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Die Nummer
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eBook814 Seiten13 Stunden

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Über dieses E-Book

Alles begann als Frank Anderson nach einer anstrengenden Nachtschicht beim Nachhauseweg sich verlief.

"danach war nichts mehr so wie es war"

Auf der Suche nach sich selbst erlebt Frank schier unglaubliches. Er findet Freunde, Gefährten, Feinde und die grosse Liebe.

Realität und Fiktion, Zukunft und Vergangenheit vermischen sich in einer noch nie dargelegten Art und Weise.

Entdecke Franks Welt und lass dich begeistern von einer sagenhaften Umgebung in der du die Hitze der Sonne an deinem Gesicht spüren kannst.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum28. Jan. 2017
ISBN9783741887468
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    Buchvorschau

    Die Nummer - Ernesto Valguarnera

    Die Nummer Solo Kapitel

    Titel Seite

    Ich widme dieses Buch an all diejenigen

    die an mich geglaubt haben und an all diejenige

    die es nicht geschafft haben mich vom Träumen abzuhalten...

    für Lea, Lara und Anika...

    ...die Lichter meines Lebens

    Vorwort

    Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser. Zu Beginn dieses Buches hatte ich ein Gefühl in meinem Bauch. Ich wollte etwas schreiben, das bei ihnen die ganze Vorstellungskraft beansprucht. Ich möchte sie mitreissen und mitreisen lassen in eine Welt die Anders ist, in meine Welt. Die Charaktere die sie in diesem Buch vorfinden sind sympathisch wie auch teils grausam, sie sind barmherzig wie auch teils gnadenlos, wie es eigentlich in unserer Realität tagtäglich vorkommt. Ich möchte sie auf eine Reise mitnehmen, von der sie zu Beginn der Geschichte noch nicht ganz genau Wissen wo sie Enden wird. Ich möchte sie mitnehmen auf eine Reise von der sie danach sagen können „Ich konnte die Wiese riechen". In diesem Sinne wünsche ich ihnen viel Spass beim Lesen.

    Und vergessen sie nicht „Unendlich ist nur die Zeit"

    Valguarnera Ernesto

    Kapitel 1: Prolog

    1

    Frank war auf dem Weg nach Hause. Er hatte seine Nachtschicht beendet und war froh, endlich ins Wochenende starten zu können – wie immer zu Fuss, wie immer alleine. „Gott, bin ich froh aus den Laden zu sein, ich weiss nicht, wie lange ich das noch aushalten kann", dachte Frank. Er marschierte durch die Nacht und atmete die Luft seiner Stadt ein. Er genoss diese Zeit am Morgen. Niemand auf den Strassen, kein lärmender Verkehr, keine Menschen, noch sonst wer. Höchstens am Wochenende ein paar Besoffene oder Möchtegern-Machos mit ihren dicken schnellen Fahrzeugen auf den Strassen, aber sonst war meistens Ruhe. Wie auch diese Nacht hielt er kurz im Sunset Park an und schaute in den kleinen See. Der Mond spiegelte sich im Wasser. Früher stand er oft mit seiner Frau hier, die ihn jeden Morgen abholen kam. Im Sommer sassen sie auf der kleinen Holzbank nahe beim See, assen, tranken, schwatzten, küssten sich. Aber heute war das Schnee von gestern. Niemand holte Frank ab und niemand scherte sich einen Dreck um ihn. Seine Frau hatte ihn vor drei Jahren verlassen. Sie nahm alles mit, seine Kinder, das Auto und den gesamten Hausrat. „Mein Anwalt wird sich mit dir in Verbindung setzen, du Niete!", rief sie ihm lachend aus dem Wagenfenster zu und war von da an nicht mehr gesehen. „Besuchsrecht, Besuchsrecht, wen soll ich denn besuchen? sprach Frank leise und schaute mit leerem Blick ins Wasser. Er seufzte leise und lief weiter. Früher nahm er ein Strandtuch mit und legte sich mit seiner Frau nach der Arbeit auf die Wiese des Parks, sie schliefen bis in den frühen Morgen, gingen danach frühstücken. Heute legte sich Frank mit niemandem mehr auf den Rasen. Er versuchte nicht ständig daran zu denken, dass er monatlich mehr als die Hälfte des Lohnes an seine Exfrau abgeben musste. „Bildung ist halt teuer, knurrte Frank in seinen Fünf-Tage-Bart. Seit der Scheidung war alles anders. Er hatte das Gefühl, missbraucht, betrogen und hintergangen worden zu sein. Frank war sich bewusst, dass er nicht mehr der Gleiche war wie dazumal. Ändern konnte er daran nichts. Die Hoffnung an ein besseres Leben hatte er bereits vor einiger Zeit verloren, er quälte sich Tag ein, Tag aus immer mit der gleichen Routine. Er versuchte nicht an die Whiskyflasche, noch an den Revolver zu denken, die er beide zu Hause liegen hatte. „Das eine macht mich munter, das andere macht mich frei", schmunzelte er und lief weiter in den aufwachenden Morgen.

    Frank arbeitete seit ein paar Jahren als Nachtwächter bei einem Industriekonzern – miese Bezahlung und schlechtes Arbeitsklima. Aber was sollte er tun, niemand stellt einen vorbestraften Mann ein, egal, wie gut er auch ist. Bis vor der Trennung arbeitete Frank als Bauleiter in einer grossen Baufirma. Er arbeitete 16 Stunden pro Tag, um sich und seiner Frau ein gutes Leben zu gewähren.

    Frank erinnerte sich heute noch ganz genau an diesen gottverdammten Dienstag vor 4 Jahren. Sein Telefon in seinem Office klingelte, er nahm den Hörer in die Hand. Ein fremder Mann erklärte ihm, dass er seit einiger Zeit mit seiner Frau ein Verhältnis hätte und nun mit ihr wegreisen würde. Frank verstand rein gar nichts. Er fragte nach, ob das irgendein blöder Telefonscherz sei. Doch der Mann am anderen Ende der Telefonleitung machte keine unmissverständlichen Bemerkungen und gab den Hörer an Franks Frau weiter. Sie erklärte ihm, dass es aus und vorbei sei, dass sie einen Mann brauche, der ihr die Sterne vom Himmel hole und nicht nur immer arbeite. Dass er nicht der Richtige für die Kinder sei, dass er ein schlechter Scherz im Bett sei und dass sie froh sei endlich mit ihm abrechnen zu können. Frank verstand nichts mehr. Sie schloss das Telefonat mit den Worten: „Frank, du bist kein Mann, du bist nur eine Witzfigur." Sie legte auf.

    Frank hielt immer noch seinen Hörer ans Ohr und war wie versteinert. Als wäre er inmitten eines schlechten Filmes, liess er den Telefonhörer fallen und lief aus dem Office zu seinem Wagen. Er stieg ein und fuhr los, nach Hause. Voller Gedanken und mit Wut im Bauch fuhr er los. Er achtete nicht auf den vorbeifahrenden Verkehr, er wollte nur, so schnell es ging, nach Hause. Seine Blicke richteten sich nach vorne, seine Gedanken spielten verrückt, er wusste nicht, was gerade eben am Telefon passiert war. Wer war der Mann, was wollte der von seiner Frau? Tausende Fragen schossen ihm durch den Kopf. Er stellte sich immer wieder vor, wie seine Frau mit einem anderen Kerl im Bett war. Wie der womöglich in seinem Bett lag und sich an seiner Frau vergnügte.

    Frank war voller Zorn und raste durch die Strassen. Er richtete seinen Blick gerade aus und sah nicht, was um ihn herum geschah. Mit einem heftigen Knall erwachte er plötzlich aus seiner Erstarrung. Er sass immer noch in seinem Fahrzeug, löste seinen rechten Fuss von der Bremse. Die Windschutzscheibe seines Wagens war eingeschlagen und auf dem Beifahrersitz lag ein Mensch, voller Blut. Frank schaute den regungslosen Körper auf seinem Beifahrersitz an. Er konnte sich nicht erklären, wie dieser Mensch in sein Wagen geraten war. Frank sah sich um, er hielt das Steuerrad fest in seinen Händen. Menschen, die am Strassenrand standen, weinten, einige fluchten mit erhobenen Händen. Ein Mann öffnete die Türe des Wagens und zerrte ihn hinaus, drückte ihn mit dem Gesicht zu Boden. Er spürte den warmen Strassenbelag an seiner Wange.

    Frank wurde verurteilt. Seine Verteidigung plädierte auf schwere psychische Störungen. Er erhielt ein Jahr Gefängnis auf Bewährung, da er bis dahin keine Vorstrafen hatte. Als er an diesem Tage nach Hause fuhr, übersah er eine sehr belebte Kreuzung. Die Ampelanlage war auf rot geschaltet, aber dies bemerkte Frank nicht. Er raste mit voller Geschwindigkeit auf den Fussgängerstreifen und erfasste mit dem Wagen eine junge Frau, die durch den Aufprall in seine Windschutzscheibe krachte und tot auf dem Beifahrersitz liegen blieb. Er konnte sich bis heute nicht daran erinnern, was genau geschehen war – die Ärzte nannten es eine temporäre Amnesie.

