiefgründigem zu tun haben kann und dass dieses hier auch direkt fassbar wird. Es ist dann nicht nur bereichernd, wenn man dorische von ionischen Säulen unterscheiden kann oder die literarische Qualität eines Dichters zu spüren glaubt, sondern auch noch weiß, was eine formale Sprache im Unterschied zu einer Umgangssprache für unser Denken leisten kann und welche Rolle dieser Unterschied für das Menschheitsprojekt „Wissenschaft spielt. Man wird auch erkennen, welche geistige Arbeit über die Jahrtausende von vielen Denkern in dieses Projekt investiert worden ist, und vielleicht auch lernen, die Tragweite und Verlässlichkeit der jeweiligen Ergebnisse abzuschätzen.

    Bei meinen Ausführungen könnten manche die Liebe zum historischen Detail vermissen, anderen wird vielleicht die gedankliche Strenge eines Mathematikers fehlen. Auch ist die Geschichte nicht sehr ausführlich erzählt, dazu bräuchte es die Arbeit von Jahrzehnten. Es ist eher nur ein Plot der ganzen Geschichte. Ich bin ein theoretischer Physiker, der ständig erlebt, welche bedeutende Rolle Logik und Mathematik für die Naturforschung spielen, und der immer wieder von der tiefen Schönheit logisch strukturierter Gedankensysteme fasziniert ist.

    Beginnen will ich diese Erzählung mit einer kleinen Betrachtung des Denkens in Geschichten. Ich will versichern, dass ich auch dieses Denken schätze und dessen Bedeutung für unser Leben sehe, ich will dabei allerdings auch schon die Probleme thematisieren, denen man in unserer Umgangssprache , die ja auch die Sprache unserer Erzählungen ist, bei dem Gebrauch von Begriffen begegnen kann – Vagheit und eine Gefahr für Widersprüche.

    Danach aber soll die Geschichte des Denkens in Strukturen erzählt werden – von den Rechenrezepten der Babylonier bis zu den Algorithmen für lernende Maschinen. Es ist auch die Geschichte des logisch-mathematischen Denkens. Dabei zeigt sich, dass es stets der Gebrauch einer formalen Sprache ist, der die Klarheit und Ordnung des Denkens beförderte, sowohl in der Bildung von Begriffen wie bei Begründungen. Die ersten Erfahrungen mit einer formalen Sprache machten die Menschen mit einfachem Zählen und Rechnen im Rahmen der Grundrechenarten. Die Macht einer solchen Sprache zeigte sich dann in der Möglichkeit unanfechtbarer mathematischer Beweise; die Mathematik wurde zum Ideal einer Wissenschaft, und man erkannte in der Renaissance schließlich, dass sie auch die Sprache der Natur ist.

    Damit lernte die Naturforschung diese Sprache kennen und schätzen. Die moderne Physik entstand und verlangte nach einem größeren Sprachschatz. Die Mathematisierung der Physik, der Naturwissenschaften, aller empirischen Wissenschaften begann. Die Möglichkeit, Argumente in einer formalen Sprache auszudrücken und einer Maschine zu übertragen, forcierte die Entwicklung von Rechenautomaten sowie von Algorithmen, die von diesen abgearbeitet werden können. Diese Digitalisierung hat in der Tat unsere Informations- und Kommunikationsprozesse revolutioniert.

    Das logisch-mathematische Denken hat aber noch mehr Pfeile im Köcher als allein die Digitalisierung. Die Idee, das Wissen in Form eines axiomatischen Systems zu ordnen, lässt sich in Logik und Mathematik besonders gut realisieren. Schon im antiken Griechenland hatte man das entdeckt. Damit war ein Ideal für die Organisation von Erkenntnissen vorgegeben: Übersicht über die grundsätzlichen Annahmen und Unanfechtbarkeit der Argumentation aufgrund logischer Schlüsse. Auf diese Weise kann man klare Begriffe entwickeln und neue Erkenntnisse gewinnen. Man kennt dann auch gleich die Basis, auf der diese sicher stehen. Am Beispiel des Begriffs der Unendlichkeit wird dieses in dem vorliegenden Buch demonstriert.

    Solch eine „Schaffung von Wissen wurde zum Inbegriff einer „strengen Wissenschaft. Viele Denker in den vergangenen beiden Jahrtausenden haben sich auch auf anderen Gebieten, insbesondere der Philosophie, diesem Ideal verschrieben. Ein anderer Aspekt stand dabei im Vordergrund: Der Prozess des Ordnens, die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen den Aussagen, die man für wahr hält. Ein übergreifender Sinn entsteht dadurch, der nur so überzeugend sein kann, wie es die Zusammenhänge sind.

