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Mein Weg ins Leben: Eine Jugend in der Zwischenkriegszeit 1926 - 1939
Mein Weg ins Leben: Eine Jugend in der Zwischenkriegszeit 1926 - 1939
Mein Weg ins Leben: Eine Jugend in der Zwischenkriegszeit 1926 - 1939
eBook714 Seiten11 Stunden

Mein Weg ins Leben: Eine Jugend in der Zwischenkriegszeit 1926 - 1939

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Über dieses E-Book

Der 15-jährige Otto will raus aus der Enge und Isoliertheit seiner Bauernfamilie in Pommern. Er beginnt eine Bäckerlehre im Kurort Henkenhagen und tut damit den ersten Schritt auf seinem Weg ins Leben, der ihn über Saisonarbeit in Kolberg dann 1932 nach Berlin führt. Er lässt uns an seinen Gedanken und Gefühlen teilnehmen und wir sehen ihn langsam heranwachsen und reifen.
In Berlin erlebt er die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und muss sich zuerst in das Gros der Arbeitslosen einreihen, bis er schließlich als Angestellter seinen Platz in der Gesellschaft findet.
In der Zeit der Machtergreifung Hitlers sucht er sein privates Glück, findet Freunde, bildet sich weiter, macht Reisen und vertraut auf sein Schicksal, bis ihn schließlich die aggressive Außenpolitik Hitlers dazu zwingt, Soldat zu werden.
Er wird 1000 Tage an der Ostfront verbringen und über diese Zeit ein ausführliches Tagebuch schreiben. In diesem Buch erleben wir die Jugend und das Erwachsenwerden des Soldaten und Funkers Otto Lemm. Wir erfahren in diesem Buch woher er kommt, was ihn geformt hat und mit welcher Einstellung er in den Krieg zog.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum12. Dez. 2015
ISBN9783737575904
Mein Weg ins Leben: Eine Jugend in der Zwischenkriegszeit 1926 - 1939

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    Buchvorschau

    Mein Weg ins Leben - Angelika Ludwig

    Vorwort

    Der vorliegende Text bezieht sich auf eine Zeit, die fast 100 Jahre zurück liegt. Sie zeigt eine ganz andere Welt, als wir sie heute kennen. Das Faszinierende daran ist, dass wir in eine Welt eintauchen, die wir heute nur aus Erzählungen unserer Eltern kennen, wenn wir, so wie ich, zur 1. Nachkriegsgeneration gehören. Die heutigen Jugendlichen im Alter des Protagonisten, also die in den Neunzigern bis zur Jahrtausendwende Geborenen, können sich diese Welt nur noch aus Büchern rekonstruieren.

    Es handelt sich hier um den ganz persönlichen Lebensbericht meines Vaters, der aus einer Bauernfamilie in Pommern stammt. Im Alter von 15 Jahren ergreift er den Beruf des Bäckers, weil nicht alle fünf Brüder auf dem elterlichen Hof bleiben können und weil er raus will aus der Isoliertheit des Bauernlebens. Er macht uns bekannt mit seiner Welt, die er anrührend und geradezu poetisch beschreibt.

    Abgesehen davon, dass man Einblick in das einfache und harte Leben einer Bauernfamilie erhält, in einer Zeit, als es noch keinen elektrischen Strom oder Traktoren gab, erlebt man mit dem 15jährigen Otto,  was es bedeutet, 1926 in Pommern das Bäckerhandwerk zu erlernen.  3 Jahre begleiten wir ihn in die Backstube und bei der Aneignung einer neuen Lebenswelt im Kurort Henkenhagen bei Kolberg. Diese Welt gibt es heute nicht mehr, da nach dem Ende des 2. Weltkrieges ganz Pommern östlich der Oder polnisch wurde.

    Er lässt uns teilnehmen an seinen Gedanken und Gefühlen. Wir erleben, wie er begeistert alles Neue aufnimmt und langsam heranwächst und oft mit Humor oder auch Sarkasmus das Erlebte kommentiert. Anschaulich und geradezu spannend beschreibt er die Arbeit in der Backstube.

    Als er nach 3 Jahren seine Lehre beendet, schreiben wir das Jahr 1929 und die Weltwirtschaftskrise macht sich auch in Pommern bemerkbar. Er findet nur schwer eine Arbeit und muss sich mit Saisonarbeit im Kurort Kolberg zufrieden geben. Doch er verbindet hier das Nützliche mit dem Angenehmen und genießt 2 Sommer lang den Kurbetrieb in Kolberg. Hier spürt er schon den Duft der großen, weiten Welt und so ist es nicht verwunderlich, dass er nach vergeblichen Bemühungen, eine Arbeit als Bäcker zu finden, mit 21 Jahren das Fahrrad nimmt und nach Berlin fährt. Das tut er heimlich, ohne den Eltern oder Geschwistern etwas zu sagen. Er will erst wieder zurück kommen, wenn er es in Berlin zu etwas gebracht hat.

    Die nächsten 2 Jahre in Berlin sind hart. Er ist berauscht von der Großstadt Berlin, muss aber die verschiedensten Gelegenheitsarbeiten annehmen, um sich über Wasser zu halten. Doch  er schließt Freundschaften und lässt sich nicht unterkriegen. Er entwickelt seine ganz eigene Philosophie vom Schicksal und glaubt fest an sein Glück. Sein erstes Geld verdient er als Eisverkäufer mit einem eigenen Eiswagen auf Kommission, mit dem er den Sommer 1932 in der Veteranenstraße in Berlin Mitte steht und einmal ganze 35 Mark am Tag verdient.