    Frank veränderte sich an diesem Tag. Am Unfalltag nahm ihn die Polizei in Gewahrsam, liess ihn allerdings am Abend nach der Befragung wieder gehen. Er war nicht mehr derselbe. Als er nach der Gerichtsverhandlung nach Hause kam, war sein Haus komplett ausgeräumt. Seine Frau hatte alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest gewesen war. Er stand inmitten seines grossen Wohnzimmers ohne ein einziges Bild an der Wand. Gleich sah es bis ins Schlafzimmer aus. Das Einzige, was noch im Schlafzimmer lag war eine alte Matratze die seine Frau ihm gütigerweise zurückliess. Er liess sich auf die Matratze fallen und begann zu weinen. Die Nacht hatte bereits eingesetzt, er schlief ein. Er wachte am nächsten Tag auf, in den gleichen Kleidern auf der alten Matratze. Er stand auf, streckte sich und lief in die Küche. „Was für ein Wunder, sie hat mir die Kaffeemaschine da gelassen." Er lief zum Tresen und öffnete einen der oberen Schränke, in denen sich normalerweise die Tassen und Trinkgläser befanden. Alles, was noch da stand, war eine alte Blechtasse und eine zerrissene Serviette. Frank nahm die Tasse, reinigte sie und stellte sie unter die Kaffeemaschine. Er betätigte die Maschinen und sah, wie der heisse schwarze Kaffee aus der Maschine in die Tasse tropfte. Er nahm die Tasse in die Hand, lief durch das ganze Haus. Alles war weg. Seine Frau hatte alles mitgenommen. Sie musste alles ganz heimlich und penibel durchgeplant haben. Er erinnerte sich an ihren gemeinsamen letzten Umzug, wie sie Monate zuvor geplant und alles in Kartonschachteln verpackt hatten. Das Chaos in der damaligen Wohnung war gross gewesen, überall Schachteln und Möbelstücke.

    Am vorigen Tag verliess Frank das Haus wie jeden Morgen. Zuvor verabschiedete er sich von seiner Frau im Badezimmer mit einem Kuss auf die Wange, stolperte über einen Teddybären, ärgerte sich wie immer, dass Lea wieder ihre Spielsachen im Eingangsbereich liegen gelassen hatte. Er erinnerte sich genau, wie er fluchte und verärgert aus dem Haus lief. Heute, einen Tag später, war alles anders; heute war nichts mehr im Eingangsbereich, über das er sich ärgern könnte. Frank stand in der Küche an den Tresen gelehnt, trank seinen Kaffee ohne Zucker und Milch und schaute in die leer geräumte Küche. Vor seinem geistigen Auge konnte er noch genau sehen, wo was stand. Der Esstisch stand am grossen Fenster, geschmückt mit bunten Blumen und dem alten Tischüberzug seiner Mutter, den er hasste. Links neben dem Tisch stand ein kleines Gestell mit den aktuellen Tageszeitungen. Frank nippte an seinem Kaffee und starrte in die Leere der Küche.

    Er bemerkte nicht, dass eine fremde Frau in sein Haus eingedrungen war und unmittelbar neben ihm stand. Die Frau hielt eine geladene Pistole fest in ihrer Hand und hatte sie auf Franks Brust gerichtet. „Emma schickt mich...es tut mir leid" sprach die Frau mit heiserer Stimme. Frank erschrak, drehte sich zur Frau und schüttete aus Versehen seine Tasse Kaffee auf die gestreckte Hand mit der Pistole. Die Frau schrie vor Schmerz, ein Schuss löste sich aus der Waffe. Der Geruch von verbranntem Maschinenöl stieg Frank in die Nase. Er blickte nach unten und sah, dass sich im Brustbereich seiner Kleidung ein roter Fleck ausbreitete. Er verspürte erdrückende Schmerzen. Frank blickte hoch und sah die Frau vor sich stehen, immer noch die Waffe auf ihn gerichtet. Die Frau stand offenbar unter ziemlichen Stress, so fand Frank. Er konnte ein weiteres Mündungsfeuer der Waffe sehen.

    2

    Wie jeden Abend um diese Zeit lief Frank durch die Nacht. Er schritt wie jeden Abend an all den Gebäuden und Hochhäusern vorbei, die er seit Jahren kannte. Die Strassen waren ihm bekannt und eigen. Sein Arbeitsweg war immer der gleiche wie der gestrige Tag, nach der gleichen Tagesroutine. Doch heute Nacht schien etwas anders zu sein. Der Mond schien heller denn je. Frank schaute zum Himmel, blieb kurz stehen und schaute den Mond an. „Gott, bist du gewachsen, ich kann mich nicht erinnern, dich je so gross gesehen zu haben. Er lief langsam weiter. Er senkte seinen Kopf und schaute auf seine marschierenden Schuhe. „Drecksschuhe, ich muss mir wieder mal neue kaufen, die sind fertig, schnauzte er sie an. Er blickte wieder hoch zum Mond und sah links neben der hell erleuchteten Kugel einen kleinen weissen Punkt, der versuchte nicht minder stark zu strahlen. „George, mein alter Freund, schaust auf mich hinunter und lachst über mich, nicht wahr?", sprach Frank trist zu dem kleinen Stern.

    Er senkte seinen Blick und schritt weiter durch die Nacht. Sein Weg führte ihn in Richtung Sunset Park. Kurz darauf stand er wieder, wie jeden Abend, vor der verlassenen und leeren Bank. Er schaute sie an und fühlte sich schrecklich. Vor seinen Augen sah er sich vor einigen Jahren wieder mit seiner damaligen Frau hier sitzen. Er spuckte zu Boden. Plötzlich schrie er: „Nein, ich will nicht mehr, ich hab die Schnauze gestrichen voll … lass mich in Ruhe, du Hexe, lass mich leben." Alles um ihn verstummte, als hätte jemand in dieser Sekunde die Zeit eingefroren. Frank schaute sich um: Nichts, kein einziges Geräusch war zu hören, gar nichts. Frank überkam ein komisches Gefühl, er konnte es nicht beschreiben – diese Nacht würde er nicht durch den Park laufen wollen, entschied er sich. Er wollte weg, weg von hier, weg von seinen Erinnerungen und Empfindungen.

    Frank lief zum Fussweg zurück, von dem er gekommen war. Er lief die Strasse weiter hinunter, weg vom Sunset Park. Alles schien irgendwie anders zu sein. Er konnte ein blaues Schimmern am Horizont erkennen. Er schaute auf seine Armbanduhr: 23.54 Uhr. Er schaute sich um, schaute zu den Häusern um ihn herum. Kein einziges Licht brannte in den Hochhäusern und umliegenden Gebäuden. Ihn überkam ein Gefühl der Angst. Er lief eiligen Schrittes weiter. Er überquerte eine Kreuzung – mitten auf der Strasse blieb er stehen und horchte um sich. Nichts war zu hören, kein einziges Geräusch. „Was zum Teufel ist hier los, verdammte Scheisse?" Nun begann er zu rennen. Er fühlte es am ganzen Körper, er musste von hier verschwinden. Er erreichte die andere Strassenseite und rannte, so schnell er konnte, die Strasse entlang. Nach einigen Minuten stand er an einer Strassenkreuzung. Er entschied sich nach links zu laufen. Er rannte zu den nahe gelegenen Häusern, die er im Dunkel der Nacht erkennen konnte. Vor einigen Häuserreihen blieb er erschöpft, um Atem ringend stehen. Frank stütze sich an einer Hauswand ab und atmete tief ein und aus. Er konnte nicht genau sagen, wieso er weggerannt war, er hatte den Eindruck, dass er es tun musste. Frank fühlte sich von allem um ihn herum beobachtet. Er schaute sich um, nach links, nach rechts, konnte jetzt nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, wo er sich gerade aufhielt. Er atmete tief ein und aus, wischte sich den Schweiss von der Stirn und entschied sich dann den Weg zurückzulaufen, den er gekommen war. Er hörte immer noch kein einziges Geräusch. Es schien, als hätte jemand ein Vakuum um ihn herum gelegt. Keine einzige Strassenlaterne brannte. Frank lief die Strasse hinunter, die er gerade erst hochgerannt war. Die Häuser waren finster, kein einziges Licht brannte im Innern der Fenster.

    Frank lief weiter, sah sich erstaunt und erschrocken um. Er versuchte einen klaren Kopf zu bewahren, versuchte rational zu denken, doch die Situation, in der er sich befand, war nicht klar und rationell. Er fühlte sich wie dazumal, als seine Eishockeymannschaft die Landesmeisterschaft gewonnen hatte: unwirklich, wie in einem Traum.