    Der überzeugendste Zusammenhang ist der logische Schluss. Er muss von jedem akzeptiert werden, der zu denken bereit ist. Eine „logische Ordnung" ist also das Ideal eines jeden Denkgebäudes, jedes Systems von Aussagen und damit jeder Sinnstiftung.

    Nun wird in mathematischen wie auch in physikalischen Systemen kein Sinn gestiftet, der uns unmittelbar im Hinblick auf unser menschliches Leben berühren könnte. Dennoch setzt dieses Ideal, Zusammenhänge auf der Basis von Logik und Mathematik zu suchen, einen Maßstab. Die Bemühungen um eine Philosophie als „strenge Wissenschaft" und um die Berücksichtigung logischer Regeln in der Scholastik zeugen davon. Bis heute aber ist nicht abzusehen, ob man auch in dieser Richtung überhaupt nennenswerte Erfolge erzielen kann. Stattdessen feiern die Wissenschaften, in denen sich die Aussagen logisch ordnen lassen, in immer kürzeren zeitlichen Abständen spektakuläre Erfolge. So ist auch zu verstehen, dass heute alle philosophischen Systeme als gescheitert gelten und die Säkularisierung immer weiter fortschreitet.

    Nun wird fast jeder Mensch einen Sinn in seinem Leben oder in der Welt suchen. Wenn man schon seine Überzeugungen nicht streng logisch ordnen kann, so könnte man doch versuchen, dem Ideal insofern näherzukommen, dass man sich Rechenschaft gibt, wie die Zusammenhänge, die man konstruiert, zusammenpassen. Das alleine wird man schon als „sinnvoll" erleben.

    Dafür muss man aber das Ideal ein wenig kennen, und ich hoffe, mit diesem Buch ein wenig dazu beitragen zu können.

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018

    Josef HonerkampDenken in Strukturen und seine Geschichtehttps://doi.org/10.1007/978-3-662-56377-9_2

    2. Denken in Geschichten

    Josef Honerkamp¹  

    (1)

    Fakultät für Mathematik und Physik, Universität Freiburg, Freiburg, Deutschland

    Josef Honerkamp

    Email: josefhonerkamp@web.de

    Wir Menschen lieben Geschichten. Sie begegnen uns den ganzen Tag über – beim Frühstück, am Arbeitsplatz und abends beim Krimi im Fernsehen. Wir wachsen mit ihnen auf durch Märchen, biblische Geschichten, Lieder und Balladen. Wir suchen sie in Romanen, Filmen oder Theaterstücken, und in schier endlosen Telefongesprächen erzählen wir Freunden und Bekannten von den Begebenheiten unserer Tage. Selbst Bilder können wir manchmal als geronnene Geschichten sehen.

    Die Menschen werden Geschichten erzählt haben, seit sie ihre sozialen Interaktionen durch sprachliche Ausdrücke mehr und mehr begleiten konnten. Das geschah wohl schon sehr lange vor den Zeiten, in denen die Schrift erfunden wurde. Die ersten Schriftzeichen wurden wohl als „Memo" für Dinge im Handel erfunden. Vier Kerben hinter dem Bild eines Kruges, eingeritzt in eine Tontafel, mag in der Stadt Uruk vor 5200 Jahren v. Chr. bedeutet haben: vier Bier (Filser 2016). Aber schon lange vorher muss es Geschichten und Gespräche um Handel und andere Tätigkeiten für das tägliche Leben gegeben haben.

    Durch die Schrift wurde es erst möglich, dass wir heute frühe Zeugnisse von den Erzählungen unserer Vorfahren haben. Das Gilgamesch-Epos (etwa 1800 v. Chr.) oder die Odyssee (etwa 700 v. Chr.) von Homer sind solche frühen Geschichten. Aus dem 5.–6. Jahrhundert v. Chr. sind uns dann beeindruckende Dramen und Tragödien aus dem antiken Griechenland überliefert, die schon grundlegende Fragen des menschlichen Lebens wie Schuld und Sühne thematisieren.