    1933 erlebt er die Regierungsübernahme Hitlers. Er lebt in einer politisch brisanten Zeit, doch in seinen Erinnerungen spielt die Politik keine große Rolle.

    Nach 2 Jahren findet er schließlich eine feste Anstellung in der Materialverwaltung der Vereinigten deutschen Papierwerke. Er ist inzwischen 23 Jahre alt, ein eleganter junger Mann, wie man auf den Fotos sieht. Ihm gefällt die tägliche Arbeit im Büro und der Austausch mit seinen Kollegen. Für die erste Fahrt nach Hause kleidet er sich neu ein, um den Eltern zu zeigen, dass er es zu etwas gebracht hat. Als er vor Ort ist, wird ihm klar, dass er  inzwischen dieser kleinen, bäuerlichen Welt entwachsen ist. Doch er ist voller Anerkennung für das, was die Familie und die Brüder inzwischen geschaffen haben.

    Zurück in Berlin beginnt er, sich in einer Abendschule weiterzubilden, um seine Arbeit als Angestellter auf eine fundierte Basis zu stellen. Er möchte nun nicht mehr zurück in seinen Beruf als Bäcker. Er hat den Drang nach mehr Bildung, da er nur eine einfache Dorfschule besucht hat. Seine Studien, das Eintauchen in neue Wissensgebiete beglücken ihn so sehr, dass er zeitweilig für nichts anderes mehr Zeit hat. Er kann nun nicht mehr verstehen, wie er ohne dieses neue Wissen leben konnte.

    Ausführlich beschreibt der nun inzwischen 25jährige Otto seine erste Reise mit dem Fahrrad nach Süddeutschland.  Nun kann er sich endlich seine Jugendträume erfüllen und die Alpen und den Rhein sehen. Zwei weitere Reisen folgen und am Ende erleben wir ihn als verheirateten Mann mit einer kleinen Tochter. Er ist auf einem guten Weg. Sein berufliches Können und sein Selbstbewusstsein haben zugenommen. Doch dem beginnenden Krieg kann keiner entkommen. Ein 1. Einberufungsbefehl im März 1940 kann zurückgestellt werden, aber im Dezember 1940 ereilt ihn das Schicksal seiner Altersgenossen.

    Er wird „1000 Tage an der Ostfront* verbringen und über diese Zeit ein ausführliches Tagebuch schreiben. In diesem Buch erleben wir die Jugend und das Erwachsenwerden des Soldaten und Funkers Otto Lemm. Es ist vielleicht für alle die, die  sein Tagebuch „1000 Tage an der Ostfront gelesen haben, sehr aufschlussreich, zu erfahren, woher kommt dieser Funker Otto Lemm, wie ist er aufgewachsen und welche Ereignisse haben sein Denken geprägt. Wir erfahren in diesem Buch woher er kommt, was ihn geformt hat und mit welcher Einstellung er in den Krieg zog.

    Ich möchte wieder den gesellschaftlichen und poltischen  Hintergrund beschreiben, der sein Leben notgedrungen geprägt hat. Er selbst beschreibt nur seinen persönlichen Weg ins Leben, aber es ist klar, dass ihn die politischen Verhältnisse beeinträchtigt haben. Schon der Neuanfang in Pommern war politisch bestimmt durch den Versailler Friedensvertrag. Wie wirkten sich die veränderten Verhältnisse nach der Machtergreifung Hitlers auf ihn aus? Die obligatorischen Straßenkämpfe zwischen Kommunisten und SA Kampfgruppen wird er gesehen haben. Von den systematischen Einschränkungen der Juden bis zur Reichskristallnacht und  den Deportationen ganz zu schweigen. Ebenso musste die aggressive Außenpolitik Hitlers zu Diskusionen führen.  Doch von all dem schreibt mein Vater nichts. Wie konnte man damals ein ganz privates Leben führen, ohne diese Veränderungen zur Kenntnis zu nehmen? fragen wir uns heute.  Der Kriegsbeginn am 1. September 1939 konnte allerdings nicht mehr ignoriert werden, denn das Leben veränderte sich danach drastisch.

    1. Sonntägliche Stille im dunklen Buchenwald  

    Die Zweige der Bäume bildeten ein Dach, durch das die Sonne nur schwer hindurch kam. Höchstens, wenn der Wind die Äste einmal auseinanderbog, sah man die Sonne. Hundert und mehr Jahre mögen die Buchen wohl alt sein, oder auch nicht, wer weiß es? Es gab Bäume der verschiedensten Altersklassen. Die einen waren groß, die anderen weniger groß und die kleinen wollten noch groß werden. Ja, so ist das in einem Walde. Wenn die großen groß genug waren, dann fällte man sie. Die Waldarbeiter zersägten sie in Meterstücke und stapelten sie. Dann wurden sie verkauft und abgefahren. Diejenigen, die sie kauften, zerkleinerten die Stämme und heizten ihren Ofen damit, oder sie bereiteten das Essen zu. Das war der Lauf der Dinge. Natürlich fanden auch einige gut gewachsene und gesunde Stämme eine nützliche Verwendung, es wurden Gegenstände daraus gemacht. Dieses Holz lebte dann weiter, während das Brennholz verbrannte.

    So hingen wir unseren Gedanken nach, als wir vom vielen Herumlaufen müde geworden uns jetzt im Grase ausgestreckt hatten. Alles hat einen Anfang und ein Ende.

