Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Assassin's Creed: Der Ming-Sturm
Assassin's Creed: Der Ming-Sturm
Assassin's Creed: Der Ming-Sturm
eBook442 Seiten5 Stunden

Assassin's Creed: Der Ming-Sturm

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die Ming-Dynastie wird zum Schlachtfeld für die Bruderschaft der Assassinen und den Templerorden in diesem Actionroman zu einem bisher unerforschten Teil des beliebten Assassin's-Creed-Universums.
China, das 16. Jahrhundert. Die Assassinen sind fort. Zhang Yong, der unbarmherzige Anführer der Acht Tiger, schlägt aus dem Tod des Kaisers Kapital und eliminiert alle seine Gegner, sodass nun der Templerorden alle Macht inne hat. Shao Jun, die letzte Vertreterin ihres Clans, entkommt nur knapp dem Tod und hat keine andere Wahl, als aus ihrem Heimatland zu fliehen. Sie schwört, ihre einstmaligen Waffenbrüder zu rächen, und reist nach Europa, um vom legendären Ezio Auditore zu lernen. Nach ihrer Rückkehr ins Reich der Mitte reichen ihr Säbel und ihre Entschlossenheit allein nicht aus, um Zhang Yong zu eliminieren: Sie muss Verbündete um sich scharen und sich in den Schatten halten, um die Acht Tiger zu bezwingen.
SpracheDeutsch
HerausgeberCross Cult
Erscheinungsdatum13. Okt. 2021
ISBN9783966586146
Assassin's Creed: Der Ming-Sturm

Ähnlich wie Assassin's Creed

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Assassin's Creed

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Assassin's Creed - Yan Leisheng

    KAPITEL 1

    Die Präfektur von Shaoxing war einst als Kuaiji bekannt. Der Legende nach hatte dort, genauer gesagt in Shaoxing, Kaiser Yu der Große seine Lehnsherren versammelt, nachdem er die Gewässer in der Gegend, die bis dahin unter häufigen Überschwemmungen gelitten hatte, gebändigt hatte. Die historischen Dokumente hielten fest:

    Nachdem er die Überschwemmungen eingedämmt hatte, versammelte Yu der Große seine Lehnsherren, um ihre Leistung zu bewerten. Er starb und wurde an diesem Ort begraben. Und so nahm die Stadt den Namen Kuaiji an, was Versammlung bedeutet.

    Sie war schon immer für ihre Pracht und Kultiviertheit bekannt gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, da waren Studenten aus dem ganzen Land angereist, um an der Universität am Berg Wolong zu studieren, die von Fan Zhongyan, einem großen Politiker und Literaten der Song-Dynastie, gegründet worden war. Später leitete der gefeierte Neokonfuzianer Zhu Xi dort Konferenzen und stärkte den Ruf der Institution als Zentrum der klassischen Gelehrsamkeit, bevor sie unter den Yuan ihr Prestige verlor.

    Zwei Jahre zuvor hatten der Präfekturmagistrat von Shaoxing und der Bezirkskommandant die Einrichtung renoviert und die Halle der Hohen Tugend und den Pavillon der großen Klassiker errichtet. Meister und Studenten versammelten sich in großer Zahl und die neue Jishan-Universität erstrahlte in neuem Glanz, der größer war als je zuvor. Jedes Jahr versammelten sich dort mehr als vierhundert Gelehrte aus den entferntesten südlichen Regionen und den entlegensten Gegenden des Nordens.

    Der Aufseher war ein hagerer alter Mann von sechzig Jahren namens Wu. Seine Aufgabe war es, das Gebäude instand zu halten, aber da er in der berühmtesten Universität der bekannten Welt arbeitete, fühlte er sich auch der Lehre verpflichtet. So studierte er die Vier Bücher und die Fünf Klassiker, obwohl er zur Unterhaltung auch andere Werke genoss.

    Er war gerade in eine neue Fassung von Die Geschichte der drei Reiche von Jiang Daqi vertieft, deren Seiten fast neu waren. Der alte Wu hatte sich bis zum zehnten Kapitel durchgelesen, einem Höhepunkt der Geschichte, wo Zhu Geliang das Komplott von Zhou Yu vereitelt, und war so gefesselt, dass er fast nicht hörte, wie sich ein Besucher zu erkennen gab. Die Jishan-Universität, eine überzeugte Verfechterin der universellen Bildung, öffnete ihre Türen für jeden Studenten, solange er sich auswies. Der Aufseher hob nicht einmal den Kopf, sondern deutete nur auf das Register neben sich.