    2.1 Intelligenztypen und Geschichten

    Da das Denken in Geschichten die geistige Entwicklung des Menschen begleitet hat, werden wohl die geistigen Fähigkeiten, die für das Erzählen und Fabulieren notwendig sind, schon früh entwickelt gewesen sein. Wir alle kennen Menschen, die eine besondere Begabung und eine Lust zum Erfinden von Geschichten haben und diese auch noch stets prächtig ausschmücken können. Kognitionswissenschaftler versuchen heute, den Begriff der Begabung zu präzisieren und verschiedene Intelligenztypen zu definieren. Sie sprechen z. B. von einer sprachlichen Intelligenz , einer sozialen , einer räumlichen oder einer logisch-mathematischen Intelligenz. Natürlich ist diese Einteilung umstritten; man wird wohl nicht in der Lage sein, belastbare Verfahren zu entwickeln, mit denen man bei einem Menschen das jeweilige Maß dieser Intelligenzen bestimmen könnte. Doch hat eine solche Typisierung, insbesondere die Einsicht, dass es verschiedene Formen von Intelligenz geben kann, Vorteile. Man versteht, dass Menschen, die äußerst sprachbegabt sind, bei logisch-mathematischen Aufgaben versagen können, oder umgekehrt, warum Mathematiker nicht sehr kommunikativ sein können und oft keine eloquenten Redner sind. Diese Menschen sind jeweils nicht „dumm", sondern nur anders intelligent.

    Naheliegend aber ist, dass das Denken in Geschichten eine Domäne jener Menschen ist, die mit einer besonders sprachlichen und sozialen Intelligenz gesegnet sind. Kein Wunder auch, dass dann diese Menschen im sozialen Umfeld viele Vorteile haben und oft auch in der Öffentlichkeit leichter prominent werden können. Und man darf wohl auch annehmen, dass sich diese Intelligenzen im Laufe der Evolution am effektivsten ausgebreitet haben; von der Zeit der Urmenschen bis in die heutige Zeit sind diese geistigen Fähigkeiten wohl die bedeutendsten (Siefer 2015). Andere Intelligenztypen, wie z. B. die bildlich-räumliche oder die körperliche, werden auch eine Rolle gespielt haben, wie etwa bei Jägern und Sammlern oder bei frühen Handwerkern. Am spätesten hat sich aber wohl die logisch-mathematische Intelligenz entwickelt. Auch heute noch ist sie nicht so stark verbreitet wie die sprachliche oder die soziale Intelligenz. Die meisten Menschen benötigen in der Regel in ihrem Leben sowieso nur die Grundrechenarten.

    2.2 Geschichten als Schule fürs Leben und als Gemeinschaftsbildung

    Die Geschichten dienen nicht nur der Unterhaltung. Sie erzählen vom Leben anderer, davon, in welche Situationen man geraten kann und welches Verhalten dabei welche Folgen zeitigen kann. Geschichten sind so etwas wie Simulationen des Lebens; wie ein Flugsimulator das Fliegen lehrt, fördern Geschichten das Verständnis für andere Menschen in ihren Emotionen und Verhaltensweisen. Sie wecken Aufmerksamkeit für verschiedene Lebenssituationen und Charaktere, fördern Empathie und die Fähigkeit, Intentionen anderer zu erkennen.

    Geschichten können soziale Bindungen stärken, können Regeln, Sitten und Gebräuche im menschlichen Zusammenleben auf unterhaltsame Art vermitteln und moralische Vorbilder aufzeigen. Wir kennen alle das „Gleichnis" als eine Geschichte, die uns etwas lehren soll. Wer oft Geschichten liest oder erzählt, erweitert sein Wissen über Menschliches und erlernt überdies auch noch einen großen Wortschatz.

    2.3 Geschichten als Sinnstiftung

    Eine Geschichte ist keine Aneinanderreihung von einzelnen Begebenheiten, sie stellt einen Zusammenhang zwischen verschiedenen Geschehnissen dar und stiftet insofern einen Sinn. Das kann der Sinn eines einzelnen Lebens sein, wenn es sich um eine Autobiographie handelt. Das kann auch der Sinn der Geschichte einer Gemeinschaft, einer Nation oder der Menschheit allgemein sein. So sind Geschichten entstanden, die eine Religion begründen, einen Mythos oder eine Herrschaftsform. So finden auch viele einen Sinn in ihrem Leben, indem sie dieses eingebettet sehen in eine Geschichte, die Generationen übergreift – sei es die Geschichte einer Familie, einer politischen Idee oder einer Wissenschaft. Das eigene „Ich" wird dadurch erkennbarer, eine gewisse Kohärenz der Ereignisse im eigenen Leben stärkt das Selbstbewusstsein und fördert die Gelassenheit. Manche leben sogar mit mehreren Geschichten, eine, die sie im beruflichen Alltag im Hintergrund haben, und eine, die ihr privates Leben bestimmt. Und es kann sogar durchaus vorkommen, dass sich diese widersprechen.