    Doch Frank war nicht in einem Traum, er war hier, er atmete die gleiche Luft ein wie jeden Abend, er lief durch die Strassen seiner Stadt wie jeden Abend. Doch irgendetwas war anders, aber was? Frank versuchte sich krampfhaft zu erinnern, wo er genau vorhin abgebogen war, welche Strasse er genommen hatte, als er hierhin rannte. Er konnte sich nicht mit Sicherheit erinnern, aber er wusste, dass er an einer Kreuzung links abgebogen war. So musste er eigentlich nur Ausschau halten nach einer Kreuzung und danach rechts abbiegen, um dann wieder auf den Weg zum Sunset Park zu kommen. Doch auch dieser Plan misslang: Er befand sich in einer Sackgasse. Vor ihm war ein grosser Hof mit viel Gewächs und Blumen, einige Fahrzeuge waren seitlich parkiert. Er drehte seinen Kopf in alle Richtungen. „Ich muss mich irgendwo verlaufen haben, aber wo nur?" Frank drehte wieder um und lief den Weg zurück, den er gekommen war. Nach einigen hundert Metern hielt er an. Das Licht des Mondes schien hell in dieser Nacht.

    Frank wusste nicht mehr, wo er war, er hatte sich offensichtlich verlaufen. Er konnte weit und breit kein erkennbares Merkmal, kein Haus, keine Strasse sehen, die ihn irgendwie wieder auf den richtigen Weg bringen konnten. So entschied er sich einfach zu warten, bis es hell werde. Er lief einige Schritte und setzte sich auf eine kleine Mauer. Frank griff in die Seitentasche seiner Jacke und zog sein Mobiltelefon hinaus. Er klappte das Telefon auf und betrachtete den hell erleuchteten Bildschirm. „Kein Netz, war ja klar … Oben rechts stand die Uhrzeit: 05.37. Er schaute auf seine Armbanduhr und kontrollierte, ob es tatsächlich schon 05.37 Uhr war. Die Uhr zeigte genau dieselbe Zeit an. Er konnte es fast nicht glauben, dass mehr als fünf Stunden vergangen waren seit dem letzten Mal, als er auf seine Uhr geschaut hatte. „Das gibt’s doch gar nicht, ich war doch gerade eben beim Sunset Park.

    Er stützte seine Ellenbogen auf den Knie ab und versuchte konzentriert zu hören. Er versuchte auf die kleinsten Geräusche zu achten, irgendwelche Geräusche – doch da waren keine. Normalerweise waren ständig irgendwelche Geräusche zu hören: Sirenen von Krankenwagen oder der Polizei, Motorengeräusche der Laster, die in der Nacht den Müll beseitigten, aber heute Nacht war keins dieser speziellen Signale zu hören. „Irgendjemand wird sicherlich mal hier vorbeilaufen oder fahren, vielleicht jemand, der mit seinem Hund gerade Gassi geht, sprach Frank zu sich. Den könnte er dann fragen, wo er denn sei und wie er von hier verschwinden könne. Er begann leise und melodisch zu pfeifen, „Singin’ in the Rain von Gene Kelly. Als er vor ein paar Tagen nach Hause gekommen war und den Fernseher angeschaltet hatte, war gerade dieses Musical gelaufen. Er erinnerte sich noch genau, wie er zum Kühlschrank gelaufen war, eine Flasche Bier geholt und das Musical zu Ende geschaut hatte. „Mann, jetzt könnte ich ein Bier vertragen", fluchte er angestrengt.

    Frank stand auf, streckte seine müden Knochen und beschloss wenigstens ein bisschen herumzulaufen, bis es hell würde oder er jemandem begegnete. Er lief weiter durch die Strassen, alles um ihn herum war matt, grau und schwarz. Wie vorhin konnte er nicht erkennen, wo er sich befand. Auch die Strassenschilder, die er knapp lesen konnte, sagten ihm nichts. Keine einzige Ortschaft, die er auf den Wegschildern, den Hausmauern oder an den Strassenschildern lesen konnte, sagte ihm etwas, als ob er sich in einer fremden Stadt befand. Er stand wieder, wie schon oft in dieser Nacht, an einer Weggabelung: „Nach links oder nach rechts?" Er ging nach rechts. Da konnte Frank etwas in der Ferne erkennen: ein Licht, etwa 500 Meter vor ihm. Er begann zu rennen. Er rannte, so schnell er konnte, in Richtung des Lichtes. Die Lichtquelle wurde grösser und grösser. Es schien ein erleuchtetes Fenster in einer Wohnsiedlung nicht weit von ihm zu sein. Frank strahlte vor Glück. Er erreichte das Fenster mit dem hellen Licht. Er näherte sich dem Fenster seitlich, konnte Möbel und einige Bücherregale erkennen. In seiner Aufregung übersah Frank einen kleinen Strauch vor sich, stolperte darüber und fiel zu Boden. Krampfhaft richtete er sich wieder hoch und blickte in das grosse erleuchtete Fenster hinein. Was zum Teufel …", schluchzte Frank. Wie versteinert blickte er in das Fenster hinein, in ein gut möbliertes Büro. Er sah eine junge Frau, die an einem Schreibtisch sass und arbeitete. Sie sah atemberaubend aus. Frank richtete schnell seine Kleidung, wischte sich einige Blätter von der Jacke und blickte wieder in das Büro hinein. Er betrachtete die junge Frau von Kopf bis Fuss. Die Dame trug ein weisses, halb offenes Hemd, darunter einen bis zu den Knien ragenden schwarzen Rock mit durchsichtigen Seidenstrümpfen. Hellblondes langes Haar ragte ihr ins Gesicht und fiel leicht über ihre Schultern. Sie sah bezaubernd aus. Frank konnte nicht aufhören, die junge Frau anzustarren.

    3

    Ein feines Lächeln bildete sich auf den Lippen der Frau, als sie merkte, dass sie beobachtet wurde. Sie legte ihren Stift aus der Hand und drehte sich zu ihm um. Frank versuchte die Fassung zu wahren, als er bemerkte, dass er entdeckt war. Die Frau stand auf, lief zu einem Bücherregal, zog ein Buch hinaus und setzte sich wieder an ihren Schreibtisch. Sie drehte den Kopf zu Frank und lachte ihn herzlich an. Sie drehte ihren Stuhl so, dass sie ihn direkt anschauen konnte.

    Frank blickte in die Augen der Frau, die so blau waren wie Juwelen. „Ich bin Frank. Können Sie mir helfen?, fragte er die junge Frau. Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte ihren Kopf. „Sprechen sie nicht meine Sprache? Ich heisse Frank … Frank, sprach er und zeigte auf sich. Die Frau zuckte wieder mit den Schultern und gestikulierte mit ihren Fingern an den Ohren, kopfschüttelnd. Frank verstand, sie konnte ihn nicht hören. Die Fensterscheibe schien schalldicht zu sein. Frank zog sein Mobiltelefon aus der Tasche und streckte das Gerät der Frau entgegen. Die Frau im Innern begann zu lachen und nickte. Sie drehte sich um, nahm einen Zettel zur Hand und schrieb etwas darauf. Frank öffnete sein Mobiltelefon und bemerkte, dass er immer noch keinen Netzempfang hatte. Er sah, wie die Frau elegant aufstand und sich ihm näherte. Sie kniete sich nieder, hielt den Zettel an das Fenster. Frank sah, dass dort eine Telefonnummer stand. Er stützte sich mit einer Hand an das Fenster. Dasselbe tat die Frau im Innern. Sie legte ihre Hand auf die seine. Getrennt durch eine dicke Scheibe, konnte Frank dennoch die Hand der Frau an der seinen spüren. Ihre Gesichter näherten sich, blickten sich tief in die Augen.

    Er tippte die Nummer in sein Mobiltelefon und drückte den grünen Knopf, blickte wieder die Frau an, hielt das Gerät an sein Ohr. Die Frau stand auf und näherte sich wieder dem Schreibtisch. Überrascht hörte Frank das Rufzeichen klingeln. Er sah, wie die Frau den Hörer in die Hand nahm und an ihr Ohr legte. Frank hörte ihren Atem. „Hallo, ich bin Frank", sprach er freundlich und voller Erwartung in sein Mobiltelefon.

    Sie antwortete ihm: „Vielen Dank, Frank."

    Kapitel 2: Erwachen

    4

    „Wo … wo bin ich?"

