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Herbstfeuer
Herbstfeuer
Herbstfeuer
eBook343 Seiten4 Stunden

Herbstfeuer

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Über dieses E-Book

Armut und Elend auf der einen, Wohlstand und Luxus auf der anderen Seite des Flusses, der die Industriestadt Ersthafen teilt. Fest entschlossen an der Front einer Arbeiterrevolution das Schicksal der Nation zu ändern, führt Timmrin das eigene an die Seite eines Mannes düstern Mannes, getrieben von undurchsichtigen Rachemotiven. Als sich die Ereignisse überschlagen, beginnt eine wilde Flucht und ein gnadenloser, blutiger Überlebenskampf.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum27. Nov. 2019
ISBN9783750213883
Herbstfeuer

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    Buchvorschau

    Herbstfeuer - Robert Ullmann

    -1-

    Die Nacht war kalt, aber nicht klar - der Nebel so dicht, dass man glaubte ihn schneiden zu können. Die Gassen waren menschenleer, nicht ein Schritt zu hören auf dem Pflasterstein, da schlug die Glocke. Ihr Klang hallte durch die Straßen und Viertel der Stadt.

    Ein Pochen an der Tür; ein zweites; ein drittes; dann Schweigen. Plötzlich pochte es wieder: einmal, zweimal, dann noch dreimalmal, schnell aufeinander folgend. Schließlich öffnete sich die Tür.

    „Wer?, zischte es. „Feuer im Mondlicht, antwortete die tiefe Stimme eines jungen Mannes. „Kommt", lautete rasch die Antwort.

    Zwei Männer traten herein, in dicke Wolljacken gehüllt. Die Tür wurde zugeschlagen, Licht entzündet. Die Leute in der Taverne blickten in die fahlen Gesichter der beiden Ankömmlinge, die man im Schein der Laterne sehen konnte. Sie sahen erschöpft aus, doch blickten sie entschlossen und in den Augen des einen, sein Name war Timmrin, loderte ein Feuer, das ihn geradezu verzehrte.

    „Es ist ruhig, aber dunkel. Der Mond scheint nur schwach. Niemand an der Brücke", sagte er leisen Tones.

    Alle schwiegen. Es waren vielleicht dreißig Männer in dem engen Gastraum versammelt. Einige trugen lange Messer im Gürtel, andere hielten Knüppel in Händen, die meisten eine nicht entzündete Fackel.

    Wieder nahm Timmrin das Wort: „Brawek und Jarell sind unterwegs zu Toreks Männern. Wir sollen aufbrechen, wenn die Glocke schlägt. Wir treffen uns am Brunnen."

    „Dann los", gab ihm sein Gegenüber zur Antwort – ein kleiner Mann in schmutzigem Schurwollmantel. Er hatte einen leichten Buckel, eine Halbglatze und trug einen langen Stab in der Rechten. Er mochte die fünfzig schon überschritten haben und auch ein Großteil seiner Mitstreiter schien die Blüte ihrer Jugend bereits hinter sich gelassen zu haben. Nicht wenige waren von kleinem Wuchs. Einer hinkte und wieder einer hatte nur noch eine Hand, die den Griff eines kurzen Entersäbels umschloss.

    Knarzend öffnete sich die Tür und der Bucklige mit dem langen Stock in der Rechten, der Laterne in der Linken, trat als erster hinaus auf die Straße. Der Nebel war nicht mehr so dicht als vorher, die Kälte biss umso stärker.

    Die Männer entzündeten ihre Fackeln, einige zogen Kapuzen über den Kopf oder setzten ihre Hüte auf. Timmrin grub sein Gesicht tief in seinen Schal und hielt seine Fackel nach oben.

    Sie überquerten eine breite Straße, bogen in eine kleinere Gasse ab, flankiert von schäbigen Häusern ohne ein Fenster zur Straße hin. Als sie das Ende der Gasse erreicht hatten, wandten sie sich um und gingen durch das bronzene Tor. Sie kamen auf einen großen Platz, umgeben von hohen Fachwerkhäusern.