    2.4 Freiheit der Gedanken beim Erfinden und Erzählen von Geschichten

    Natürlich gibt das Erfinden und Erzählen von Geschichten viel Raum fürs Fantasieren und Fabulieren. Je gewagter die beschriebenen Lebensumstände sind, umso mehr genießt oft der Leser oder Hörer solche Erzählungen von einer sicheren Warte des Beobachters aus. Nicht umsonst sind Abenteurer- oder Kriminalromane besonders begehrte Lesestoffe. Die Nähe zur Realität ist dabei nicht unbedingt entscheidend. In Science-Fiction, für die es auch eine große Fangemeinde gibt, ist eine solche ja von vornherein nicht beabsichtigt; eine Ferne zur Realität ist ja oft gerade das, was der Leser mehr oder weniger bewusst sucht.

    Aber nicht nur die mehr oder weniger große Undeutlichkeit in der Beziehung zur Wirklichkeit ist ein Merkmal des Denkens in Geschichten. Die notorische Vagheit unserer Begriffe in der Alltagssprache und die Großzügigkeit, die man beim Verknüpfen von Aussagen walten lassen kann, spielen ebenso eine große Rolle und lassen dem Leser oder Hörer auch viel Spielraum für Interpretationen und Assoziationen persönlicher Art. So bleiben Klassiker über lange Zeiten aktuell, weil sie Problemsituationen darstellen, in die die Menschen sich trotz veränderter Sitten und Gebräuche immer wieder hineindenken können. Deshalb finden zeitgenössische Interpretationen und Inszenierungen bei Opern und Theaterstücken oft besondere Aufmerksamkeit.

    2.5 Die andere Seite der Freiheit der Gedanken

    Die Freiheit der Gedanken und unsere Kraft zur Erfindung bzw. Deutung zwischenmenschlicher Situationen sind unsere Stärke, die dem Denken in Geschichten zugutekommt, sie führen aber auch zu Effekten, die in anderen Situationen höchst problematisch sein können. Juristen wissen, wie unterschiedlich die Geschichten sein können, die von verschiedenen Personen in Gerichtsverhandlungen über einen Vorfall aufgetischt werden. Man muss kein Psychotherapeut sein, um immer wieder zu hören, wie sich andere Menschen Ereignisse ihres Lebens zurechtlegen und wie sehr ihre Geschichte dann doch von der Wahrnehmung abweicht, die man selbst oder andere erfahren haben. Man selbst tut dieses ja wohl auch mehr oder weniger, meistens mehr als man denkt.

    Das betrifft aber nicht nur die persönlichen Geschichten oder Erfahrungen. Die Geschichte eines Landes wird von Historikern anderer Nationen immer anders erzählt als von einheimischen Historikern – und diese Unterschiede wandeln sich zudem noch mit der Zeit. Aber nicht nur in akademischen Kreisen, auch in der Politik spielt die Geschichte für den Zusammenhalt einer Nation eine bedeutende Rolle, und auch hier kann sie höchst verschieden interpretiert und bewertet werden. Diktaturen legen eine besondere Sorgfalt auf die Erzählung der Geschichte ihres Landes im Sinne ihrer Ideologie. Je besser die Geschichte Gefühle und emotionale Bedürfnisse anspricht, um so weniger fällt es vielen Menschen auf, wenn dabei Fakten verbogen, im Sinne der Ideologie interpretiert oder einfach ignoriert werden. Die heutigen sozialen Medien machen es besonders leicht, durch solche Methoden den politischen Gegner zu verleumden und ein negatives Bild über ihn in vielen Köpfen wachsen zu lassen. Es entsteht dort regelrecht ein Wettbewerb der politischen Systeme um die wirkmächtigsten Narrative. Je weniger geistigen Austausch eine Gruppe oder Gesellschaft mit anderen hat, umso stärker können sich solche Narrative festsetzen, umso einseitiger werden solche Geschichten. Mit „Filterblase oder „Echokammer bezeichnet man heute auch solche Situationen.