    Hier am Waldrand war eine Lichtung. Hier war der Boden mit Gras und Moos bewachsen und hier kam auch die Sonne durch, deshalb ruhten wir uns hier besonders gern aus. Von hier aus war der Weg zu unserem Elternhaus nur kurz. Hier am Rande des Waldes, zwischen einer kleinen Kiefernschonung und dem eigentlichen Wald schlängelte sich ein Bach entlang. Das Wasser war glasklar, man konnte es trinken. Ein schmaler Steg mit einem neu gezimmerten Brückengeländer führte hinüber. Nur über diesen Steg gelangte man in den Wald. Ein Überspringen war nicht möglich, dazu war der Bach zu breit. Es war weit und breit der einzige Steg und der Bach war lang.

    Wir saßen nun auf dem Geländer und blickten in das träge dahinfließende Wasser. Zunächst waren wir stumm und beobachteten die kleinen Wellen und die darauf treibenden Blätter. Ob da wohl Fische drin sind? fragte ich. Na klar! sagte mein Bruder Paul, in jedem Bach sind Fische, aber wie groß sie sind und wo sie sich aufhalten, weiß ich nicht. Wir sahen uns an und ich tat so, als ob ich überrascht wäre. Ja, Otto, da staunst du, was? fragte er und lachte. Jedenfalls sind hier nicht weniger und nicht mehr Fische drin, als in den Bächen von gleicher Größe. Wir schauten angestrengt ins Wasser, als ob wir im nächsten Augenblick einen Fisch entdecken müssten.

    Hier an dieser Stelle an diesem Steg trafen wir uns immer, wenn wir weiter nichts zu tun hatten und uns die Langeweile plagte. Das war immerhin an den Sonntagen oft der Fall. Es war eine kleine Abwechslung für uns beide. Zuerst liefen wir im Walde umher, als ob wir etwas erforschen wollten und wenn wir dann genug von der Lauferei hatten, kehrten wir zu unserem Ausgangspunkt zurück. Von hier war der Weg zu unserem Elternhaus  nicht weit. Wenn die Mutter rief, konnten wir es hören. Ein schmaler Pfad führte von dort zu diesem Steg.

    Paul war drei Jahre älter als ich, er wusste mehr und an ihn wandte ich mich auch, wenn mir etwas unklar war. Wir waren noch fremd in der Gegend, denn erst vor wenigen Jahren war unsere Familie hierher gezogen. Wir kamen aus der Provinz Posen, wo wir 14 Jahre gelebt hatten, bis unser Vater endlich alles geregelt hatte und wir das nun endgültig polnisch gewordene Gebiet verlassen konnten. Es war ein schmerzlicher Abschied.

    Nach Beendigung des Weltkrieges, nach dem Zusammenbruch und dem darauffolgenden Umsturz, trat die Polenfrage in den Vordergrund. Zunächst wurde eine Demarkationslinie geschaffen, die Deutschland bereit war, zu verteidigen. Polen erkannte diese Linie nicht an und stieß mit seinen Verbänden vor. Deutschland durfte sich zunächst verteidigen, jedoch ein Angriff auf polnisches Gebiet wurde ihm von den Siegermächten untersagt.

    Die Polen stießen immer weiter vor und beanspruchten immer mehr Gebiete. Deutschland durfte sich nicht einmal mehr verteidigen. So kam es, dass die ganze Provinz Posen schließlich polnisch wurde. Wer unter den Polen nicht leben wollte, konnte auswandern. Immer mehr deutsche Bauern verkauften ihre Höfe an die Polen, die sie auch bezahlten.

    Im August 1923 war es dann soweit, Vater wanderte mit der Familie aus. Zuvor hatte er hier eine Parzelle gekauft, wo wir uns niedergelassen hatten. Bis vor kurzem waren wir damit beschäftigt, einen neuen Bauernhof aufzubauen.

    Der Ort, in dem wir wohnten, war eigentlich gar kein Ort, denn hier hatten sich zunächst nur sechs Siedler niedergelassen. Erst vor kurzem sind noch sechs Siedlerstellen dazugekommen. Wir wohnten alle sehr weit voneinander entfernt, jeder baute auf seinem Land. Straßen oder Wege gab es noch nicht, die wurden erst angelegt, als jeder wusste, wo er hingehörte. Die Domäne, zu der drei Dörfer gehörten und riesige Ländereien, musste 12 Parzellen zu je 12 Hektar zur Besiedlung abgeben.

    Hier wohnten wir jetzt seit knapp drei Jahren. Der Hof war zum größten Teil aufgebaut, wir hatten ein Haus, einen Stall und eine Scheune. Noch sah es um den Hof herum sehr unaufgeräumt  und kahl aus, denn zuerst wurden die Gebäude gebaut. Erst danach kamen die Gärten und alles andere, die Obstbäume und die Hecken. So hatten es alle Siedler gemacht und so taten wir es auch.

    Unsere Familie war ja nicht klein. Jeder hatte tüchtig mitgeholfen, das neue Zuhause aufzubauen. Außerdem musste ja die täglich anfallende Arbeit auch gemacht werden und auf einem Bauernhof gab es genug zu tun. Wenn dann die Maurer kamen, mussten wir außerdem da sein, damit die Arbeit nicht ins Stocken geriet.

    Wir, Paul und ich, saßen noch immer auf dem Geländer der kleinen Brücke und hatten uns über diese Selbstverständlichkeiten unterhalten, wobei wir auch über unsere Zukunft sprachen. Nun wird es aber Zeit, dass ich mir über meine Zukunft ernste Gedanken mache, sagte ich zu meinem Bruder. Gedanken mache ich mir schon lange, erwiderte er und lachte dabei. Aber dabei ist es bis jetzt geblieben. Wir sahen uns an und sahen auch im Moment keinen Ausweg aus diesem Wunschdenken. Einen Beruf wollten wir erlernen, das wussten wir.