    Jetzt waren sie nur noch wenige Schritte entfernt vom großen Ghor, dem Fluss, der die Stadt Ersthafen teilte. In seiner Mitte war eine Insel, die durch mächtige Rundbogenbrücken mit beiden Ufern verbunden war. Auf der Insel stand eine Wehranlage - die Feste Dukor, die Kaserne der Stadt, wo sie die jungen Männer hinbrachten, bevor sie sie als Rekruten an die Kriegsfront schickten. Von dort kehrten sie meist nicht wieder.

    Die Männer verlangsamten ihren Schritt und blieben schließlich stehen. An einem Brunnen in der Mitte des Platzes saß ein in einen weiten Mantel gehüllter Mann und wartete. Als er die Gruppe gewahrte, erhob er sich, zog seine unter dem Mantel verborgene Laterne hervor und trat auf sie zu. In der anderen Hand trug er eine Helmbarte - die Lanze eines Nachtwächters. Die Männer empfingen ihn wortlos.

    „Niemand auf der Brücke, wie´s scheint, brach er das Schweigen. „Torek wird gleich hier sein.

    „Und die anderen Nachtwächter?", erkundigte sich Timmrin leise.

    „Telgor ist eingeweiht, wie ihr wisst. Die anderen beiden schlafen - Dämmerpilze im Weinbrand."

    „Gut. Und die Jungs aus den Gruben…?"

    „…Werden bald hier sein."

    Sie warteten eine kurze Weile. Bald darauf kamen andere Männer durch eine kleine Gasse auf den großen Platz hinaus. Es waren ihrer etwa fünfzig.

    „Das sind Toreks Männer", flüstere Timmrin zu dem alten Buckligen. Die Männer stießen leise hinzu, einige begrüßten sich mit gedämpfter Stimme.

    „Wo bleiben die Jungs aus dem Grubenviertel?", zischte der Alte halb zu sich selbst. Einen Augenblick später tauchten weitere Männer, etwa drei Dutzend, lautlos hinter einer Hausecke auf.

    „Da kommen sie ja, die halben Portionen", raunte ein hoch gewachsener Kerl.

    „Kann nicht jeder ein Schmied sein und breit wie zwei", gab einer der Ankömmlinge zurück.

    „Torek?", der alte Bucklige drehte sich suchend um.

    „Ich bin hier!", erwiderte eine leise, rauchige Stimme.

    „Es sind alle gekommen, auf die man zählen kann."

    „Diese paar?", empörte sich der Bucklige.

    „Es wird reichen müssen, entgegnete Torek. „Wir legen das Feuer und geben Fersengeld.

    Torek bekam nur ein missmutiges Knurren zur Antwort.

    „Jetzt im Sturm!, flüstere Timmrin ungeduldig. „Wir haben nur diese Chance!

    Da klemmte sich der Alte langsam seinen Stab zwischen die Achsel, hob seine Laterne so hoch er konnte und schritt eilends voran. Die anderen folgten ihm.

    Bald waren die jüngeren, die schnelleren an der Spitze und erreichten die Brücke.

    Als sie das Tor der Festung am Ende des Brückenbogens beinahe erreicht hatten, stoppte Timmrin in vollem Lauf und brüllte: „Halt!"

    Einige hielten, einige liefen weiter. Doch bremsten auch sie und blieben stehen, als sie sahen, dass die Tore der Kaserne sich öffneten.

    Einen Augenblick lang standen sie da wie erstarrt. Eine vorüberziehende Nebelschwarte trübte die Sicht.

    Und dann sahen sie sie, die Soldaten, blickten in die Gewehrläufe zweier starrer Schützenreihen, die sich hinter dem Tor postiert hatten. Und während bereits die ersten der Festung den Rücken kehrten und davon rannten, andere sich zu Boden warfen und wieder andere noch immer regungslos, dem Tor zugewandt wie gefroren stehen blieben, wurde das Feuer eröffnet.

    Etwa ein Dutzend waren es, deren Körper getroffen auf dem Brückenpflaster aufschlugen. Jene, die stehen geblieben und nicht getroffen waren, kehrten um und rannten. Die zweite Salve krachte und sie forderte ihren Tribut. Die meisten Flüchtenden hatten bereits den Bogen der Brücke überschritten und waren den Gewehrkugeln der Soldaten entronnen.

    Timmrin grub seine Fingerspitzen zitternd in die Ritzen im steinernen Pflaster, während er regungslos auf der Brücke lag. Jede Sekunde wurde lang wie ein Menschenleben, in welchem er sich schlagartig nur noch als passiver Zuschauer fühlte.