    »Unterschreibt hier«, sagte er einfach.

    Das Kratzen der Feder auf dem Papier drang an sein Ohr. Er legte den Finger auf die Stelle »Pfeile mit Booten aus Stroh erbeuten«¹ und hob schließlich den Kopf, um zu fragen: »Welchen Meister sucht Ihr?«

    Doch da war niemand. Hatte er sich das eingebildet? Um sich zu beruhigen, sah er ins Register und fand dort einige Worte in feiner Schrift geschrieben: Suche einen Freund.

    Die meisten Studenten schrieben einfach ihren Namen in das Register, da ihre handschriftlichen Unterschriften kompliziert und oft unleserlich waren, um Fälschungen zu verhindern. Wu fragte sich, warum dieser mysteriöse Besucher seine Identität vor ihm geheim gehalten hatte, aber er war nicht neugierig genug, um im Inneren der Gebäude zu suchen. Er verfluchte die hinterhältigen Kinder, die oft kamen, um ihm Streiche zu spielen, und wandte sich dann wieder den Rivalitäten von Zhu Geliang und Zhou Yu zu.

    Der alte Aufseher wusste natürlich nicht, dass es sich um den Geheimcode der Bruderschaft der Zentralebene handelte. Gegründet von Wei Yu – dem Mann, der den ersten Kaiser von China ermordet hatte – war diese weltliche Organisation, deren Name sich viele Male geändert hatte, so subtil wie ein Windhauch. Ihre Mitglieder waren so zahlreich und ihre Operationen so geheim, dass sie sich manchmal in der Gegenwart des anderen aufhalten konnten, ohne es zu ahnen. Um der Fehlbarkeit von Decknamen entgegenzuwirken, die zu leicht aufgedeckt werden konnten, hatte ein alter Meister die geniale Idee dieser verschlüsselten Signaturen gehabt. Die Leute waren oft fasziniert von diesen scheinbar nicht nachvollziehbaren Phrasen, von denen jede eine Bedeutung hatte, die neue Mitglieder bei ihrer Initiation lernten.

    Shao Jun war diejenige, die sich gerade in die Matrikel eingetragen hatte, aber statt die Gebäude zu betreten, kletterte sie auf einen Baum an der Nordseite des Berges Wolong, von dem aus sie die Universität gut beobachten konnte. Damit befolgte sie die letzten Anweisungen, die man ihr kurz vor dem Tod ihres Meisters gegeben hatte.

    Würde der letzte Mentor der Bruderschaft wirklich nach ihr suchen?

    Schließlich gab es keine Garantie, dass er den Acht Tigern entkommen war. Sie hatte es zwar mit ihrem Meister nach Europa geschafft, aber er war in Venedig getötet worden und ohne Ezio Auditore wäre sie in Florenz verloren gewesen.

    Das Geräusch von Flügeln störte die nächtliche Stille. In der Dunkelheit konnte sie nicht erkennen, was für ein Vogel es war. In ihren Mantel gehüllt wurde sie eins mit der Nacht, bis sie fast unsichtbar war.

    Wohin sollte sie jetzt gehen?

    Sie erinnerte sich, als es sei es gestern gewesen, an den Frühlingstag im kaiserlichen Harem, an dem sie von dem Mentor, den sie heute Abend zu treffen hoffte, rekrutiert worden war. Nach dem brutalen Tod des Kaisers hatte Chaos im Palast geherrscht, alle Ausgänge waren versiegelt worden und die junge Konkubine Shao Jun war völlig verwirrt. Obwohl sie im Harem eingesperrt gewesen war, hatte sie ein einfaches, glückliches Leben geführt. Zhengde hatte sie als Spielgefährtin betrachtet und sie oft mitgenommen, um den Würdenträgern Streiche zu spielen oder die Eunuchen zu necken. Die von Onkel Zhang ausgebrütete Verschwörung wurde erst später aufgedeckt und auch sie wäre ausgelöscht worden, wenn der Mentor nicht eingegriffen hätte. Er hatte sie in die Bruderschaft eingeführt und ihr Stiefel mit versteckten Dolchen gegeben. Dann vertraute er sie Zhu Jiuyuan an, bevor er verschwand. Sie wusste nichts über seine Identität oder seine Beweggründe und noch weniger über seine derzeitige Situation, vorausgesetzt, er war überhaupt noch am Leben.