    Zu Hause ist ja die meiste Arbeit getan und wir werden nicht mehr gebraucht, das Bauen ist so gut wie beendet, so begann ich meine Ausführungen. Paul hörte interessiert zu. Den Hof kann nur einer bekommen und Vater denkt noch lange nicht daran, ihn abzugeben, denn er ist ja erst fünfzig. Ich bin im vorigen Jahr aus der Schule gekommen und seit einem Jahr arbeite ich zu Hause. Ich habe geholfen, wo ich konnte. An die Zukunft habe ich dabei noch nicht ernsthaft gedacht.

    Otto, Elternhaus 10002.jpg

    Das Elternhaus

    Bisher haben wir ja auch alle unsere Arbeit gehabt, da gab es für solche Gedanken kaum Zeit, erwiderte Paul. Er hatte es viel nötiger als ich, denn er war bereits 18 Jahre alt. Hast du schon eine Idee, was du werden willst, fragte ich ganz unumwunden. Na klar, antwortete er frei heraus, für mich kommt nur der Beruf des Autoschlossers in Frage. Es fragt sich nur, ob ich eine Lehrstelle finde. Du hast es gut, erwiderte ich etwas neidvoll, du weißt wenigstens, was du werden willst. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich mir meinen Beruf vorstellen soll. Bisher kenne ich nur den Beruf des Maurers, weil sie bei uns das Haus und die anderen Gebäude gebaut haben. Das möchte ich doch nicht ein ganzes Leben lang machen.

    Ja, wir können wirklich froh sein, dass das Bauen endlich ein Ende hat, nun können wir uns in Ruhe eine Lehrstelle suchen, sagte Paul in aller Seelenruhe. Gewiss hat Vater recht, unterbrach ich ihn, wenn er sagt, er könne uns nicht alle ernähren, dazu ist unsere Familie zu groß und zum Hof gehören eben nur 48 Morgen Land. Paul hatte aufmerksam zugehört und bestätigte durch eifriges Kopfnicken meine Ausführungen. Paul war 18 Jahre alt geworden und für ihn war das Problem noch dringender als für mich. Ich war 15 Jahre alt und für mich war es gerade an der Zeit.

    Und das war also unsere Familie:

    Fritz, der Älteste, Jahrgang 1900,  hatte das Elternhaus bereits verlassen. Er arbeitete in einer Ziegelei im Nachbarort. Er konnte keinen Beruf erlernen, wollte sicherlich auch nicht. In Posen wäre er wohl der Hoferbe gewesen, aber nun hatte sich sein Interesse daran wohl gewandelt.

    Willi dachte sicherlich nicht daran, aus dem Haus zu gehen, denn er bearbeitete das Feld mit den beiden Pferden. Er hatte sich unentbehrlich gemacht und dachte sicherlich daran, den elterlichen Hof einmal zu übernehmen. Er war gerade einmal 22 Jahre alt.

    Paul und ich, wir versorgten die Kühe. Im Sommer waren sie auf die Weide zu bringen. Sie wurden dort an lange Ketten angebunden und von Zeit zu Zeit musste ihr Standort verändert werden. Abends holten wir sie zurück in den Stall. Im Winter machten wir gemeinsam das Futter zurecht und machten all die andere Arbeit, die es gab. Gerade wir beide waren es, die sich Arbeit außer Haus suchen sollten. Uns konnte der Vater entbehren.

    Helmut, der jüngste Sohn der Familie war jetzt elf Jahre alt, er ging zur Schule und tat es sicherlich gern. Er konnte die Arbeit mit den Kühen ganz gut machen, wenn Willi ihm dabei half.

    Zwei Schwestern gehörten ebenfalls zur Familie. Luise, 24 Jahre alt. Sie war diejenige, die sich durchzusetzen verstand, sie beeinflusste sogar den Vater.

    Wir anderen wagten es nicht, Vatern zu widersprechen. Was er befahl, wurde ohne Widerrede gemacht. Ein Tadel wurde ohne Widerspruch hingenommen.

    Die jüngste Schwester, die Elfie, war 13 Jahre alt. Sie war einsam und ein wenig schüchtern, denn sie wuchs neben der großen Schwester auf, die alles für sie tat.

    Außerhalb der Familie gab es bei den Siedlern keine Kinder, mit denen sie hätte spielen können. Die meisten der Siedler waren noch jung und hatten entweder noch keine Kinder, oder die Kinder waren noch sehr klein.

    Erst seit kurzem hatte unser Ort auch einen Namen, bis dahin waren wir namenlos. Daran hatte Vater gewiss den größten Anteil. Er rief die Siedler zusammen, die sich dann bei uns trafen. Hier wurden alle möglichen Probleme besprochen, Steuerfragen oder finanzielle Probleme. Gerade weil die Siedler große finanzielle Probleme hatten, traf man sich. Sie hatten alle die Taschen voller Inflationsgeld, als sie hier eine Parzelle kauften. Inzwischen wurde aus einer Billion eine einzige Rentenmark. Das warf natürlich große Probleme auf, die gemeinsam besprochen werden mussten.

    So kamen sie auch auf den Namen des neu geschaffenen Ortes zu sprechen, denn sie fühlten sich keineswegs als ein Teil der Domäne und schon gar nicht als ein Teil des Ortes, in dem die Domäne lag.

    Ich habe sowieso oft in der Stadt zu tun und da wäre mir der Weg zu den Ämtern nicht zu weit, bot mein Vater an. Die anderen Siedler stimmten meinem Vater zu und waren froh, dass einer der Ihren die Sache in die Hand nahm. Vorschläge! sagte mein Vater  und sah sich im Kreise um. Einige Namen wurden genannt, aber als es dann zur Abstimmung kam, hoben sich nur wenige Hände. Jeder hatte nur an seinen Vorschlag gedacht.