    Die dritte Salve krachte. Eine Kugel schlug direkt neben seinem Kopf ein. Kleine Steinsplitter schlugen ihm ins Gesicht. Einen Augenblick lang schien alles wie ein Alptraum – die Fähigkeit, selbst zu handeln, oder etwas zu beeinflussen, ihm abhandengekommen.

    Dann öffnete er seine Augen und sah in die des alten, buckligen Mannes, der neben ihm lag. Er zwinkerte, doch schien sein Geist nicht mehr bei ihm zu sein. Sein Mund öffnete sich und ein Blutstrom ran hervor, gesellte sich zu all dem Blut auf dem Brückenpflaster.

    Und dann krachten wieder Schüsse. Aber sie kamen nicht von den Soldaten am Tor, sondern aus der anderen Richtung. Timmrin hörte Schreie, die Schreie seiner Kameraden, die geflohen waren. Als sie verklangen, drang Kampfeslärm an sein Ohr.

    Man hatte sie abgefangen, in eine Falle gelockt. Die Soldaten mussten sich verschanzt haben in einem der Häuser, um rechtzeitig zuzuschlagen und die Flüchtenden von der anderen Seite der Brücke aus unter Feuer zu nehmen.

    Wieder schloss Timmrin die Augen und war gewillt, liegen zu bleiben, aufzugeben. Ein Gefühl des Loslassens mischte sich mit der Angst, in die Hände seiner Feinde zu geraten.

    Dann schoss es ihm wie ein Blitz durch den Kopf: Verrat! Timmrin ballte die Fäuste, erhob sich und hielt sich an der Brückenmauer fest. Schüsse krachten. Eine Kugel schlug unweit seiner Hand in die Mauer ein. Dann sprang er mit einem gewaltigen Satz auf die Mauer, rollte sich ein Stück zur Seite und stürzte im freien Fall in den Ghor.

    Die Wasseroberfläche verschloss sich glucksend über ihm, als der Fluss ihn verschlang.

    Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis der Auftrieb einsetzte. Schließlich tauchte er wieder auf, japste nach Luft, sich mit wilden Schlägen über Wasser haltend.

    Neben ihm sah er einen Gefährten von der Brücke stürzen: ob tot oder noch am Leben, konnte er nicht erkennen.

    Vereinzelt knallten noch immer Schüsse. Wieder stürzte ein Mann von der Brücke unter einem markerschütternden Schrei ins Wasser. Timmrin wandte sich ab und begann zu schwimmen, mit gleichmäßigen, aber schnellen Bewegungen: so schnell er konnte, soweit er konnte.

    Die Schreie vom Ufer her ebbten nicht ab, wieder knallten Schüsse. Timmrin beschleunigte seine Bewegungen noch weiter und verlangte seinem Körper alles Erdenkliche ab.

    Einen Augenblick lang glaubte er sich im warmen Wasser eines Moorweihers.

    Als Kinder waren sie in einem solchen Gewässer oft um die Wette geschwommen, das von der Sonne heißer Sommertage aufgeheizt war. Und für diesen Moment schien es, als würde er alles hinter sich lassen. Sogar diesem Augenblick würde er entschwinden, diesem eiskalten Spätherbstabend. Und als er sich noch einmal umdrehte, sah er die Brücke nicht mehr. Jetzt wurde ihm schwindlig, ja beinahe schwarz vor Augen. Sein rechter Arm krampfte und es kostete ihn seine letzten Kräfte, sich über Wasser zu halten.

    In einiger Entfernung konnte Timmrin jetzt plötzlich die Lichter eines großen Hauses sehen. Sie stachen wie Speere durch den dichten Ufernebel und die Silhouette begann langsam den Umriss einer Halbinsel zu zeichnen, auf der das Gebäude stand.

    Timmrin schwamm darauf zu. Bald hatte er einen kleinen Strandabschnitt erreicht, an dem es keine Kaimauer gab. Seine Glieder bewegten sich mit letzter Kraft, ihn verzweifelt auf der Wasseroberfläche vorwärts tragend, als er plötzlich feststellte, wieder Boden unter der Füßen zu haben.

    Ungläubig starrte er auf die Wasseroberfläche und wankte langsam in Richtung Ufer. Kaum hatte er das Land erreicht, brach er zusammen, verlor sein Bewusstsein.

