Dandys
Von Gesche Blume
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Dandys - Gesche Blume
Langeweile ist blau
Langeweile ist blau. Man kann sie in der Mitte tranchieren, gleich einem Backhähnchen, am besten mit einem spitzen, frisch geschliffenen Messer. Je nach Jahreszeit und Witterung haben die Eingeweide der blauen Langeweile eine andere Beschaffenheit. Im Winter kriechen die Würmer etwas weiter unter die Erde, in ein oder zwei Metern Tiefe überwintern sie. Für jede Frau, die er in seinen kalten Betten liebte, entzündet Didier eine Kerze, die lässt er solange brennen, bis sie von selbst erlischt. Im Haus klebt der Fußboden vom Kerzenwachs, die Geisterstädte eines Bienenstaates bedecken die Fensterbänke. Manchmal steht eine Frau hinter ihm, während er sich an dem steinharten Boden zu schaffen macht, er dreht sich herum, ihr Gesicht ist hell im Winternebel, denn in dem alten Park erscheinen die Gesichter aller Frauen gleich. Ihre Stimmen sind ein Chorgesang. „Erinnerst du dich noch an unser altes Glück", singen sie, und er antwortet, warum. Warum willst du mich daran erinnern. Es ist eine weiche, unsittliche Berührung. Didier hat seine Erinnerungen längst tranchiert. Frauen lebten mit ihm unter einem Dach, und er hat die meisten von ihnen schon vergessen. Auch die Frauen vergaßen schnell, nur manchmal fragten sie Didier etwas. Manchmal, wenn das Jahr zu spät kalt wurde und es noch im April schneite.
Didier friert. Er friert oft, seit er in dem alten Elternhaus lebt. Dabei war er nie zuvor von solch blendender Weiblichkeit umhüllt. Wie ein Baby nach dem Bad hüllen die Frauen ihn ein und er fühlt sich schön. Schön wie ein wieder junger, degenerierter Aristokrat, der in seinen Gemächern eine längst verflossene Geliebte empfängt. Einen Moment hält er inne. Er kann von hier auf die steinerne Terrasse des Hauses sehen, die jetzt mit Schnee bedeckt ist. Für einige Sekunden scheint auf dem runden, in der Ecke vergessenen Tisch das verrostete Metall unter einer schweren Decke Schnee aufzuleuchten. Didier erinnert sich, diesmal nicht widerwillig. Jemand im Haus wird eine Mahlzeit zubereitet haben, damit er nicht noch dünner wird. Die Frauen, denen er das achtstündige Brennen einer Kerze widmet. Doch er weiß, dass dies schon lange nicht mehr stimmt. Als Emma noch lebte, hatte er niemals die dunklen Krawatten angelegt. Er folgte den Marotten einer Frau, die nur helle Farben an ihm mochte. Als Emma starb, verlor er vorübergehend seine Manneskraft und erschien danach komplett in Schwarz. Die kurzen Affären, die Emma später noch nachfolgten, waren so beeindruckt von seiner ernsten Garderobe, dass er sich hütete, von ihr Abschied zu nehmen.
Nur die Angestellte, die ihm täglich das Essen bringt, kommt jetzt noch zu ihm. Didier verbietet seiner Putzfrau, die Gegenstände vom erkalteten Wachs zu reinigen, doch akkurat um sie herum liegt frischer Glanz.
Frühzeitig, weiß Didier, wurde er in Beschlag genommen. „Didier, mein Junge, steh auf und sag deiner Mutter, dass ihr die Brille gut steht. Didier, Lieber, schau, der neue Hut." Streifen Sonne fuhren wie Scanner über Didiers Gesicht. Bitte, lass die Sonnenstreifen Trosttropfen sein. Man war so nackt, wenn die Mutter im Zimmer stand, die Vorhänge auseinanderzog und den Schlaf in den Hintern trat. Mutter hatte das Baby gewaschen, in weiße, flauschige Tücher gewickelt. Der Geruch von Kamille und Rosmarin lag über ihm. Später wurde er ein schöner Mann.
Dr. Brünner hat ihm geraten, sich noch regelmäßiger untersuchen zu lassen. „Es ist notwendig, sagt er betont, „dass Sie alle drei Wochen wiederkommen. Sie haben ein schwaches Herz, und wenn Sie es so weiter treiben, (er hatte tatsächlich weiter treiben gesagt) riskieren Sie einen verfrühten Tod.