    Frank öffnete seine Augen. Alles drehte sich, unscharf, verschwommen. Sein Blick wurde langsam klarer und er erkannte, dass er an einem Schreibtisch sass, mit Blick auf einen Computermonitor. Verwirrt sah sich Frank um, sah Möbelstücke, Bilder, die auf dem Schreibtisch standen. Er blickte nach links und rechts, schaute sich misstrauisch um. „Wo bin ich, was mache ich hier, was ist passiert?, stotterte Frank. Er stand auf und drehte seinen Kopf in alle Richtungen. Erstaunt blickte er die Kleidung an, die er trug. Schwarze Hose, schwarze Jacke, weisses Hemd mit Krawatte. „Verdammt, was ist hier los, wo bin ich hier?, fluchte Frank. Er erinnerte sich genau, wie er gerade eben vor einem grossen Fenster stand und mit einer Frau telefonierte – doch jetzt stimmte nichts mehr. Frank bewegte sich im Raum umher und erkannte, dass er sich in dem Büro befand, in dem er vorhin die junge Dame gesehen hatte. Er erkannte das Bücherregal, den Schreibtisch und natürlich das grosse Fenster wieder. „Was zum Teufel ist hier los, wo bin ich hier?, fluchte er laut. An den Wänden hingen Bilder und Diplome. Frank betrachtete sie genau. Er erkannte auf den Bildern sich selber wieder, in verschiedenen Lebenslagen. Ein Bild zeigte ihn mit einem grossen Fisch an der Angel und Menschen um ihn herum, die er aber noch nie gesehen hatte. Ein anderes Bild zeigte ihn inmitten feiernder Menschen, so als hätten sie seinen Geburtstag gefeiert. Er erkannte eine Überschrift im Hintergrund: „Happy 40 th Birthday, Paul! Er konnte das aber unmöglich sein, da er keinen einzigen Paul in seinem Leben gekannt hatte. Alle Diplome, die an den Wänden hingen, lauteten auf den Namen Paul Bedingfield – Frank kannte keinen Bedingfield. Auf dem Schreibtisch standen weitere Bilder, auf denen er sich ebenfalls wiedererkannte. Es waren Familienfotos und eins zeigte ihn in den Armen einer dunkelblonden Frau, im Hintergrund des Bildes erkannte er den Eiffelturm in Paris. Ein weiteres Bild zeigte ihn mit derselben Frau und zwei Kindern. Frank nahm das Bild mit den Kindern in die Hand und betrachtete es ganz genau – nichts, nichts als Leere. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so eine Frau gesehen zu haben, geschweige denn in Frankreich gewesen zu sein und auch nicht diese Kinder kennen gelernt zu haben.

    „Schön, Familie zu haben, nicht wahr?, sprach ihn jemand von der Seite an. Frank erschrak und liess das Bild fallen. Blitzschnell reagierte der Mann neben ihm und fing das Bild auf. „Hopsala, zum Glück habe ich immer noch so schnelle Reflexe, sprach der Mann. Der Mann richtete sich lächelnd auf und streckte Frank das Bild hin. „Komm, Paul, gehen wir Essen. Frank blickte ihn fassungslos und entsetzt an, ohne ein Wort zu sagen. „Was ist denn, Paul? Du machst ein Gesicht, als hättest du Geister gesehen. Na komm, lass uns gehen, sonst finden wir keinen Platz im Restaurant, wie letztes Mal. Frank verspürte den Drang wegzurennen, doch er tat es nicht. Er schaute den Mann an und spürte ein mächtiges Gefühl in ihm hochsteigen, ein Gefühl von Macht und Stärke.

    Er folgte dem Mann aus dem Büro. Sie liefen gemeinsam zu einem Aufzug mitten in einem grösseren Gang. Menschen, die Frank noch nie gesehen hatten, grüssten: „Hallo Paul, wie geht’s? Er antwortete lächelnd und locker: „Gut, wie immer. Sie stiegen in den Aufzug und fuhren einige Stockwerke in die Tiefe. Die Aufzugstüre öffnete sich und sie befanden sich in der Tiefgarage. „Nehmen wir dein Wagen oder soll ich fahren?, fragte ihn der Mann. „Bitte fahr du heute, ich bin doch eine Gefahr für den öffentlichen Verkehr, du weisst ja, lachte Frank. „Ja, stimmt, grinste der Mann. Er zog einen Bund Schlüssel aus der Tasche, drückte den Knopf einer Fernbedienung und die hinteren Lichter eines Sportwagens blinkten hell auf. Frank betrachtete das schwarze Fahrzeug und war erstaunt. „Wow, nicht übel! Frank lief auf die Beifahrertüre des Wagens zu. Der Mann schaute ihn kopfschüttelnd an: „Heute bist du aber wirklich zerstreut, Paul, das ist dein alter Wagen, den du mir vor 3 Monaten geschenkt hast. Ich sag dir, Finger weg von den Frauen und geh mal früh schlafen." Sie stiegen ein und fuhren los.

    Aus irgendwelchen Gründen begann Frank sich an gewisse Sachen zu erinnern. Er konnte nicht verstehen, wie und wieso, aber während der Fahrt wusste er wieder, dass der Mann neben ihm Charles hiess. Wie war das nur möglich? Was war mit ihm geschehen seit der Begegnung mit der Frau im Fenster? Erstaunlicherweise konnte sich Frank an sein Leben vor dem Zwischenfall erinnern. Aber allmählich wurden diesen Erinnerungen frische Erinnerungen zugefügt – aber wieso nur? „Du bist so still heute, Paul, ist was nicht in Ordnung, fragte Charles, der den Sportwagen eilig lenkte. Frank blickte, ohne eine Miene zu verzerren, aus dem Wagenfenster. Er konnte nicht sagen, in welchem Stadtteil oder welcher Ortschaft er sich befand. Er kannte seine Stadt in- und auswendig, aber das, was er nun sah, war ihm völlig fremd. „Paul, hörst du mir zu?, fragte Charles energischer nach. Frank löste sich aus seiner Gedankenwelt und sagte kühl: „Bitte entschuldige, Charles, ich war in Gedanken versunken. – „Es ist wegen deiner Frau, oder? Frank nickte. Charles überholte schwungvoll ein langsamer fahrendes Auto. „Hör zu, Paul, was hatte ich dir gesagt: bumsen und verschwinden – aber du musstest sie ja heiraten und Kinder zeugen. Charles schüttelte den Kopf: „Wahre Liebe gibt es nicht, und vor allem nicht in unserem Job, du weisst das so gut wie ich. Frank fühlte sich angespannt und nervös. „Du verstehst das nicht, Charles, ich liebe Kate immer noch und ich werde sie immer lieben, auch wenn sie gerade mit jemand anders vögelt, antwortete Frank trocken. Sie erreichten nach einer Weile ein nobles Etablissement nur für Wohlbetuchte. Sie fuhren eine kleine Allee hoch und hielten vor dem Eingang des Restaurants. Ein Junge eilte zur Fahrerseite und liess Charles aussteigen. Ein anderer Junge öffnete die Beifahrertüre und begrüsste Frank höflich: „Guten Tag, Herr Bedingfield, schön Sie wieder bei uns zu haben. Er strahlte ihn mit einem breiten Lachen an und Frank verspürte ein wohliges Gefühl von Erhabenheit. Er stieg aus, und als wäre er hier schon tausende Male gewesen, wusste Frank genau, wohin er musste. Frank und Charles betraten das Restaurant und begaben sich in den Speiseraum. Sie wurden von einem anderen Herrn begleitet, der ihnen den Tisch zuwies. Sie wurden auf eine Veranda geführt mit Ausblick auf einen See. Es war atemberaubend schön. Sie orderten Essen und tranken Champagner.

    Frank schaute sich um und fühlte sich allmählich immer wohler. Er wusste nicht genau, was mit ihm geschah, aber es faszinierte ihn von Minute zu Minute mehr – so, als hätte jemand ihm eine zweite Chance gegeben, ein Leben zu leben, in dem er sich nicht mit Geldsorgen, Alimenten, einem Scheissjob oder sonstigen Beschwerden herumschlagen musste. Er konnte nochmals von vorne beginnen, alles richtig machen, alles anders machen. Er versuchte einen klaren Kopf zu behalten, aber je länger er realisierte, dass er nicht mehr Frank war, sondern Paul, umso leichter fiel es ihm loszulassen. Immer mehr gefiel es Frank so zu sein wie Paul. Er machte es sich bequem in einem Leben und einem Dasein, von dem er immer geträumt hatte. Frank konnte sich immer mehr an Detail seines jetzigen Lebens erinnern; wie das möglich war, war ihm schleierhaft und zugleich faszinierend. Sie speisten zu Mittag und genossen den wunderschönen Ausblick auf den See. Charles erzählte Frank Neues von seinem Investitionsportfolio und wie viel er gerade eben verdient hatte. Frank hörte zu, fand aber die Diskussion langweilig.

    Er blickte ständig um sich, als würde er jemanden suchen. Frank sah anderen Menschen zu, wie sie speisten, und es widerte ihn an. In ihm stieg ein Gefühl von Hass und Verachtung hoch. Er konnte es sich nicht erklären, aber er fühlte sich im hohen Masse von den Menschen angewidert. „Ihr Essen, Sir, sprach ihn jemand von der Seite an. Frank löste sich aus seiner Versteinerung und blickte hoch. Eine hübsche junge Dame brachte das bestellte Essen zu ihnen an den Tisch und stand unmittelbar neben ihm. Frank betrachtete die junge Frau ganz genau. Sie roch ganz deliziös nach Vanille. „Sir, ihr Essen, wiederholte die junge Frau. Frank verstand nun, was sie von ihm wollte. Er entfernte das zierlich gefaltete Tuch vor ihm und sie setzte den heissen Teller vor ihm nieder. „Vielen Dank, Christina, bedankte er sich, während er auf das Namensschild schaute, das der jungen Frau an der linken Brust hing. Charles schaute ihn leicht lächelnd an. „Was ist, Charles?, lächelte Frank. „Du hättest sie auch gleich fragen können, ob du ihre Brüste nach dem Essen untersuchen darfst", lachte Charles. Frank wurde rot im Gesicht und leicht verlegen. Sie begannen zu speisen.