    Nach wenigen Augenblicken wachte er auf, zuckte zusammen. Plötzlich hörte er Stimmen. Unweit entfernt war das Licht einer Laterne zu erkennen. Da legte er seinen Kopf mit dem Gesicht zur Erde und auch seine Handflächen. Er atmete kaum, bewegte sich keinen Deut, hatte seinen Herzschlag bis auf das Nötigste gesenkt. Dann hörte er Schritte kommen und eine Stimme sagen: „Er war hier, hab ihn doch planschen hören."

    „Ich habe gar nichts gehört, antwortete eine andere Stimme gereizt. „Hier ist nichts.

    „Vielleicht weil du taub bist! Lass uns den Strand absuchen", beharrte der erste.

    Sie mochten noch drei oder vier Schritte entfernt gewesen sein. Timmrins Herz pochte so fest, dass er meinte, es durchschlüge ihm die Brust. Schließlich sprang er auf, um zu fliehen.

    „Halt!", hörte er es brüllen. Als er sich umdrehte, sah er, wie einer der Verfolger - es waren Soldaten - seine Büchse anlegte um zu schießen. Timmrin warf sich noch im Lauf zu Boden.

    Ein Schuss krachte. Mit aller Kraft riss Timmrin seinen Körper hoch, wollte weiter rennen, blieb aber wie erstarrt stehen, als er in die Mündung des Gewehrlaufes des anderen Soldaten blickte.

    „Besser du bewegst dich nicht, oder ich schicke dir eine Kugel durch den Wanst, Rebell!", der Soldat hatte den Hahn gespannt, legte den Finger an den Abzug.

    „Na los, Herkommen! Wird´s ba---", er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Der Soldat zuckte plötzlich wie vom Blitz getroffen zusammen, kippte vorn über und stürzte regungslos zu Boden. Aus seinem Rücken ragte ein langes Messer. Erschrocken riss der andere Soldat sein Gewehr herum und blickte nach dem Angreifer, der blitzschnell von hinten auf ihn zu raste.

    Mit der rechten Hand nach dem Verschluss seines Gewehrs greifend, versuchte der Schütze zunächst, nachzuladen, doch ihm blieb keine Zeit. Im letzten Augenblick fasste er es am Schaft, um schreiend mit dem Gewehrkolben zuzuschlagen.

    Als der Schlag erfolgte, war sein Gegner schon zu nah, als dass er ihn hätte niederstrecken können. Der Heranstürmende blockte den Hieb mit den Armen, packte das Gewehr und riss es mit einem Ruck dem Soldaten aus den Händen. Im nächsten Augenblick rammte er ihm den Lauf zwischen die Rippen, dass dieser nach Luft ringend zusammenbrach.

    Timmrin war mit wenigen Schritten bei dem Angreifer und erkannte sofort die hoch gewachsene Gestalt mit dunklem, zerzausten Haar, dessen silberne Strähnen im Mondlicht glänzten.

    „Torek!", entfuhr es ihm.

    Doch kaum konnte der Gefährte antworten, waren wieder Stimmen zu hören, dann Schreie: „Dort! Dort drüben!"

    Torek wandte sich von ihm ab und nahm das Gewehr, das er noch immer in Händen hielt, wie eine Keule mit dem Kolben nach oben. Dann wandte er seinen Kopf noch einmal, ein letztes Mal zu Timmrin und brüllte aus vollen Lungen: „Lauf! LAUF!"

    Einen Augenblick später rannte Timmrin, so schnell ihn seine Beine trugen. Er hörte einen Schrei, gefolgt von einem Schuss. Dann konnte er wieder die Rufe der Verfolger vernehmen.

    Wie er sie verfluchte, diese Soldaten und ihre Gewehre! Doch obwohl er glaubte, sicher jeden Augenblick tot umzufallen und wie ein lebloser Sack auf dem Boden aufzuschlagen, obgleich er überzeugt war, dass seine brennenden, keuchenden Lungen ihm jeden Augenblick den Dienst versagen würden, rannte er. Und er rannte so lange, bis er keine Rufe mehr hörte, keine Verfolger. Schließlich sank er an einer Hauswand auf den Pflasterstein nieder, um in einen Schlaf zu fallen, der so tief war, dass wer ihn sah, hätte glauben müssen, er wäre tot.