    Wie wär‘s mit Lindenhof? fragte Vater. Überlegt es euch einmal und besprecht es untereinander. Ein Schmunzeln ging von Mann zu Mann, ein Lächeln. Dann kam die Abstimmung. Von den zwölf Siedlern stimmte jeder für Lindenhof. Vater wurde sofort beauftragt, die Laufereien zu übernehmen und alle waren gespannt, ob er wohl Erfolg damit hatte.

    Vater hatte Erfolg. Schon nach einigen Monaten bekam jeder ein amtliches Schreiben, dass der Ort den Namen Lindenhof in Zukunft führen dürfe. Nun ging jeder Siedler daran, seinen Hof zu einem Lindenhof auszubauen. Jeder pflanzte mindestens zwei Linden vor sein Haus. So wurde aus jedem Hof ein Lindenhof.

    Unser Hof lag besonders schön, denn zu unserem Hof gehörte ein Teich. Wir wohnten in der Mitte des neuen Ortes. Das ganze Grundstück, auf dem der Bauernhof aufgebaut war, war größer als ein Hektar. Eine Buchenhecke, in die wir alle 10 Meter eine Birke pflanzten, sollte als Einfriedung dienen. Heckenpflanzen und Birken gab es im nahegelegenen Wald und der Förster drückte schon mal ein Auge zu. Wichtig wie die Hecke waren natürlich Obstbäume  und Beerensträucher. Wir dachten stets daran, wenn wir in die nähere Umgebung gingen. Wir fragten bei den Alteingesessenen, ob sie in ihren Gärten Nachwuchsbäume hätten, für die sie keine Verwendung hatten. Vater steckte sogar Apfelkerne in die Erde und es kamen nach einem Jahr kleine Pflanzen heraus, die sich bald zu kleinen Bäumchen entwickelten. Sie wurden dann gehegt und gepflegt.

    Paul und ich, wir hatten einen entscheidenden Anteil daran, denn wir hatten einen kleinen Garten, indem wir dasselbe taten. Wir steckten auch Kirsch- und Pflaumenkerne in die Erde und züchteten Bäumchen. Um alles zu kaufen, dazu reichte das Geld nicht, das sahen wir ein und schön sollte es zu Hause aussehen, auch wenn wir das Elternhaus verlassen würden. Jeder von uns allen trug sein Bestes dazu bei, aus nichts etwas zu machen. Wir hatten unsere Freude daran, wenn wir sahen, wie die Bäumchen, die wir gepflanzt hatten, wuchsen und gediehen.

    Das war also unser Hof und unsere Familie. Mit nichts hatten wir angefangen und nun hatten wir schon einen stattlichen Hof, auf dem die Gebäude standen, außerdem zwei Pferde, Kühe, Schafe, Schweine, einen Hund und auf dem Hof liefen Gänse, Enten und jede Menge Hühner herum.

    Wir alle waren stolz darauf, was Vater geschaffen hatte, denn sein Werk war es, daran wagte keiner zu zweifeln. Er hatte den Plan und die Idee. Wir alle unterstützten ihn dabei und arbeiteten nach seiner Anweisung. Vater war unser uneingeschränktes Vorbild. Ihm wagte keiner zu widersprechen und es tat auch keiner.

    Dies war ja nicht Vaters erster Anfang. Schon in der Provinz Posen hatte Vater vor 14 Jahren einen Bauernhof aufgebaut. Damals hatten wir 150 Morgen und waren einer der größten Höfe des Dorfes. Hier hatten die Höfe alle die gleiche Größe, nämlich 48 Morgen. Ja, in der Provinz Posen ging es uns gut. Da wohnten wir alle in einem schönen und großen Dorf, es herrschte Friede und Eintracht. Alle Bauern verstanden sich glänzend. Es wurden Feste gefeiert, an denen jeder teilnahm. Das Dorf lag unmittelbar an einer kleinen Stadt. Auch wir Kinder hatten Freunde, mit denen wir jeden Tag zusammen spielten. Ich denke mit Wehmut oft daran zurück und wir sprechen oft darüber und fragen uns, was wohl aus ihnen geworden sein mag. Wenn man sich daran erinnert, kann man sich kaum vorstellen, dass es hier einmal genau so gut werden kann. Gewiss, wir wohnen hier noch nicht lange und sind erst im Aufbau und nichts bleibt so, wie es im Augenblick ist. Deshalb bleibt uns nur die Hoffnung.

    Wir beide, Paul und ich, standen ja gerade vor einem neuen Lebensabschnitt. Wir wollten unseren Weg ins Leben beginnen. Wir waren dazu berufen und wir wollten es wagen. So oder so. Noch war es unklar, wo  er beginnen wird und wo er endet. Jedoch das Leben zeigt oft auf sonderbare Weise die Wege.

    Wir hatten schon längst unseren Platz auf dem Brückengeländer geräumt und waren längst wieder zu Hause. Willi war gerade damit beschäftigt, den Wagen fertig zu machen, um ihn mit Getreide zu beladen, denn Vater wollte am nächsten Tag zur Stadt fahren, um es zur Genossenschaft zu bringen und gleichzeitig Kraftfutter zu kaufen. Ich ging sofort zu ihm, um ihm dabei zu helfen. Wir unterhielten uns dabei über die tägliche Arbeit. Willi sprach über die Frühjahrsbestellung, die schon in vollem Gange war, denn es war ja Ende März.