    Frank verspürte eine gewisse Lust, er konnte seine Blicke nicht von der Servierdame Christina abwenden. Er suchte sie, wollte sie anschauen, begaffen. Er konnte nicht verstehen, warum er so erregt von ihr war. Frank sah ihr zu, wie sie an anderen Tischen Essen und Getränke servierte. Er sah, wie andere Männer Christina anschauten, sie mit ihren gierigen Blicken begutachteten, lachten, grinsten. Frank wurde wütend, atmete immer schneller ein und aus. „Paul, hörst du mir eigentlich zu, fragte ihn Charles. Frank drehte sich zu Charles um. „Ja, was sagtest du gerade? Bitte entschuldige. Charles zeigte mit seiner Gabel auf Franks Teller, der unberührt vor ihm stand: „Dein Essen wird kalt, oder schmeckt es dir nicht? Frank blickte auf seinen reichlich gefüllten Teller voller Köstlichkeiten. „Nein, nein, alles in Ordnung. Frank nahm sein Mittagessen zu sich, ohne weiter Ausschau nach Christina zu halten. Sie orderten Kaffee zum Nachtisch.

    Christina kam etwas später mit einem Tablett zu ihnen. Frank schaute ganz genau, wie sie sich bewegte, ihre Körperhaltung, schaute ihr zu, wie sie ihre Hände bewegte. Frank spürte einen Zwang in sich, er musste Christina ansprechen, er musste sich mit ihr verabreden, er musste sie kennen lernen – den Grund wusste er aber nicht, er musste es einfach. Als Christina die zwei Kaffeetassen abstellte, nahm Frank die Gelegenheit war. Er fragte naiv: „Entschuldigen Sie, Christina, hätten Sie Lust, mit mir eines Abends eine Tasse Kaffee zu trinken oder ins Kino zu gehen? Christina lächelte ihn von oben herab an und antwortete leicht zynisch: „Nein, eigentlich nicht. Hier ihren Kaffee, und ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Christina drehte sich um und verliess Frank, der mit offenem Mund am Tisch sass. Charles lachte laut: „Die ist aber schlagkräftig, Respekt. Frank blickte immer noch in Richtung Christina, die hinter einer grossen Pflanze verschwand. Er war richtig sauer, er war ausser sich, er kochte innerlich, er konnte sich kaum beherrschen. Er nahm die Tasse Kaffee in seine zittrige Hand und nippte daran. Er stellte sich vor jetzt aufzustehen, zu Christina zu gehen und sie zur Rede zu stellen, doch er liess es bleiben. „Die weiss gar nicht, was sie verpasst, schmunzelte er und lachte Charles an. Die beiden standen auf und verliessen das Restaurant.

    Sie fuhren wieder zurück an den Ort, wo Frank vor ein paar Stunden aufgewacht war. Sie betraten wieder den Office-Komplex. Frank verabschiedete sich von Charles, der sein Büro eine Etage höher hatte, und betrat sein eigenes. Er setzte sich an den Schreibtisch und versuchte in sich zu gehen, er versuchte zu begreifen, was in ihm vorging. Dies war sicherlich das Verrückteste, was in seinem Leben jemals geschehen war. Er konnte sich genau an alles erinnern. Wie er gestern Abend von der Arbeit kam, wie er am Sunset Park vorbei ging und sich in der Innenstadt verlief. Er erinnerte sich auch an die vorigen Tage als Nachtwächter. Aber heute war alles anders. Es kam ihm so vor, als habe er geträumt, Nachtwächter zu sein, und das sei jetzt sein wahres Leben. Dass Frank nur eine Fiktion sei, dass er in Tat und Wahrheit Paul Bedingfield sei und nicht Frank Richards – dass alles nur ein Albtraum gewesen sei, von dem er heute Morgen erwacht sei. Aber wie konnte es sein, dass er sich an so viele Sachen erinnerte?

    Frank stand auf und lief zum grossen Fenster vor ihm. Er blickte hinaus, hinunter auf die Stelle, an der er vermeintlich gestern Nacht gestanden hatte, und sah nichts Ungewöhnliches. Er sah sein Abbild im Glas des Fensters schimmern und fragte sich: „Bin ich Frank oder bin ich Paul, wer bin ich? – „Also wenn du mich fragst, bist du immer noch der gut aussehende Paul Bedingfield, den ich seit fast 49 Jahren kenne, antwortete eine weibliche Stimme im Hintergrund. Frank drehte sich um und sah eine attraktive Dame in hellen Sommerkleidern vor ihm stehen. „Entschuldigen Sie, ich, ich …, stotterte Frank. Die Frau kam näher und umarmte ihn fest. „Hallo, grosser Bruder, hast du mich vermisst?, fragte sie ihn und drückte ihm einen dicken Kuss auf die linke Wange. „Aber genug geschwatzt, ich muss dringend noch was einkaufen gehen, wir sehen uns heute Abend ja sowieso bei dir zuhause, ciao! Die Dame verliess Franks Büro, so schnell wie sie es betreten hatte. Frank, der sich keinen Millimeter bewegt hatte, sah der Frau hinterher, die winkend aus seinem Büro eilte. Er hatte auch hier das Gefühl, diese Person noch nie in seinem Leben gesehen zu haben. Was hatte es mit „wir sehen uns bei dir auf sich? Frank wunderte sich, ob noch mehr Überraschungen auf ihn warten würden.

    Er entschloss sich, in der Kürze der Zeit so viel wie möglich über sich selbst zu erfahren. Er setzte sich an den Schreibtisch und öffnete alle Schubladen. In der obersten Schublade fand er eine Art Tagebuch. Er öffnete es und sah, dass es eine Agenda war. Er blätterte Seite für Seite durch. Frank erkannte sofort, dass es sich um seine eigene Handschrift handelte. Auf dem Schreibtisch stand ein grosser, in Holz gefasster Wecker, der die Uhrzeit und das aktuelle Datum anzeigte. 25.5.07. Er schlug die Seite des 25. Mai auf. Die ganze Seite war voll von Terminen und Nachrichten, die er anscheinend heute erledigen musste. „17.00 Uhr Telefon Kurt, Vorbesprechung Tokio – was das nur wohl heissen mag – 20.00 Uhr, Blumen für Monica nicht vergessen, sprach Frank leise vor sich hin. Er schaute auf seinen edlen Wecker: 16.45 Uhr. Er wollte gerade weitere Schubladen des Schreibtischs untersuchen, als eine nette Stimme aus dem Telefon auf dem Tisch ihn aufmerksam machte, dass es Zeit sei, Herrn Kurt Smith anzurufen. Frank schaute zum Telefon und nahm den Hörer ab. „Ja, ähh, ja, könnten Sie mir bitte diesen Termin verschieben, ich fühle mich heute nicht so besonders, danke. – „Geht in Ordnung, Mister Bedingfield, ich verschiebe den Termin auf Montag, ist das für Sie in Ordnung?" Er bejahte und beendete das Telefonat.

    Frank machte dort weiter, wo er aufgehört hatte. Er untersuchte eine weitere Schublade und fand Hinweise auf sein mögliches Domizil. Er lehnte sich im Sessel zurück und versuchte nachzudenken. Nach einer Weile kam er zu dem Schluss: Wenn er dieser Paul Bedingfield war, müsste er natürlich irgendwelche Schlüssel haben oder zumindest einen Ausweis, Geld oder ähnliches. Er griff an die Rückseite seiner Hose – nichts. Er schaute sich in seinem Büro um, ob er irgendwo eine Jacke hatte. Tatsächlich stand in der Ecke hinter der Tür ein Kleiderständer, an dem eine Jacke hing. Er untersuchte sie und fand ein flaches, in Leder gehülltes Portemonnaie. Er öffnete es und fand Bargeld, mehrere tausend Dollar, einen Führerausweis mit seinem Passfoto, ausgestellt auf Paul Bedingfield sowie einen kleinen Zettel mit einer Telefonnummer. All diese Sachen kamen ihm sehr fremd vor. Wieso konnte er sich nicht erinnern, wer er genau war, Frank oder Paul? Er musste Klarheit darüber gewinnen, wer er war und was genau mit ihm geschehen war.

    Frank entschloss sich zu gehen, doch gerade als er die Jacke überstreifte, öffnete jemand seine Bürotüre. Ein gross gewachsener Mann stand zwischen Tür und Angel und lächelte ihn breit an: „Hallo Paul, es ist Freitag, Ladies’ Night, komm, wir gehen noch einen trinken." Frank hatte keine andere Wahl, als dem Mann zu folgen. Er richtete seine Jacke gerade und wollte gerade das Büro verlassen, als er noch kurz zum grossen Fenster blickte. Er erkannte etwa 40 Zentimeter oberhalb des Fussbodens einen Handabdruck innen am Fensterglas. Er wollte sich noch drehen und zum Fenster laufen, aber der Mann hielt ihm am Arm fest und zog ihn aus seinem Office.