    -2-

    Als Timmrin schließlich erwachte, dämmerte es bereits. Er schlotterte am ganzen Leib. Seine Zähne begannen zu klappern. Sogleich entledigte er sich seines Obergewandes. Hätte er länger dagelegen, wäre er wohl im Schlaf erfroren. Wollte er diesem Schicksal entgehen, so musste er laufen, sich bewegen.

    Als er sich aufrichtete, musste er laut husten. Seine Brust schmerzte, seine Augen brannten. Sein entkräfteter Körper sehnte sich nur nach einem: Ruhe! Aber er konnte sie ihm nicht gewähren. Timmrin begann langsam zu gehen, sah sich um, doch er wusste nicht, wo er sich genau befand.

    Schließlich konnte er ein Schild an einem Haus erkennen. Er wusste nicht, was darauf stand, weil er nicht richtig lesen konnte. Jedoch konnte er sich denken, dass es sich um eine Taverne handeln musste.

    In den Bettler- und Arbeitervierteln waren solche Schilder aus Holz, dieses aber war ein feiner Kupferstich.

    Das Händlerviertel war das einzige Viertel diesseits des Ghor, das sich eines gewissen Wohlstandes erfreuen konnte. Dort vermutete er sich.

    Die Wohlhabenden, die Reichen und die Aristokraten wohnten auf der anderen Seite des Flusses, im ersten Bezirk.

    Timmrin war versucht an die Tür zu klopfen, doch erstens würde die Gaststube um diese Uhrzeit nicht geöffnet haben und zweitens lief er Gefahr, sich Menschen zu zeigen, so nass wie er war. Vielleicht konnte man Rückschlüsse darauf ziehen, dass er den Aufständischen angehörte, welche die Festung angegriffen hatten.

    Andererseits, wer konnte zu diesem Zeitpunkt bereits wissen, was sich heute an der Dukorbrücke zugetragen hatte?

    Er entschied sich dennoch, weiter zu gehen. Trottend setzte er einen Fuß vor den anderen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Tag vollends erwachte.

    Leise Schritte auf dem Pflaster rissen Timmrin aus seinen Gedanken. Am Ende der Gasse, in der er sich befand, konnte er Gestalten erkennen, die allerhand schweres Zeug zu tragen hatten – offensichtlich aber keine Soldaten.

    Er lehnte sich gegen eine Hauswand, verhielt sich still und ließ seinen Blick scharf über die herannahende Gruppe gleiten. Sie trugen allerhand große Netzte: Es mussten Fischer sein, die frühmorgens mit dem Bot zum Fang hinaus fuhren.

    Sie waren nur noch wenige Schritte entfernt, als Timmrin mit einem Satz auf die Mitte der Straße sprang.

    Die Schlaftrunkenen erschraken sichtlich. Einer wich mehrere Schritte zurück, riss seine Pfeife aus dem Mund und rief: „Donnerwetter! Was wollt Ihr denn?"

    „Ich…ich bin in den Ghor gestoßen worden" stammelte Timmrin hervor.

    „Was?", der Fischer mit der Pfeife, es war ein älterer Mann mit einem dichten, grauen Bart, ließ seine Netzte zu Boden fallen und musterte den Fremden.

    „In Ghor reingefallen!, mischte sich ein jüngerer ein, der ein wenig zurückgeblieben wirkte. „Reingefallen in Ghor! Hihihi, bin auch schon mal reingefallen!

    „Ruhe, Vater redet jetzt!, unterbrach ihn der Alte schroff. „Soll mich der Frogger holen! Wer hat dich in den Fluss gestoßen?

    „Es waren Männer…Männer, die…das Ufer entlang rannten, als ob sie verfolgt würden, stotterte Timmrin. „Ich hörte auch Schüsse. Ich blieb erschrocken stehen, wusste ja nicht, was los war. Dann plötzlich rempelte mich einer von ihnen im vollen Lauf an. Ich verlor das Gleichgewicht und stürzte in den Fluss!

    „Du wurdest also angerempelt. Dann bist du in den Fluss gefallen, schön. Dann mach doch, dass du ins Warme kommst, oder willst du dir den Tod holen?", die Mine des Fischers formte sich zu einer verständnislosen Grimasse. Sein Sohn sah zu ihm herüber und versuchte seine Gesichtszüge grotesk nachzuahmen.