    Die Felder waren bereits trocken und Willi hatte auch schon vorgearbeitet. Vater wollte noch künstlichen Dünger mitbringen, der für jede Art Aussaat erforderlich war. Ich war stolz auf meinen Bruder Willi, der alles so gut verstand und von dem ich mir manchen guten Rat geben ließ. Ich selbst nahm nur ungern die Leine in die Hand, denn ich war eben kein Bauer und wollte auch keiner werden. Ich half hier und da, eben wo ich gerade gebraucht wurde.

    In unserer Nähe saß Terry, unser Hund. Er hatte wie immer einen Stein vor sich und wartete darauf, dass ihn einer von uns nahm und wegwarf, damit er ihn holen konnte. Plötzlich sprang er auf, fing an zu bellen und lief zum Tor. Wir riefen wie auf Kommando: Terry, sofort kommst du hierher! Terry hörte nicht auf zu bellen. Ich lief zum Tor und fasste ihn am Halsband. Das Tor wurde geöffnet und vor uns stand der Postbote. Kommen sie nur herein, Herr Sanders, ich halte den Hund schon fest. Nun erst wagte er sich auf den Hof. Er brachte, wie jeden Tag, die Zeitung und die Post. Erst als der Postbote den Hof wieder verlassen hatte, durfte ich den Hund auch loslassen.

    Nun wollen wir den Wagen gleich abschmieren, sagte Willi, denn wer gut schmiert, der gut fährt. Wir lachten beide. Wer fährt denn morgen mit Vatern mit? fragte ich und war ein wenig neugierig. Na, Paul will doch mitfahren. Er denkt doch, er be-

    kommt eine Lehrstelle bei Lewerenz als Autoschlosser. Ich war ein bisschen erstaunt, denn davon hatte er mir nichts gesagt. Willi lächelte ein wenig. Ach ja, Willi Rose hatte ihm dazu geraten, jetzt fiel es mir ein. Also  morgen will er schon dorthin fahren und sich vorstellen? Willi nickte. Ich wünsche ihm jedenfalls Glück, sagte ich. Wir setzten unsere Arbeit fort und Willi machte es sehr gründlich, wie alles in seinem Leben.

    Die Aussiedlung aus der Provinz Posen, von der mein Vater berichtet, war eine direkte Folge des verlorenen Weltkrieges, laut Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich ohne Abstimmung nicht nur  den polnischen „Korridor" mit der Hauptstadt Posen (heute Poznan) an Polen abtreten, sondern auch Danzig und das Memelland, sowie Elsaß-Lothringen und seine Kolonien. Nach Volksabstimmungen Teile Oberschlesiens im Osten, Nord-Schleswig im Norden und Eupen- Malmedy im Westen. Der gesamte territoriale Verlust des Reiches belief sich auf mehr als 70000 km² mit ungefähr 7,3 Millionen Einwohnern.

    Die Provinz Posen bestand von 1815 - 1920 als Teil Preußens, ab 1871 als Teil des Deutschen Reiches. Nach dem Ersten Weltkrieg fiel die Provinz Posen, mit Ausnahme ihrer westlichen Kreise an den wieder entstandenen polnischen Staat zurück. Bereits am 27.12. 1918 brach unter Führung Panderewskis (späterer polnischer Ministerpräsident) der Posener Aufstand aus, der zu offenen Kampfhandlungen zwischen Deutschen und Polen führte. Am 16.2. 1919 kam es auf Druck der Alliierten zum Waffenstillstand und es wurde eine Demarkationslinie festgelegt. Zwischen 1920 und 1929 enteignete die polnische Regierung viele ortsansässige Deutsche oder sie mussten ihr Land zwangsveräußern.

    Im Falle meines Vaters siedelte sich die Familie 1923  in Pommern an, ganz in der Nähe der Stadt Kolberg (heute Kolobrzeg). Die besondere Tragik liegt darin, dass sich der Großvater erst 14 Jahre vorher in der Provinz Posen als Neusiedler niedergelassen hatte. Offenbar als Folge der Bismarckschen Germanisierungspolitik, die den Anteil der Deutschen in der Provinz anheben wollte. 1890 wurde eigens dafür eine Preußische Ansiedlungskommission gegründet, die das Land von Polen aufkaufen sollte und es nur an auswärtige Deutsche zum Kauf zwecks Ansiedlung anbot.

    1910 waren 2/3 der 2,1 Millionen Einwohner der preußischen Provinz Posen polnisch sprachig, nur 1/3 war deutschsprachig. Deutsche und Polen lebten friedlich nebeneinander. Sie ließen ihre Kinder in Berlin, Breslau oder Heidelberg studieren. Es existierten 2 Theater, das Deutsche und das Polnische, sowie zahlreiche

    deutsche und polnische Kulturvereine. Die westlichen Grenzgebiete waren eher deutsch besiedelt. Kleine Gemeinden waren entweder rein deutsch oder rein polnisch besiedelt, wobei die Deutschen dem protestantischen Glauben anhingen, während die Polen Katholiken waren. Größere Städte neben Posen waren Bromberg, Schneidemühl, Gnesen, und Hohensalza.