    Meister Zhu war nach Italien geflohen, um Zhangs wachsendem Einfluss zu entgehen, aber der Eunuch hatte ihn mit seiner schier grenzenlosen Reichweite aufgespürt. In China hatte er alle Mitglieder der Bruderschaft der Zentralebene überwältigt … bis auf den Mentor.

    Als Zhu ihr mit seinem letzten Atemzug mitgeteilt hatte, dass der Mentor noch lebte, glaubte Shao Jun, Hoffnung gefunden zu haben, die den Weg aus der Dunkelheit erhellen würde. Es würde mehr als nur ein Streichholz brauchen, um die Glut wieder zu entfachen, aber mit dem Mentor hätte sie vielleicht eine Chance, die Bruderschaft wieder aufzubauen.

    Das Laub zu ihrer Linken bebte fast unmerklich, ein Detail, das ihr entgangen wäre, wenn die Nacht nicht so ruhig gewesen wäre.

    »Meister, seid Ihr das?«, wagte sie heiser zu fragen.

    Ein kalter Schimmer blitzte ihr plötzlich entgegen, wie ein Licht. Wie …

    … ein Schwert!

    Shao Jun zog blitzschnell ihre Waffe. Jeder, der unbemerkt so nah herankommen konnte, musste gefährlich sein. Als er sprang, erriet sie anhand seiner Bewegungen, dass er zwar kein Mitglied der Acht Tiger war, aber zumindest einer von Zhang Yongs Handlangern.

    Sein Schwert schwang mit unglaublicher Geschwindigkeit an ihren Füßen vorbei. Der Ast, auf dem sie stand, brach plötzlich durch. Sie wäre von ihrem Ast gefallen, hätte sie nicht bereits einen anderen unter sich erspäht. Mit einem Zweifingergriff nahm sie Schwung, katapultierte sich in die Luft und ergriff mit einer Pirouette einen höher liegenden Ast.

    Shao Jun war schnell, aber ihr Angreifer war schneller. Nachdem er den ersten Ast abgeschlagen hatte, trennte er schnell den zweiten ab, auf dem sie gerade gelandet war, und begann, mit weiten Schlägen die Luft zu durchschneiden. Da ihre Beine in Gefahr waren, hatte Shao Jun keine Zeit, ihr Gleichgewicht wiederzufinden.

    Als er merkte, dass er die Oberhand hatte, lachte der Mann. Er hatte den Befehl, Shao Jun zu folgen und sie nicht zu töten, aber da er entdeckt worden war, fand er es gerechtfertigt, sie zu verletzen. Er fragte sich grausam, ob sie den Verlust beider Beine überleben würde. Aber während die Klinge durch die Nacht in alle Richtungen blitzte, schnitt sie weit mehr Rinde als Fleisch.

    Holzspäne flogen. Die Klinge streifte an Shao Juns Füßen vorbei und bohrte sich in den Baumstamm wie ein Messer in Butter. Einen Moment lang blieb sie dort stecken, eine Gelegenheit, die die junge Frau schnell ausnutzte, um ihr eigenes Schwert auf den Mann zu richten. Er reagierte mit erschreckender Geschwindigkeit und zog mit Mittel- und Zeigefinger den in seinem Ärmel verborgenen Dolch. Sie wich davor zurück wie ein kleines Tier und er parierte ihren Schlag in letzter Sekunde mit einem metallischen Klirren. Seine verzweifelte Abwehrbewegung, hastig und auf unsicherem Boden ausgeführt, ließ ihn vom Baum stürzen.