    „Nun, gab Timmrin zur Antwort, „die Sache ist die: Ich komme aus dem Grubenviertel und ich habe kein richtiges zuhause. Es ist schwierig genug, bei dieser Kälte draußen zu überleben, doch wenn man so nass wie ein Fisch ist, wird’s unmöglich.

    Der alte Fischer lachte kurz, aber beherzt.

    „Nun gut, scheinst mir ja heute wirklich kein Glück gehabt zu haben. Aber was zum Henker treibst du denn hier unten am Ghor und nicht in den Gruben, hä? Vor allem nachts."

    „Ich wollte meine Angel ins Wasser werfen, ich hatte Hunger, ich dachte ich könnte---"

    Timmrins Worte wurden von einem mehrstimmigen Gelächter unterbrochen.

    „Angeln im Kanal!, der Fischer beugte sich vor Lachen nach vorn, biss fest auf seine Pfeife und stammelte amüsiert: „Hast du viele Fische gefangen?, wieder lachten alle, bis auf der Dümmliche, der offensichtlich nicht ganz begriff, worüber sich die anderen derart amüsierten.

    „Junge, du bist hier draußen wahrlich nicht sicher. Meinem Sohn hier würde ich mehr Verstand zugestehen als dir. Lurz, du bringst ihn nachhause zu uns und kümmerst dich drum, dass er es warm hat, bis wir heute Nachmittag wieder kommen. Hast du das begriffen?"

    Der Dumme sah ihn mit weiten Augen an. „Bringe ihn zu uns heim! Dann machen ich ihm warm!"

    „Du bringst ihn nur heim und sagst Mutter, sie soll dafür sorgen, dass er trocken wird. Er kann sich bis heute Abend aufwärmen, der Fischer klopfte seinem Sohn auf die Schulter, hob das Netz auf und schritt unbeirrt weiter, die anderen musterten Timmrin noch eine kurze Weile. Einer fuhr ihn an: „Hast verdammtes Glück gehabt! Mach ja keine langen Finger zuhause beim alten Peat, sonst werfen wir dich morgen als Köder aus! In Stücken!

    Dann trottete er den anderen nach.

    „Komm, wir gehen wieder heim, wo warm ist", hörte Timmrin den Dummen hinter sich sagen und folgte ihm ohne zu zögern.

    Timmrin hatte in den letzten Minuten mehr Lügen erzählt, als in seinem ganzen Leben zuvor.

    Er blickte den Fischern noch einmal nach, dann folgte er Lurz weiter in dessen Heim.

    Nach wenigen Minuten fand sich Timmrin in einer kleinen verkümmerten Wohnung im zweiten Geschoss eines uralten Hauses wieder. Im Vergleich zu seiner Arbeiterbaracke, die er sich mit einigen Leuten teilen musste, wirkte es auf ihn sehr gemütlich. Eine kleine, betagte Frau brachte ihm einige Decken und ein altes, schmutziges Lammfell. Sie gebot ihm, sich auszuziehen und auf der Küchenbank lang zu machen, während sie seine Kleider trocknen würde.

    Timmrin wiedersprach mit keiner Silbe und während er sich zudeckte und er die alte Dame noch auf sich einreden hörte, spürte er, wie seine Augenlieder schwerer wurden. Nach wenigen Augenblicken war er eingeschlafen.

    Timmrin erwachte erst Stunden später vom Geräusch knarrender Türen und vernahm laute Männerstimmen. Das erste, was er sah, als er die Augen öffnete, war Lurz, der schweigend wippend auf einem Stuhl dicht neben ihm saß und auf den Boden starrte. Dann erblickte er zwei der Fischer. Wieder hatte der Alte eine qualmende Pfeife im Mund, deren Geruch so furchtbar war, dass Timmrin beinahe erbrach.

    Er hustete vom Rauch und setzte sich aufrecht hin. „Wie…wie spät ist´s?".

    „Weit nach Mittag!, du musst ja ziemlich erschöpft gewesen sein, was?, der alte Fischer trat an ihn heran. „Hehe, die Pfeife scheint dir nicht zu taugen, was? Ist Klee drin und Sumpfdisteln. Solltest das Zeug erst riechen, wenn ich Dämmerpilze dazu mische."