    Der Vertrag von Versailles enthielt nicht nur Gebietsverluste, sondern auch hohe Reparationszahlungen, die Besetzung deutscher Provinzen, wie des Saarlandes, sowie des linksrheinischen  Gebiets und rechtsrheinischer Stützpunkte. Er setzte die Stärke des Heeres auf 100000 Mann und die der Marine auf 15000 Mann fest. Eine schwer wiegende Hypothek für die junge Republik bildete der sog. „Kriegsschuldartikel, in dem das Deutsche Reich und seine Verbündeten eindeutig als Urheber des Krieges genannt wurden. Dieser Artikel provozierte in der deutschen Bevölkerung starke Empörung, war doch die überwältigende Mehrzahl der Deutschen 1914 in dem Bewußtsein in den Krieg gezogen, es handele sich um einen von den Feinden aufgezwungenen Verteidigungskrieg. Die sogenannte „Dolchstoßlegende gab die Schuld an der militärischen Niederlage des Deutschen Reiches vor allem der Sozialdemokratie und anderen demokratischen Politikern. Sie besagte, das deutsche Heer sei im Weltkrieg „im Felde unbesiegt" geblieben und habe erst durch oppositionelle vaterlandslose Zivilisten aus der Heimat einen Dolchstoß von hinten erhalten. Diese Legende diente deutschnationalen, völkischen und anderen rechtsextremen Gruppen und Parteien zur Propaganda gegen die Ziele der Novemberrevolution, die Auflagen des Versailler Vertrages, die Linksparteien, die ersten Regierungskoalitionen der Weimarer Republik und die Weimarer Verfassung. Sie begünstigte wesentlich den Aufstieg der NSDAP.

    2. Bewerbung um eine Lehrstelle

    Otto, Otto, komm schnell herein, hier steht eine Stelle für dich in der Zeitung, rief Elfie durch das geöffnete Küchenfenster. Wir schauten uns zuerst an und dann sahen wir zu Elfie, die ganz aufgeregt zu sein schien. Wir ließen unsere Arbeit ruhen und gingen zum geöffneten Fenster. Komm nur herein und schau in die Zeitung, sagte sie immer noch aufgeregt. Mutter und Luise waren über die Zeitung gebeugt und sahen mich strahlend an, als ich eintrat. Da lies selbst, sagte sie, habe ich nicht recht?

    Tatsächlich! Da stand es: Bäckerlehrling für sofort gesucht. Dann folgte der Name des Meisters. Das ist ja im Nachbarort, sagte ich freudestrahlend und sogar an der Ostsee. Da fahre ich sofort hin. Wir alle strahlten vor Freude, denn nun war das Glück ja so greifbar nahe. Nun hieß es, das Glück beim Schopfe packen, um es nicht wieder loszulassen.  Ich war sofort damit einverstanden, obwohl ich einmal gesagt hatte, ich wolle Kaufmann werden. Ob Bäcker oder Kaufmann, das ist mir im Augenblick egal, sagte ich. Hauptsache, ich konnte sofort anfangen. Obwohl ich noch niemals daran gedacht hatte, was von einem Bäcker verlangt wird und auch noch niemals vor einem Schaufenster einer Bäckerei gestanden hatte, war ich sofort einverstanden. Ich wollte den mir bisher unbekannten Beruf erlernen. Ich würde in eine völlig neue Welt eintreten.  Ich schwebte förmlich im Wunschdenken. Plötzlich war es, als senkte ich mich wieder auf die Erde nieder.

    Wie machen wir das jetzt? fragte ich die Mutter. Sie sah mich zuversichtlich an, als ob wir gemeinsam dieselben Gedanken hätten. Da musst du mit Vatern reden, musst ihn bitten, mit dir dahin zu gehen, sagte die Mutter und strahlte genau wie ich über das ganze Gesicht. Luise und Elfie lachten ebenfalls vor Freude. Alles drehte sich um mich und die Lehrstelle. 

    Vater lag im Wohnzimmer auf dem Sofa und wartete darauf, dass man ihm die Zeitung brachte. Diesmal brachte ich sie ihm und wies sofort auf die Annonce hin. Vater war gleich begeistert und fragte, ob ich denn Bäcker werden wolle. Ich hätte doch noch nie so einen Wunsch geäußert. Ich hatte auch bisher noch nicht darüber nachgedacht, sagte ich, weil ich bisher noch keine Angebote bekommen habe.  Aber jetzt bin ich damit einverstanden. Ich kann doch Bäcker lernen, bevor ich überhaupt nichts lerne. Junge! sagte mein Vater, dann gehen wir am Nachmittag dorthin. Mehr als eine Absage können wir ja nicht bekommen. Mit einer Absage bin ich aber nicht einverstanden, sagte ich und machte ein entschlossenes Gesicht. Um den Weg ging es uns beiden nicht und so rüsteten wir uns gleich nach dem Essen. Ich hatte meinen neuen  Anzug angezogen, dazu ein weißes Hemd und einen Binder.

    Das Ostseebad Henkenhagen lag direkt an der Ostsee und im Sommer war hier ein großer Badebetrieb, genau wie in einer Stadt. Hier gab es mehrere Bäckereien und Metzgereien, Kolonialwarengeschäfte, Friseure, Hotels und Kaffeehäuser. In mehreren Gasthäusern war mehrmals im Jahr Tanzvergnügen. Ich war noch nicht oft hier

    gewesen, denn dafür hatten wir nur wenig Zeit. Höchstens, wenn einmal schnell etwas geholt werden sollte, fuhr ich mit dem Rad dorthin. Sonntags gingen wir lieber in den Wald und ruhten uns von der Arbeit aus, die wir in der Woche bewältigt hatten. Der lange Weg bis an die Ostsee gefiel uns nicht und wir hatten nur ein Fahrrad. Die Haupteinkäufe wurden in der Stadt Köslin getätigt, denn dorthin fuhr Luise jeden Sonnabend mit Butter und Eiern. Sie hatte dort ihre Kunden. Von dort brachte sie auch gleich alles mit, was im Haushalt gebraucht wurde und was an Kleidung und dem täglichen Bedarf nötig war.