    Wie ein Schachspieler, der gerade einen Fehler in einem Schlüsselspiel gemacht hatte, war er gezwungen, seine Strategie neu zu bewerten. Ohne sein Schwert und mit einer Gegnerin, die ihm vom Baum aus drohte, wäre der Versuch, sie zu erreichen, einem Selbstmord gleichgekommen. Es war besser, mit den Füßen auf festem Boden zu bleiben und auf die Gelegenheiten zu warten, die sich bieten würden, wenn sie herunterkam. Er zog eine Klinge aus seinem linken Ärmel, bereit, seine beiden Dolche zu benutzen. Er hoffte, den nächsten Schlag mit dem einen Dolch zu parieren und dann sofort mit dem zweiten zuzustoßen. Das war seine einzige Chance, zu gewinnen.

    Die Klingen prallten aufeinander. Shao Jun schwang ihr Schwert mit ungewöhnlicher Kraft, aber der Mann war zu sehr mit der Suche nach einer Gelegenheit beschäftigt, seinen linken Dolch zwischen ihre Rippen zu stoßen, um darüber nachzudenken. Er hatte ihr genug Platz gelassen, um auf den Boden zu springen, aber sie schien ihren Baum nicht verlassen zu wollen.

    »Stirb, Hure!«, stieß er mühsam hervor. Obwohl Shao Jun geschickter war, als er es sich vorgestellt hatte, hatte sie ihre Grenzen. Sie würde nicht die Oberhand gewinnen können, solange er auf dem Boden und sie oben im Baum blieb. Um ehrlich zu sein, dachte er sogar, er könne seinen Dolch jeden Moment zwischen ihre Schulterblätter stoßen.

    Doch er war es, der einen scharfen Schmerz in seiner linken Schulter spürte, wo das Schwert der jungen Frau gerade mit unerwarteter Geschwindigkeit einen Treffer gelandet hatte. Obwohl die Wunde nicht tödlich war, hinderte sie ihn daran, seinen Arm zu benutzen. Unfähig, sich zu schützen oder auf dieser Seite anzugreifen, biss er die Zähne zusammen, wich aber nicht zurück.

    Der Kampf war für ihn nun aussichtslos geworden. Im Bewusstsein, dass er auf einer Seite wehrlos war, beschloss er, alles in einen letzten entscheidenden Angriff zu legen. Wie ein altes Sprichwort sagte: »Wenn die gegnerischen Kräfte dir ebenbürtig sind, macht der Mut den Unterschied.« Der wütende Mann war bereit, alles auf diesen Gedanken zu setzen. Seine absolute Konzentration erlaubte es ihm, seine Wunde zu ignorieren und nur an eines zu denken: seinen Gegner zu töten. Er sprang geradewegs nach oben zu Shao Jun, um seine Waffe in ihr Herz zu stoßen, doch der Hieb ging ins Leere.

    Unmöglich! Er fluchte. Die junge Frau flog durch die Luft wie ein übernatürlicher Geist.

    »Aah!«, schrie er, als seine rechte Schulter den Kuss des Stahls spürte. Nun völlig außer Gefecht gesetzt, taumelte er zwei Schritte zurück, unfähig, sich sicher auf den Beinen zu halten. Sein Gesicht war eine Mischung aus Entschlossenheit und sinnloser Wut.

    Shao Jun glitt federleicht zum Fuß des Baumes. Obwohl sie ein paar Sekunden zuvor noch in der Luft zu schweben schien, war es keine Magie, sondern das Seil des Wurfpfeils, den ihr der ehemalige Kaiser Zhengde gegeben hatte, als er sie ins Leopardenviertel geschickt hatte. Es war mehrere Meter lang, weich wie Seide und ebenso dünn und haltbar und konnte ein Gewicht von bis zu zweihundert Pfund tragen. Die junge Frau verwendete den Wurfpfeil jetzt schon so lange, dass er für sie wie eine Verlängerung ihres Arms war. Als der Mann zum Angriff ansetzte, hatte sie ihn bereits in einem hohen Ast verankert, wodurch sie die Oberhand gewinnen konnte. Ihr beeindruckender Gegner war keine Bedrohung mehr.

    Sie zögerte, ihn zu töten. Seit Zhu Jiuyuans Tod hatte sie schon viele Leben genommen, aber die Verwundbarkeit des Raubtiers, das nun zu ihrer Beute geworden war, bereitete ihr Unbehagen. Er hatte dagegen keine solchen Skrupel und machte sich aus dem Staub.