    5

    Genüsslich schlürfte Frank an einem Drink, der aussah wie eine kleine Palme im Glas. Ihm gegenüber sass Jack Thornton, der ihn aus dem Office gezerrt hatte. Sie sassen gemütlich in ihren übergrossen Sesseln in einer VIP Lounge eines Clubs und genossen, was ihnen geboten wurde. Vor ihnen tanzten zwei halbnackte Frauen an einer stählernen Stange. Jack zog die Brieftasche aus der Jacke, entnahm einige Hundert-Dollar-Scheine und steckte sie der einen in die Unterwäsche, die ein Hauch von gar nichts war. Die Tänzerin bedankte sich, stieg von der kleinen Erhöhung, auf der sie stand, neigte sich zu Jack und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sie streckte Jack ihre Hand hin, die er sofort ergriff. Jack stand auf und folgte der Frau hinter einen Vorhang, der unmittelbar seitlich in der Lounge angebracht war. Frank verstand sofort.

    Nachdem Jack hinter dem Vorhang verschwunden war, stand Frank auf und näherte sich dem roten langen Vorhang. Er rückte ein Ende des Vorhanges zur Seite und blickte durch den kleinen Spalt zu Jack. Er sah Jack vor sich, der sich entkleidete. Die Tänzerin lag auf einem Bett und hatte sich bereits ausgezogen. Frank schaute gespannt dem Treiben seines Arbeitsfreundes zu. Er blickte gierig zu und verspürte einen leichten Druck auf seiner Schulter. Die zweite Tänzerin hatte sich von hinten genähert und strich ihm nun mit ihren langen Fingernägeln über die Schultern. Frank drehte sich um und schaute der Frau in die Augen. „Wenn du mir ein paar Scheine gibst, besorge ich’s dir auch, sprach sie ihn an. Frank liess sich nicht zweimal bitten. Er packte die Frau an den Oberarmen, drückte sie an sich und versuchte sie zu küssen. Die Frau versuchte sich zu wehren, erfolglos. „Nicht auf die Lippen, nicht auf meine Lippen, keifte die Tänzerin und versuchte vehement sich aus seinen Armen zu befreien. Frank interessierte das nicht: „Bleib still, du Hure! – „Nein, lass mich los, schrie sie auf. Frank hatte sie fest im Griff und war völlig ausser sich. Er zerrte ihr den letzten Kleiderfetzen vom Körper und warf sie zu Boden. Die Frau schlug mit ihrem Kopf auf den Fussboden und schrie laut auf. Frank, wild und völlig ausser sich, stürzte sich auf die Frau und hielt sie an beiden Armen fest. Sie schrie: „Nein, Hilfe, nein! Frank öffnete mit einer Hand seine Hose und kniete sich über die junge Dame. Die versuchte mit aller Kraft ihn von sich zu drücken. „Bleib ruhig, Hure, ich nehme mir was ich will, lechzte Frank.

    Gerade als er zur Sache kommen wollte, packte ihn jemand von hinten und zerrte ihn von der jungen Frau, die sofort wegkauerte. „He, was zum Teufel, lass mich los, schrie Frank erbost. Mit einem Ruck wurde er in die Höhe gehoben. Vor ihm stand ein grosser schwarzer, kräftiger Mann, gut gekleidet, der ihn mit seinen dunklen Augen anschaute. „Was ist, Nigger, willst du was von mir?, beschimpfte Frank den Mann vor ihm. Dieser packte ihn am Kragen und warf ihn quer durch die Lounge. Frank knallte heftig gegen eine Seitenwand und blieb regungslos hinter der kleinen Bar liegen.

    6

    Der Gestank war unerträglich. Frank öffnete seine Augen und fand sich in einer kleinen Gasse wieder. Es regnete. Um ihn herum lauter Müllsäcke und anderer Unrat, den er nicht genauer begutachten wollte. Er stand auf und rümpfte seine Nase. „Herrgott, stinkt es hier grässlich! Frank griff sich an die klitschnasse Jacke und Hose, kontrollierte, ob seine Schlüssel und Geldbörse noch da waren. Beides war dort, wo er sie gelassen hatte, nachdem er den Club betreten hatte. „Gott sei Dank, immerhin ist nichts weggekommen. Er schaute sich um und sah einige Meter vor sich einen Menschen, der in Pappkarton gewickelt in einer Ecke lag und ihn anschaute. Frank erzürnten die Blicke des Pappenmanns. „Was glotzt du denn so blöde, Penner, ist denn was?, motzte er ihn an. Der Mann am Boden drehte sich in seiner Kartonbox um und murmelte etwas vor sich hin. „Ja, dreh dich nur um, ist auch besser so, blöder Penner! Um ihn herum lagen lauter Müllsäcke. Es stank fürchterlich nach Abfall und verdorbenen Essensresten. Er wischte sich noch einige Salatblätter von der Jacke und verliess die Rückseite des Clubs Richtung Hauptstrasse. Dort hielt er Ausschau nach Jack. Dieser war aber weit und breit nicht zu sehen. Frank näherte sich der Hauptstrasse, schaute nach links und hob seine rechte Hand. Er wollte, so schnell es ging, nach Hause kommen. Prompt hielt auch ein gelbes Taxi vor ihm. Er öffnete die hintere Türe und stieg ein. „White Road 56, bitte. Der Fahrer nickte, legte den Gang ein und fuhr los. Frank fühlte sich komisch. Er schaute aus dem Fenster und sah die Lichter der Grossstadt brennen. Alles kam ihm sehr fremd, aber doch bekannt vor. Er kannte sich nicht wieder, begann an sich zu zweifeln. War das alles nur ein schlechter Traum? „Ich werde langsam irre, flüsterte er zu sich. Die Lichter der Grossstadt schienen hell im Dunkel der Nacht. Frank lehnte sich in die Polster des Fahrzeugs und schaute mit leerem Blick aus dem Seitenfenster.

    Vor Erschöpfung schloss er die Augen und hörte dem umliegenden Verkehr zu. Er hörte Autos hupen, durchdrehende Fahrzeugräder, das Klingeln von Fahrrädern, undeutliche Menschenstimmen und Polizeisirenen. Doch ein Geräusch schien konstant im Hintergrund zu sein: ein Zirpen und ziehen, so als würde jemand Saiten einer Violine spielen. Es war ein sehr unangenehmes Geräusch, das immer lauter wurde. Frank verzog sein Gesicht und hielt sich die Ohren mit beiden Händen zu. Das Geräusch war unerträglich.

    Er öffnete seine Augen und sah eine in Weiss gekleidete Frau über sich sitzen. Ein Schauern ging durch Franks Körper, als wäre sein Blut in den Adern eingefroren. Die Frau trug offenes weisses langes Haar, das wie im Winde hin und her wehte. Er blickte die Gestalt mit offenem Mund an, ballte seine Fäuste. Sie blickte Frank an und schien sich ihm zu nähern. Er presste sich immer mehr in die Polster der Rückbank. „Was … was?" Frank stotterte vor Angst und brachte nichts über die Lippen. Die Frau hielt beide Arme weit ausgestreckt und schien zu schweben. Sie griff nach ihm und packte seinen Kopf.

    Frank versuchte sich aus dieser Falle zu befreien, doch die Gestalt vor ihm war stärker. Er konnte ein Zeichen auf ihrer Stirn erkennen, das immer mehr zu leuchten begann, je näher er ihr kam. Es war ein Kreis mit einem Stern darin, der wiederum einen kleineren Kreis enthielt. Mit kristallblauen Augen schaute die Gestalt Frank lächelnd an. Ihre Blicke brannten sich in Franks Gedächtnis. Er versuchte seine Augen zu schliessen, doch konnte den Blick nicht abwenden. Das Gesicht der Frau war dicht an Franks Gesicht, sie öffnete den Mund und sprach: „Rette mich", mit leichter harmonischer Stimme.