Ein verfrühter Tod. Selbst beim Blick auf die wechselhaften und leeren Wolken, die den Aprilschnee bringen, ein Risiko spüren. Den bald schon wässrigen Schnee riechen dürfen. Didier sinniert über den Satz des Arztes. Er hat ihn nicht allein auf Didier bezogen, sondern auch auf seine Lebensweise. Nicht nur auf seinen Körper und seine Verfassung. Didier schätzt den Körper – doch er liebt ihn nicht. Und er hasst ihn nicht. Der Tod hat für Didier dieselbe Farbe wie die Langeweile, wie Seifenblasen. Vom Schaumbad angefangen bis zu den weißen Tabletten ist der Tod etwas, das seine Vorstellung weitet, über den Körper hinaus das Materielle und Immaterielle einschließt. Warum also soll er ihn nicht riskieren. Didier entfaltet auf dem Hintergrund der blauen Langeweile ein Tableau aus Sinfonien und Chorälen, ein Lichtmeer aus Kerzen.
Bald nach der Mutter erschien seine Schwester Merlinde. Deren Bett hatte eines Nachmittags gebrannt. Merlinde hatte Glück, sie war draußen und schlief in dieser Nacht bei einer Freundin, hatte Bettzeug und Matratze von dem Holzgerüst gezogen und gesagt, ohne das würde sie nicht gehen. Die Eltern hatten die Aufsicht der Großmutter übertragen. Die hielt Sportlichkeit und Strategiespiele bei ihren Enkeln für angebracht. Draußen im Garten hatten die Temperaturen bis zum Mittag dreißig Grad erreicht. Die Häuser waren weit auseinander gebaut. Dazwischen hatten die Weizen- und Zuckerrübenfelder das Regiment. Am Himmel, der einer straffgezogenen Zudecke glich, klebte eine Sonne in der Mitte wie auf Merlindes Zeichnungen. Die Sonne lachte und hatte Strahlen. Die Großmutter zog die Vorhänge zu. Didier wollte nicht mit den achtjährigen Mädchen im Badeteich schwimmen, er wollte nicht der einzige Junge in einer blondbezopften Schar sein. „Du bist ein Sonnenverweigerer, sagte die Großmutter und setzte die Hausarbeit fort. „Dein Großvater war ein Sportsmann. Geturnt hat er im Turnverein. Und du hast dünne Arme und Alabasterhaut. Keinen Klimmzug schaffst du damit. Eigentlich müsste dein Vater dich auf den Sportplatz scheuchen. Aber der amüsiert sich lieber mit deiner Mutter in der Stadt.
Didier schloss die Tür. Seine Stärke waren Strategiespiele. Die Großmutter würde schon bald wieder nach ihm rufen, weil sie eine Partie starten wollte. In seinem Zimmer war es kühl, die Sonne schien nur in den frühen Morgenstunden herein. Ein wenig abgestanden war die Luft. Didier sah seine Regale nach einer Lektüre durch. Fand die Figuren vom Bleigießen an Silvester. Schüttelte Tannennadeln aus umgeklappten Heften. Groschenlektüre, hatte die Großmutter das genannt. Didier gab ihr Recht und suchte sie nach einem bestimmten System heraus, um dann immer wieder darin zu lesen. Die Tannennadeln verbreiteten einen blassen Geruch. Die Bleifiguren polterten auf den Boden und zeigten Didier die bizarre Strenge des Zufalls beim schnellen Sinken der Temperatur. Er ging zu seinem Schreibtisch. Man müsste die Formen erklären, bezeichnen und kategorisieren. Ein Modell entwerfen. Draußen schwammen die Mädchen und kreischten, Didier hörte es durch die geschlossenen Fenster. Sie kreischten, auch ohne dass Didier ihre Köpfe unter die Wasseroberfläche tunkte, auch ohne, dass er sie mit Wasserbomben bewarf. Didier entschied sich, Weihnachten zu spielen. Ein Weihnachten mitten im Sommer, mit der Hitze von Kerzen, dem Geruch von Tannen und Weihrauch und trockenen Holzscheiten. Er saß an seinem Tisch vor dem aufgeschlagenen Buch und hoffte, das Spiel durchführen zu können, solange er allein war. Er rannte ins Bad und schloss sich ein. Die Großmutter wischte unten den großen Wohnraum und würde nicht herauf in die Kinderetage kommen. Didier bearbeitete sein Gesicht gründlich und rieb sich mit Vaters Rasierwasser die Hände ein. Das roch nach Tannenzapfen. Er baute in Gedanken das Zimmer um. Versuchte, die Größe zu errechnen, die der Weihnachtsbaum haben müsste, damit er sein Zimmer maßstabsgetreu zum Wohnzimmer der Eltern füllen würde. Es gelang ihm auch nach einiger Mühe nicht. Er hatte in das Rechenbuch geschaut, das er nach den Ferien würde nutzen dürfen. Doch im Moment gab es niemanden, der ihm half. Didier stand auf und ging in das Zimmer