    „Ich…danke Euch, ich danke Euch sehr!", rang Timmrin verlegen nach Worten.

    „Von deinem Dank kann ich mir nichts kaufen, gab der Alte in hartem Tonfall von sich. „Haben heute schon wieder dürftigen Fang gemacht! Außerdem danke lieber meiner Frau hier. Ich hoffe deine Kleidung ist halbwegs trocken geworden, denn ich muss dich jetzt fort jagen. Meine Familie und ich sind hungrig und wir haben genug Mäuler zu stopfen!

    „Nun lass ihn doch wenigstens eine Schale Suppe mitessen", hörte Timmrin die Alte klagen.

    „Er ist ja völlig ohne Kraft. So kannst du ihn doch nicht wegschicken!"

    „Hab schon Schlimmeres getan, gab der Fischer schroff zur Antwort. „Aber wenn du drauf bestehst…

    „Ja, ich bestehe darauf!"

    „Dann habe ich sowieso keine Wahl, entgegnete der Alte. „Würde mir die heiße Suppe lieber in die Ohren gießen, als deine Launen zu ertragen, wenn´s nicht nach deinem Willen geht.

    Dann wandte er sich wieder Timmrin zu: „Du kannst bleiben und ein paar Löffel Suppe bekommen. Aber dann siehst du zu, dass du Land gewinnst!"

    „Ich danke dir", entgegnete Timmrin leise.

    Die Frau legte seine Anziehsachen auf den Tisch.

    „Sie sind nicht trocken, aber auch nicht mehr ganz so nass", auffällig drehte sie sich weg.

    Timmrin, dessen Unterleib noch zugedeckt war, decke sich zögerlich ab und griff nach seinen Klamotten, um seine Scham zu bedecken. Hastig zog er seine Hose an, dann das Hemd. Die Kleidung war feucht, seine Wolljacke noch triefend nass. Den Schaal hatte er im Fluss verloren. Hastig knöpfte er die Tasche der Jacke auf und ja: Seine zwei Thamen waren immer noch darin. Das war alles Geld, das er bei sich hatte.

    Die Dame des Hauses stellte einen heiß dampfenden Topf mit Fischsuppe auf den Tisch und verteilte kleine Holzschälchen. Behutsam begann sie mit der Kelle die Suppe zu schöpfen: Zwei halbvolle Kellen für jede Schüssel, danach war kaum noch Suppe im Topf. Timmrin bekam einen hölzernen Löffel und begann langsam zu essen. Die Suppe war brühend heiß, aber das machte ihm nichts aus.

    „Wer heiß trinken kann, kann auch schweigen, sagt man", der alte Fischer blickte Timmrin ernst ins Gesicht.

    „Schweigen?", fragte Timmrin.

    „Nehmen wir an, du wurdest nicht in den Ghor gerempelt. Vielleicht hast du ja was ausgefressen…

    Wir haben heute erfahren, dass es einen Überfall auf die Kaserne gab."

    Timmrin erschrak innerlich. Die alte Frau blickte ihn verstört an.

    „Sei es drum, fuhr der Fischer fort. „Wir sind dir jedenfalls nie begegnet, weder ich, noch meine Söhne, noch meine Frau. Hast du das begriffen?

    „Ja."

    „Gut. Dann lass uns essen."

    Als sie gegessen hatten, stand Timmrin auf, zog einen Thamen heraus und legte sich die nasse Jacke über die Schulter. Er wendete ihn einmal, legte ihn dann auf den Tisch und verabschiedete sich mit den Worten: „Ich wollt, es wäre mehr. Ich danke euch."

    Der Fischer sah ihn anerkennungsvoll an, griff langsam nach dem Geldstück und schabte es vom Tisch. Timmrin wandte sich um und ging hinaus.

    Er fand sich wieder in der Kälte eines frühen Spätherbstabends. Bald würde es dämmern und zu allem Überfluss fiel leichter Graupel. Timmrin entschied sich, dass Händlerviertel zu verlassen und trottete davon in Richtung Arbeiterviertel.

    -3-

    Timmrin starrte in seinen Krug und atmete die heißen Dämpfe ein, die daraus aufstiegen. Er hatte seinen letzten Thamen hergegeben für einen Krug heißes

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