    Augenblicklich wurde Frank aus dem Zangengriff befreit. Er fiel seitlich auf die Polster der Rückbank, keuchte und schwitzte. Um Atem ringend zog er sich an der Seitentüre hoch, die panische Angst in seinen Augen war unverkennbar. „Ist alles mit ihnen in Ordnung, Sir?, fragte der Taxifahrer besorgt. Frank atmete schnell und heftig „Ha… Ha… Haben Sie die weisse Gestalt gesehen? Haben Sie sie gesehen?, fragte Frank hastig den Fahrer. Der Fahrer schaute sich um und schüttelte seinen Kopf. „Nein, Sir, ich habe niemand gesehen, war wohl ein schlechter Traum, antwortete der Mann trocken. „Aber sie war auf mir, haben Sie die Gestalt nicht gesehen? Der Fahrer schüttelte seinen Kopf. „Das macht 35 Dollar, Sir, antwortete der Mann. Frank öffnete hastig die Hintertüre und stieg aus, zückte seine Geldbörse und gab dem Fahrer einige Geldscheine. Der Fahrer nahm das Geld und schob es in seine Hemdtasche, legte den Gang ein und winkte ihm beim Wegfahren zu. Frank konnte gerade noch einen Aufkleber lesen, der am Kofferraum des Taxis befestigt war: „Keep your hands off drugs when you are seeing strange things

    Ein leichtes verwirrtes Lächeln zog sich über Franks Lippen. Er stand nun vor einem kleinen Einfamilienhaus in der White Road 56. Er betrat das Grundstück, dass nicht gross erleuchtet war, zog die Schlüssel aus seiner Hosentasche, erreichte die Haustüre, steckte den einen Schlüssel in das Türschloss und öffnete die Haustüre. Als hätte er schon Jahre in diesem Haus gelebt, wusste Frank genau, wo alles war, die Küche, das Schlafzimmer, das Wohnzimmer. Er lief schnurgerade in die Küche, die sich rechts neben dem Hauseingang befand. Eine kleine gemütliche Küche, stellte Frank fest, als er das Licht neben dem Kühlschrank anstellte. Auf dem Küchentisch stand eine grosse Schale, die mit einer Alufolie überdeckt war, darauf ein kleiner weisser Zettel. Frank näherte sich dem Küchentisch, nahm den Zettel in die Hand und las:

    „Hallo Paul, ich vermute, dass dich deine wichtigen geschäftlichen Dinge heute Abend verhindert haben, zur Geburtstagsparty deines Sohnes zu erscheinen. Auf alle Fälle findest du unter der Alufolie noch den restlichen Nachtisch.

    In Liebe, Kate

    PS: James ist sehr enttäuscht."

    Frank blickte auf den Zettel, zerknitterte ihn und warf ihn auf den Tisch. „Was auch immer, seufzte er und setzte sich an den Tisch. Er hob die Alufolie von der Schale und fand darunter einige Stück Erdbeerkuchen. Er rümpfte seine Nase: „ich hasse Erdbeerkuchen, und schob die Schale angewidert von sich weg. Er stand wieder auf und durchsuchte die Küchenschränke nach etwas Essbarem. Er hatte Lust nach etwas, das er im Moment nicht definieren konnte. Frank suchte sämtliche Schubladen und Fächer ab. Er wurde immer nervöser und begann zu fluchen. Hastig durchsuchte er alle Ablagen. „Wo sind sie, wo habe ich sie hingelegt, verdammt? – „Suchst du denn was Spezielles?, fragte eine weibliche Stimme hinter ihm. Frank drehte sich um und sah eine junge Frau im Schlafanzug. Es war dieselbe, die ihn heute Nachmittag in seinem Büro kurz abgefangen hatte. „Hier, nimm, und die Frau streckte Frank eine Schachtel Zigaretten und einen Anzünder hin. Franks Augen wurden ganz gross. Er nahm die Schachtel, öffnete sie und zog eine Zigarette hinaus, steckte sie in den Mund und entzündete sie. Genussvoll zog er den blauen Dunst in seine Lunge und blies grauen Rauch aus. „Ja, genau das habe ich gesucht.

    Frank öffnete die Gartentüre und schritt hinaus. Im Lichtkegel der Küchenbeleuchtung stand er da und blickte zu den Sternen, die heute Nacht sehr hell leuchteten. Die junge Frau lief ihm hinterher, stellte sich neben ihn. Frank hielt die Zigarettenschachtel in seinen Händen. Die Frau nahm auch eine Zigarette aus der Schachtel und legte sie in ihren Mund. Frank entzündete ihr den Glimmstängel. „Du weisst, dass es, sobald Kate den Rauchgeruch an dir wahrnimmt, wieder Ärger gibt. Frank schaute sie an und zuckte mit den Achseln: „Ist mir doch scheissegal. Ich kann tun und lassen, was ich will. – „Paul, ich erkenne dich nicht wieder, was ist denn nur mit dir geschehen, fragte die Frau leicht lächelnd. Frank schaute zum Himmel und stiess einen weiteren Lungenzug in die Dunkelheit der Nacht. „Paul, hast du mir zugehört? Frank drehte sich um, klopfte die Asche seiner Zigarette ab und setzte sich auf einen Gartenstuhl. „Hör mal zu, Monica, ich habe langsam die Schnauze voll, dass mir jeder sagen will, was ich zu tun habe oder nicht, ich bin es langsam leid, immer der Verlierer zu sein. Monica schaute ihn mit offenem Mund an und fragte erstaunt: „Paul, hast du heute irgendwelche Drogen konsumiert? Frank drückte die Zigarette aus, nahm sie zwischen die Finger und spickte den Zigarettenstummel weg. „Wieso denn, habe ich nicht das Recht, ein Mann zu sein, oder soll ich immer ein Waschlappen bleiben? Nein, diese Zeit ist endgültig vorbei. Frank zündete sich eine weitere Zigarette an. „Paul, ich dachte, das hätten wir hinter uns. Willst du wirklich deine Ehe aufs Spiel setzen?, fragte Monica besorgt nach. Frank winkte spöttisch mit der Hand ab und antwortete gereizt: „Lass mich in Ruhe, ich hatte einen harten Tag." Monica drückte ihre Zigarette in einem neben der Türe stehenden Aschenbecher aus und verliess den Garten ohne ein weiteres Wort zu sagen.

    Frank schaute ihr gelangweilt hinterher. Er schaute wieder zu den Sternen und versuchte sich zu erinnern, was vorhin in der Taxe geschehen war. Der umkreiste Stern, was hatte das zu bedeuten? Und war es nur ein Traum? War er möglicherweise auf der Rückbank eingenickt und hatte das alles geträumt? Frank fand keinen plausiblen Reim auf all seine Fragen und Gedanken. Eines schien ihm aber sicher zu sein: Frank oder Paul, einer von beiden war eine Fiktion und der andere der wirkliche Mensch – doch welcher war es denn? Frank konnte sich an all seine Erlebnisse erinnern, den schrecklichen Unfall an der Kreuzung, den Auszug seiner Frau aus dem Haus und vieles mehr – doch konnte er sich auch an Pauls Gedanken erinnern. Er wusste, dass das vorhin seine Schwester Monica gewesen war, dass Kate seine Frau war und sie zusammen zwei Söhne hatten, James und Christopher. Er wusste nicht und konnte es sich nicht erklären, wie das möglich war, zwei Leben zu leben, zwei Erinnerungen zu teilen. Frank zog an seiner Zigarette und grübelte weiter nach.

    Plötzlich verstummte seine Umgebung. Er hörte kein einziges Geräusch mehr. Er schaute sich um, spitzte seine Ohren, nichts. Er stand auf und schaute um sich, nichts, kein einziges Geräusch war hörbar. Seine Umgebung begann sich vor seinen Augen zu verändern. Alles, was er sehen konnte, erblasste. Er schien, als hätte jemand über alles einen grauen Schleier gelegt. Frank warf seine Zigarette zu Boden und eilte ins Haus. Er betrat die Küche und sah, dass alles um ihn herum keine echten Farben mehr hatte, alles war mattgrau. „Nein, nicht schon wieder. Frank rieb sich seine Augen, doch nichts veränderte sich. Er sah Monica, die im Eingang zur Küche stand, Rücken zu ihm gewandt. Frank näherte sich ihr. „Monica, siehst du auch alles matt, was ist hier los? Sie antwortete nicht. „Monica, hast du gehört?, fragte Frank besorgt und stand nun nur noch einige Schritte von ihr entfernt. Er begann leicht zu frösteln, er konnte sehen, wie sich seine Armhaare aufrichteten. „Monica, rief er besorgt und griff nach ihren Schultern.

    In dem Moment drehte sie sich um und rammte Frank ein Messer in die Brust. Blut spritzte aus der Wunde wie aus einer Fontäne. Er schaute in Monicas Augen, die so rot waren wie Rubine. Sie hielt das Messer fest und liess ihn nicht zu Boden fallen. Frank verspürte einen starken, kaum auszuhaltenden Schmerz. Gelähmt schaute er in Monicas Antlitz, kurz vor seinem Tod. Sie näherte sich seinem Gesicht und grinste ihn an. Frank sah, dass auch Monica ein Zeichen auf der Stirn hatte, das nun zu leuchten begann. Monica hielt das Messer in ihrer linken Hand fest und wischte sich mit der rechten Franks Blut vom Gesicht. „Du wirst sterben, du kannst sie nicht retten", sprach sie in fremdartiger Stimme. Frank spürte sich schwinden, er fühlte seinen Körper nicht mehr.