    Shao Jun konnte ihn nicht entkommen lassen. Sie sprang vorwärts und fing ihn ab, wobei sie ihm halbherzig ihr Schwert in den Rücken stieß. Die Spitze der Klinge durchschlug die Schulter des Mannes, sodass er stolperte und zum Fuß eines Kampferbaums rollte. Sie schickte sich an, ihn zu erledigen, da erregte ein Lichtblitz von der anderen Seite des Baumes ihre Aufmerksamkeit.

    Ein zweiter Angreifer hatte auf den richtigen Moment gewartet, um zuzuschlagen, völlig gleichgültig gegenüber dem Schicksal seines Komplizen. Er nutzte das Überraschungsmoment, um Shao Jun anzugreifen, wodurch sie gezwungen wurde, von dem Mann am Boden abzulassen.

    Trotz ihrer ungewöhnlichen Beweglichkeit war es zu spät, um der Reichweite des Schwertes des Angreifers zu entkommen. Ihr blieb nur, ihren Körper fast unmenschlich zu verbiegen, um von dem hinterhältigen Angriff nicht in zwei Teile geschnitten zu werden. Kalter Schweiß überzog ihren Rücken.

    Es war nicht das erste Mal, dass sie es mit Mördern zu tun hatte, die von den Acht Tigern angeheuert worden waren. Derjenige, der Meister Zhu in Venedig getötet hatte, war ihr nach Florenz gefolgt und hätte auch sie getötet, wenn sie nicht von Ezio Auditore ausgebildet worden wäre. Der Mann vor ihr schien noch geschickter zu sein. Wenn er sie erreichte, war sie erledigt. Die Klinge streifte ihre Taille und Shao Jun hatte das Gefühl, als verlangsame sich die Zeit: Der Wind wehte leiser, ein Blatt stand reglos in der Luft, ein diffuses Licht erschien plötzlich und ein Schwert tauchte wie aus dem Nichts auf, um den Schlag abzufangen, der sie entzweigeschnitten hätte.

    Die junge Frau hörte den Aufprall der Klingen nicht, aber sie sah die Funken, die bei ihrem Zusammentreffen sprühten. Sie nutzte die kurze Verschnaufpause und trat einige Schritte zurück, um zu Atem zu kommen. Die beiden Silhouetten tauschten mehrere Sekunden lang krachende Schläge aus, dann hörte plötzlich alles auf.

    Sie kam wieder zu Atem und sowohl sie als auch der Mann, den sie verletzt hatte, waren wie gebannt von dem schattenhaften Duell. Die Gesichter waren in der Dunkelheit nicht zu erkennen, aber derjenige, der sich hinter dem Baum versteckt hatte, war der kleinere der beiden. In der Verwirrung fühlte sie sich an einen Kampf zwischen einem Engel und einem Dämon erinnert.

    Der Angreifer der Acht Tiger brach zusammen und wurde ohne viel Aufhebens erledigt. Shao Jun konnte endlich aufatmen. Von Angst gepackt rappelte sich der Verletzte auf, um seine irre Flucht fortzusetzen. Sein Fluchtversuch wurde jedoch von einem für das Auge kaum wahrnehmbaren Schlag vereitelt und er fiel zu Boden. Als er die Erde berührte, funkelte ein Licht in seiner Hand und schoss in den Himmel, bevor es in tausend Funken explodierte.

    Ein Feuerwerk!

    Shao Jun spürte, wie ihr Herz stehen blieb. Der Mann, der sie gerettet hatte, zog sein Schwert aus dem Körper unter dem Baum und wischte es an der Kleidung des toten Mannes ab, bevor er sich der jungen Frau zuwandte. »Kaiserliche Favoritin, Gao Fengs Männer werden bald mit Verstärkung eintreffen. Mir nach!«, sagte er leise.

    Gao Feng war einer der toten Männer? Doch diese Fragen würden erst einmal warten müssen. Ein kleiner Trupp von Männern kletterte den Abhang am Fuße des Berges hinauf, wo eine Lichterkette funkelte. Shao Jun folgte dem Fremden schnell in die entgegengesetzte Richtung, in den dichten Wald des Wolong, durch den es keine Wege gab.