    Verschwörungstheorien machen schnell die Runde, weil sie in interessanten Geschichten verpackt sind. Das magische Denken, das in allen von uns noch steckt, ist besonders anfällig für ein Denken in Geschichten, und selbst dort, wo wir bewusst rational denken wollen, kommen wir nicht ohne Geschichten aus. Oft sind wir z. B. auf ein heuristisches Denken angewiesen, also darauf, mit unvollständiger Information ein Urteil zu fällen oder eine praktikable Lösung zu finden. Bei einem solchen Denken, in dem wir Geschichten erinnern und daraufhin Urteile fällen, können wir verschiedensten kognitiven Verzerrungen erliegen, wie die beiden Psychologen Daniel Kahnemann und Amos Tversky in vielen Experimenten untersucht haben (Kahnemann 2002). Wir nehmen oft Kausalzusammenhänge zwischen zwei Ereignissen an, wählen Information so aus oder interpretieren sie so, dass sie unseren eigenen Erwartungen entsprechen. Wir sehen empfundene Gefühle als Beweis an und sind von der Richtigkeit einer Meinung, an die man sich gewöhnt hat, felsenfest überzeugt (Wikipedia: Liste von kognitiven Verzerrungen).

    Eine Unwahrheit, die in einer attraktiven Erzählung verpackt ist, nistet sich leicht in unsere Köpfe ein und ist in der Regel schlecht wieder herauszubringen. Sachliche Dementis helfen da oft nicht. Bei der nächsten Erwähnung dieser „Story erinnert man sich eher an die unwahre Behauptung als an das Dementi. Wirksamer ist eine „Überschreibung der unwahren Behauptung mit einer anderen, ebenfalls interessanten Geschichte, die die unwahre Behauptung absurd erscheinen lässt.

    Eigentlich münden alle geistigen Bemühungen der Menschen in Geschichten bzw. Erzählungen. Ja, selbst über eine physikalische Theorie kann man erzählen, wie auch über ihre Entstehung in der Geschichte der Physik. Unterschiedlich bei allen Erzählungen ist aber, ob sie sich auf Fakten stützen – und wenn dies der Fall ist –, wie „hart im Raume diese stehen, und entscheidend ist schließlich, wie konklusiv die Folgerungen aus der Faktenlage sind. Harte Fakten gibt es „von Natur aus für die Naturwissenschaften . Aber erst, wenn man Folgerungen in Form mathematischer Ableitungen ziehen kann, also in einer formalisierten Sprache argumentieren kann, können logisch streng geordnete Theorien formuliert werden. Auf dieser Ebene kann man dann nicht mehr von einer Erzählung reden.

    Die Geisteswissenschaften sind aber auf die Alltagssprache verwiesen, damit kommt man aus dem Modus der Erzählungen nicht heraus. Besonders radikal thematisierte der französische Philosoph und Literaturkritiker Jean-François Lyotard (1924–1998) dieses Problem der Geisteswissenschaften, als er in einer Studie Das postmoderne Wissen von dem „Ende der großen Erzählungen sprach (Lyotard 1986). Damit hatte er wohl einen Nerv der Zeit getroffen. Die „Postmoderne entstand, in der alle geistigen Strömungen in Philosophie, Religion, Kunst und Gesellschaftstheorien als Erzählungen oder gar Meta-Erzählungen betrachtet werden. Ich werde am Ende dieses Buches das Thema Postmodernismus noch einmal aufgreifen und zeigen, dass dieser Postmodernismus in reiner Form eigentlich den Einsichten nahe war, die man aus der Betrachtung des Denkens in Strukturen ziehen kann. Dafür muss aber erst einmal geklärt werden, um welche Strukturen es dabei geht und wie mit ihnen das Problem der Begründung bzw. Legimitation auf eine neue Ebene gehoben werden kann. Dieses Thema wird in Abschn. 12.​4.​2 weiter ausgeführt.

    2.6 Verführungen durch unsere Umgangssprache

    Die Vorbehalte, die man bei einer Suche nach Erkenntnis gegen die Alltagssprache wegen der Vagheit ihrer Begriffe und der Unübersichtlichkeit bei Schlussfolgerungen hegen kann, sind nicht neu. Schon in der Antike wurden sie geäußert, z. B. im Zusammenhang mit dem Sorites-Problem . Descartes und Leibniz versuchten sich deshalb am Aufbau einer formalen Sprache , immer wieder griffen Denker dieses Problem auf (z. B. Scholz 1961).

    Im Laufe der sprachlichen Entwicklung der Menschen hat sich ein Hang zur Substantivierung, Verdinglichung und Personifizierung ergeben. Offensichtlich lassen sich Phänomene besser einordnen, wenn man sie sich in Form zwischenmenschlicher Situationen vorstellen kann. So wird aus einem Geschehnis, das uns bedroht und verängstigt, erst „das Böse und dann „der Böse – und nicht genug damit, „der

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