    Da kam er, Frank spürte seinen letzten Atemzug. Er schloss seine Augen, nickte in sich und liess sich gehen, spürte sich wegdriften. Einen Wimpernschlag später lag er am Boden, um Atem ringend im Garten. Der Gartensessel lag umgestürzt auf der Seite. Er schrie laut: „Scheisse, verflucht, was ist hier los? Was zum Teufel geschieht mit mir? Er rappelte sich blitzschnell hoch, tastete seine Brust mit beiden Händen ab, keuchte fest. „Nichts, nichts da … ich lebe noch, ich bin nur eingeschlafen. Frank war schockiert und erfreut zugleich. Er atmete heftig ein und aus, Schweiss rann ihm über die Stirn. Irgendetwas war definitiv nicht in Ordnung mit ihm.

    Frank blickte zur halb offenen Gartentüre. Er packte all seinen Mut zusammen und näherte sich ihr langsam. Eine schreckliche Angst durchzog seinen Körper. Mit beiden Händen fest an die Brust gepresst näherte er sich der Türe. Dort angekommen, streckte er seinen Kopf durch die halb offene Türe und blickte hinein. „Nichts Ungewöhnliches zu sehen", fand er erleichtert. Er griff sich an die Hosentasche und suchte die Zigaretten, die Monica ihm gegeben hatte. Er zog die Schachtel aus der Tasche, nahm eine Zigarette und steckte sie sich in den Mundwinkel. Mit dem Anzünder in der Hand gab er dem Glimmstängel Feuer und zog den blauen Dunst in seine Lungen. Er blickte wieder zu den Sternen die hell strahlten. Die Angst in seinen Knochen verschwand allmählich. Erleichtert drehte Frank sich um, lief zum Gartentisch neben dem umgekippten Stuhl, drückte die Zigarette auf der Steintischplatte aus und warf den Stummel zu Boden. Er lief zurück in die Küche, schloss die Gartentüre ab und verliess die Küche. Er schritt quer durch den Eingangsbereich ins Wohnzimmer.

    „Bequem wie immer", lachte Frank zynisch, als er sich auf die Couch fallen liess. Er richtete sich einige Kissen unter dem Kopf her und kuschelte sich in das weiche Gefieder. Frank schloss seine Augen und liess den heutigen Tag Revue passieren. Er atmete tief ein und aus. Seine Gedanken schienen vor seinem geistigen Auge zu fliehen. Angestrengt versuchte er einen klaren Gedanken zu fassen, doch er konnte es nicht. Alles erschien ihm verschwommen und undeutlich. Er drehte sich zur Seite um und verschränkte die Arme vor sich, blickte ins leere Dunkel des Wohnzimmers. Kleine weisse, blaue, rote und viele andere bunte Lichter strahlten ihn von der Stereoanlage an. Frank kniff seine Augen zusammen, um dem Lichtermeer zu entfliehen. Er versuchte an nichts zu denken, wollte in den Schlaf versinken.

    Doch da, da war sie wieder, die Frau in Weiss. Er sah sie klar und deutlich vor seinen Augen. Sie stand in einem grauen Nebel leicht verhüllt in einem hellweissen Kleid. Sie kam näher, streckte ihre Hände aus und rief einen Namen, den er schon einmal gehört hatte: „Sebastian, komm, komm mit … komm mit mir! War er eingeschlafen, am Träumen oder war er wach? Frank wusste es nicht. Er hob seine Arme, betrachtete seine Hände, sie schienen grell zu strahlen. Er blickte sich um, sah sein Wohnzimmer. Der Nebel drang durch die Wände ins Haus ein und verschlang alles mit seinem dicken, schweren Atem. Er wandte seinen Blick wieder der Gestalt zu. Etwas Magisches zog ihn in ihre Richtung. Er streckte seine Hände aus, als hätte er keinen eigenen Willen, und griff die Hände der schwebenden Frau. Er konnte ein leises Zirpen in seinen Ohren hören, als ob er sich in einem grossen Weizenfeld befand. Frank liess sich wie in Trance gehen und von der Gestalt führen. Er sah, wie das Symbol auf der Stirn der Frau in Weiss zu leuchten begann. Er spürte ein angenehmes, wohliges Gefühl in seinem Bauch, als wären alle seine Sorgen und Nöte verschwunden. Er hielt die Hände der unbekannten Frau fest und blickte in ihr Gesicht, das hell und weiss strahlte, sah in die kristallblauen Augen. Er wurde zu ihr gezogen, Schritt für Schritt. Er verliess das Wohnzimmer und es schien, als würde der Nebel alles um ihn herum auffressen und verschlingen. Frank konnte seine Blicke nicht abwenden, die Augen der Frau leuchteten wie zwei Diamanten. „Komm, Sebastian, komm mit, ich befreie dich. Frank grinste und lachte fröhlich. „Ja, ich komme." Er liess sich freudig von ihr lenken.

    Das Wohnzimmer und seine bekannte Umgebung verschwanden gänzlich. Er stand mitten im Schleiernebel der Frau. Frank konnte immer noch das Zirpen in seinen Ohren hören. „Folge mir, Sebastian, folge mir, rief die Frau. Frank folgte ihr hemmungslos. Um ihn herum verwandelte sich der graue Nebel in einen dunklen schwarzen Vorhang inmitten des Nichts. Frank blieb stehen und blickte sich um, konnte aber nichts erkennen. Die Luft um ihn herum roch fein nach Rosenblüten. Er konnte Hitze auf dem Gesicht spüren, unerträgliche Hitze. Er lief einige Schritte in der Finsternis. Das Zirpen in seinen Ohren wurde immer lauter und lauter. Er konnte nun auch andere Geräusche deutlicher hören. Er spürte eine leichte Windbrise auf der Haut. Er schritt in die Dunkelheit, streckte seine Arme aus, versuchte irgendetwas zu greifen, sich irgendwo festzuhalten. Seine Füsse schlugen an etwas an, er stolperte und fiel hin. Er schlug hart mit dem Gesicht auf, er schrie vor Schmerz. Er stützte sich mit seinen Händen im Dunkeln irgendwo auf, versuchte wieder aufzustehen, sah aber nichts. Seine Handflächen schienen zu brennen, als ob seine Hände auf heissen Kohlen lagen. Sein Kopf brummte. Er hörte plötzlich lauter verwirrende Geräusche: Strassenlärm von Fahrzeugen, Sprachlaute, Lachen, Fluchen. Das Zirpen in seinen Ohren wurde immer lauter. „Was ist hier los?, schrie Frank in die Dunkelheit und versuchte aufzustehen. „Kommen Sie, ich helfe ihnen, sprach eine kindliche Stimme neben ihm. „Hallo, wer ist da? Wer bist du, ich kann dich nicht sehen?, antwortete Frank hilflos. Jemand griff ihn an den Unterarmen und zog ihn weg. „Nein, lass mich los, fauchte Frank. „Na, na, na, kommen sie mit, sonst werden Sie noch verletzt, sprach die Stimme wieder und zog ihn weiter. „Vorsicht, Absatz!, ermahnte sie. „Absatz, was für ein Absatz? Die Antwort folgte prompt. Frank schlug mit seinem linken Fuss irgendwo an und fiel wieder zu Boden. Klatschte mit seinem Gesicht auf etwas Hartem auf. „Verflucht! schimpfte Frank. Er rappelte sich wieder hoch, fühlte unter den Achseln Hände, die ihm halfen. „Was geschieht mit mir?, fragte Frank zerstreut. „Machen Sie sich keine Sorgen, ich helfe Ihnen, sprach die kindliche Stimme neben ihm. „Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir, wo bin ich? – „Ich bin Sara, und wie heissen Sie, wenn ich fragen darf?, antwortete die zierliche Stimme neben ihm. „Ich bin Frank … Frank, ähh, antwortete er zitternd, „Wo bin ich? Er hörte Gelächter. „Sie sind hier, bei uns, antwortete lachend eine andere Stimme von rechts. Frank drehte den Kopf zu den Geräuschquellen. Er hörte immer noch Fahrzeuge, fühlte den Fahrtwind an seiner Haut vorbeiziehen. „Kommen Sie mit, Frank, wir bringen Sie nach Hause, sprach eine dritte Stimme. Er versuchte einige Schritte zu gehen, schüttelte den Kopf, versuchte einen klaren Blick zu bekommen – doch nichts hellte auf, alles um ihn herum blieb dunkel. „Wo wollen Sie denn hin Frank, warten Sie doch, wir begleiten Sie nach Hause, sprach Sara freundlich. Frank spürte, wie jemand seine Hände griff. Er merkte, dass diese Hände kleiner waren als seine. Da er im Moment nichts anderes tun konnte, als den Stimmen zu gehorchen, ergab er sich seinem momentanen Schicksal und liess sich von den Stimmen ziehen, wohin auch immer sie gehen wollten. Die Luft war dick und heiss.

    „Wohin bringt ihr mich?, fragte Frank die kindlichen Stimmen an seiner Seite. Er konnte nur Flüstern und leises Gelächter hören. „Er kann uns nicht sehen, nein, das kann er nicht, hahaha. – „Er muss uns folgen, haha, sonst geht es ihm schlecht,

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