    Dann traf es sie wie ein Blitz. Er … er war es! Der Mentor! Derjenige, der sie in die Bruderschaft eingeführt hatte!

    Seine Stimme war älter, aber sie klang wie die, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte. Und er hatte sie »kaiserliche Favoritin« genannt, genau wie der alte Kaiser, obwohl der Titel offiziell mit ihm gestorben war. Sie war gerührt und aufgeregt zugleich. Es war der Mentor, der sie gerettet hatte, als sie noch eine Jugendliche war, der sie in die Bruderschaft eingeführt hatte, ohne ihr jemals sein Gesicht zu zeigen oder seine Identität preiszugeben. Seitdem hatte sie ihn nicht mehr gesehen und sogar daran gezweifelt, dass er noch lebte, als sie den Geheimcode in die Matrikel der Universität geschrieben hatte. Und doch war er gekommen. Shao Jun fühlte sich, als hätte sie nach einer Ewigkeit auf See endlich Land erreicht.

    Ihr Weg führte sie zu einer Lichtung, in deren Mitte sich eine große Lärchenkiefer mit dichten Ästen erhob.

    »Junges Mädchen, wir können hier ohne Sorge einen Moment ausruhen. Sie werden uns hier nicht finden«, erklärte er mit leiser Stimme.

    Shao Jun schob sich durch das Blattwerk und fand eine aus verschlungenen Ästen gebildete Grotte, die das Mond- und Sternenlicht nicht erreichte. Sie ging weiter hinein und verbeugte sich, mit einem Knie auf der Erde und der linken Hand auf ihrer Brust. »Meister, bitte nennt mich kleine Schwester, wie früher.«

    So zeigten die jungen Rekruten der Bruderschaft ihren Respekt vor den Älteren. Als er sie aus den Klauen der Acht Tiger gerettet hatte, war sie kaum mehr als ein Kind gewesen, daher war dieser Spitzname nur natürlich.

    Eine Flamme loderte in der Dunkelheit auf, als der Mentor ein kleines Feuer anzündete, in dessen Licht Shao Jun ein schlankes Gesicht mit einem spitzen Bart erkennen konnte. Er sah sie an und lachte liebevoll. »Du bist erwachsen geworden, also ziehe ich es vor, dich ›junges Mädchen‹ zu nennen. Du weißt, dass wir in der Bruderschaft nicht viel Wert auf offizielle Ränge legen, also kannst du mich einfach Yangming nennen.«

    Shao Jun zitterte. Yangming? Dieser ziemlich gewöhnliche Name traf sie wie ein Schlag.

    Als sie ihr zurückgezogenes Leben in den Tiefen der Verbotenen Stadt gelebt hatte, hatte sie Gerüchte über einen Yangming gehört. Aber sie konnte nicht sicher sein, dass diese Person mit der Bruderschaft in Verbindung gestanden hatte, es konnte auch nichts weiter als Zufall sein.

    Der Mentor selbst beantwortete ihre stumme Frage. »Ich bin auch als Wang Shouren bekannt. Junges Mädchen, die letzten zwei Jahre müssen schwierig gewesen sein.«

    Als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, war sie kaum vierzehn Jahre alt gewesen. Zwei Jahre später hatte der Tod des Kaisers den Palast in ein völliges Chaos gestürzt, er war verschwunden und hatte sie in der Obhut von Meister Zhu zurückgelassen. In den fünf Jahren, die seither vergangen waren, war sie ans andere Ende der Welt gereist und hatte immense Herausforderungen gemeistert, die ihre Kindheit in die hintersten Winkel ihres Geistes verdrängt hatten. Es schien, als sei sie seit der Nacht, in der Meister Zhu ermordet worden war, um ein ganzes Jahrzehnt gealtert, was ihrer jugendlichen Unschuld ein Ende gesetzt hatte.

    »Mentor, wie seid Ihr der Bruderschaft beigetreten?«, fragte sie zögernd.

    Hätte er nicht vor ihr gestanden, hätte sie nicht geglaubt, dass er noch lebte. Aber jetzt war er da und sie versuchte, einige Fragen zu beantworten, die sie seit ihrer ersten Begegnung verfolgten.

    Das Feuer erlosch. In der Dunkelheit hörte sie, wie Meister Yangming einige Schritte machte.

    »Ich werde dir alles erzählen, wenn es so weit ist. Zuerst müssen wir einen sicheren Ort für die Nacht finden.« Er sah zum Himmel. »Junges Mädchen, Zhang Yong hat dich jetzt im Visier. Was hast du vor?«

    »Er wird sicher Männer hinter mir herschicken. Ich muss so schnell wie möglich weg.« Sie hielt einen Moment inne und fügte hinzu: »Ich muss in die Hauptstadt zurückkehren.«

    1Eine berühmte Passage aus Die Geschichte der drei Reiche, die von einer der genialen Strategien Zhu Geliangs berichtet, bei der er, statt Pfeile zur Verteidigung seines verwüsteten Landes herzustellen, Boote aus Stroh vor den Feind schickt, wo sie Tausende von feindlichen Pfeilen aufnehmen, die er dann einsammelt, um sie bei seinem Angriff zu verwenden. Der moderne Ausdruck »Pfeile mit Booten aus Stroh erbeuten« kann also bedeuten: »Die Ressourcen des Feindes gegen ihn verwenden.«

    KAPITEL 2

    Yu Dayong, der Gouverneur von Nanjing, erzitterte beim Anblick der Leiche auf dem Tisch.

    Es war Gao Feng, Aufseher des Kaiserhofs und Leiter des Ministeriums für öffentliche Arbeiten². Was noch wichtiger war: Er war auch der Schüler des einflussreichsten Mannes im Reich, Zhang Yong, gewesen und hatte diesen höchst beneidenswerten Rang erklommen, obwohl er erst vierunddreißig Jahre alt war. Der alte Meister hatte viel mehr Vertrauen in diesen »Kleinen Teufel« als in Yu Dayong. Aber jetzt war sein Mitschüler nicht mehr als ein lebloser Körper.

    Der Gouverneur schwankte zwischen Freude und Traurigkeit. Als Mitglied der Acht Tiger sollte er wie ein Bruder trauern. Andererseits konnte der frühe Verlust eines so bedeutenden Rivalen nur zu seinen Gunsten sein, vor allem, wenn er nachweislich keine Rolle dabei gespielt hatte. Gao Feng hatte sich entschieden, allein zu handeln – entgegen den Befehlen, die sie erhalten hatten. Er hatte seinen Gegner unterschätzt und dafür mit seinem Leben bezahlt.

    »Onkel Yu!«, rief Mai Bing von der Tür her.

    Der Eunuch hatte ihm jahrelang gedient. Noch jung im Geiste begriff er sofort, dass sein wankelmütiger und opportunistischer Meister die Situation ausnutzen wollte, um sich in Zhang Yongs Gunst einzuschleichen.

    »Was gibt es, Mai Bing?«

    »Onkel Zhang ist hier«, antwortete er mit leiser Stimme.

    »Welcher Onkel Zhang?«

    Yu Dayong hatte schockiert reagiert, aber Mai Bings panische Miene ließ keinen Zweifel aufkommen: Es gab nur einen Onkel Zhang. Überrumpelt öffnete er eilig die Tür und erblickte eine große Sänfte, die von vierundzwanzig Soldaten getragen wurde. Der Gouverneur rannte hinaus und warf sich bäuchlings nieder. »Euer bescheidener Untergebener, Yu Dayong, begrüßt ehrerbietig den Generalhauptmann.«

    China hatte schon immer Eunuchen in Machtpositionen gehabt, aber Zhang Yong war Generalhauptmann von zwölf kaiserlichen Wachbataillonen, die mit dem Schutz der Hauptstadt betraut waren. Als Oberkommandierender von hunderttausend Soldaten in der größten nationalen Streitmacht war er zweifellos der mächtigste Mann, den das Land je gekannt hatte. Seine Sänfte hatte dreimal so viele Träger wie die von hochrangigen Verwaltungsbeamten, und das aus gutem Grund: Beladen mit Betten, Liegen und Tischen war sie eine Zurschaustellung von Luxus, die überall, wo er hinging, unverkennbar

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1