    An den Sonntagen, wenn wir von der Neugierde überwältigt wurden, gingen wir schon manchmal hin. Wenigstens in den ersten Jahren, als wir die Ostsee noch nicht kannten. Im Sommer jedoch, bei dem großen Badebetrieb, kamen wir uns ein wenig überfordert vor. Der Strand war übervölkert, die Straßen wimmelten nur so von den vielen Menschen. Das war für uns, die wir aus der Einsamkeit kamen, äußerst ungemütlich. Gebadet hatten wir, Paul und ich, auch schon in der Ostsee. Das Wasser war jedoch zu kalt für uns und so hatten wir kein großes Verlangen danach, es ein weiteres Mal zu probieren.

    In diesem Ort sollte für mich nun ein neuer Abschnitt meines Lebens beginnen. Hier sollte „Mein Weg ins Leben" beginnen. Ich wagte gar nicht daran zu zweifeln, dass es nicht klappen könnte. Ich dachte, ich brauchte nur zu sagen: Sie suchen einen Lehrling, bitteschön, da bin ich. Wann darf ich anfangen? Den ganzen Weg über beschäftigte mich nur der eine Gedanke: Wie wird es sein, wenn ich für immer dort bin? Wir redeten unterwegs nicht viel, denn das tat Vater nie. Ein Fuß vor den anderen setzend und in aller Gemütsruhe kamen wir in Henkenhagen an. Jeder war seinen eigenen Gedanken nachgegangen. So standen wir auf einmal vor dem Geschäft. Nun schlug mein Herz doch ein wenig schneller.

    Es war ein stattliches Haus mit zwei Geschäften. Über dem einen Laden stand Kolonialwaren und Delikatessen, über dem anderen stand Bäckerei und Konditorei. Beide Geschäfte waren durch eine Flügeltür miteinander verbunden. Zunächst blieben wir einen Augenblick stehen und betrachteten die Schaufenster. Vater schien von ihrem Anblick sehr zufrieden zu sein. Sicher würde er es gern sehen, wenn ich hier angenommen werden würde. Ich kannte das Geschäft schon, weil ich hier manchmal etwas einkaufen musste. Außerdem hatte ich die Tochter, Luzie, schon gesehen, denn sie war in meinem Alter und ging mit mir zusammen zum Konfirmandenunterricht in Lehnde, weil hier keine Kirche war. Sicher wird sie mich nicht kennen, na, das war ja auch egal.

    Wir betraten den Laden. Mehrere Kunden warteten, einige wurden bedient. Die Frau des Meisters und Luzie bedienten sehr geschickt und freundlich. Meine Augen verfolgten ihre Tätigkeiten. Die freundlichen Worte, die sie mit den Kunden wechselten imponierten mir sehr. Natürlich warteten wir, bis wir an der Reihe waren. So hatte ich genug Zeit, mich nach allen Seiten umzuschauen.  Was es hier alles gab. Ich kam aus dem Staunen gar nicht heraus. Es war ein richtiges Warenlager. Wie konnte man die Preise alle im Kopf haben? Luzie musste schon allerhand können. Hier gab es: Zucker, Butter, Eier, Mehl, Kaffee, Schokolade, Kakao, Zigaretten,

    Waschmittel und Seife, Heringe, Sirup, Postkarten, Schreibblöcke und Kautabak. Mehr wollte  ich nicht aufzählen, denn ich wäre wahrscheinlich nie fertig geworden.

    Wir warteten noch immer. Der Laden füllte sich immer wieder. Ich warf schnell noch einen Blick in den Bäckerladen. Hier sah es bedeutend aufgeräumter aus. Hier gab es nur Brot, Brötchen, Schnecken, etwas Kuchen und einige Kekse. Dieser Laden gefiel mir bedeutend besser.

    Nun waren wir endlich an der Reihe. Vater hatte schon einige Kunden vorgelassen. Freundlich fragte die Frau Meisterin nach unseren Wünschen. Ich komme auf die Annonce hin wegen einer Lehrstelle für meinen Sohn, sagte Vater. Einen Moment, rief sie uns zu und ging durch eine Tür in die Wohnung. Nach einer kurzen Weile kam sie mit dem Meister wieder. Der Meister war ein großer und etwas hagerer Mann, so um die Mitte fünfzig. Er begrüßte uns freundlich und gab Vatern die Hand. Sie wollen ihren Sohn als Lehrling empfehlen? fragte er. Vater nickte. Nun forderte der Meister uns auf, ihm in die Wohnung zu folgen. Die Einrichtung machte Eindruck auf mich. Wir nahmen am Wohnzimmertisch, der in der Mitte stand, Platz. Der Meister bot Vatern eine Zigarre an und steckte sich selbst eine in den Mund. Erst als sie qualmten, begann das Gespräch. Zunächst stellte Vater sich vor und brachte nochmals seinen Wunsch zum Ausdruck. Dann begann das Gespräch, das sofort einen freundlichen und lebhaften Verlauf nahm.

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    Kolberg 2008, mutmaßlich das Haus, in dem die beiden Geschäfte waren.

    Der Meister machte darauf aufmerksam, worauf es ihm bei einem Lehrling ankam,

    was ein Lehrling alles lernen sollte, was seine Haupttätigkeiten seien und wie lange die Arbeitszeit sei. Zuweilen lobte er die Arbeit in der Bäckerei, gerade als wenn er mich umwerben wollte. Ich hörte genau zu und kam jetzt schon zu dem Schluss, dass es mehr nach einer Zusage aussah als nach einer Ablehnung.

    Nun begann Vater seine Trümpfe auszuspielen. Er sprach über meine Jugend, meine Schulleistungen und über meine jetzige Tätigkeit auf dem elterlichen Hof. Ich hätte schon immer etwas lernen wollen und an der Bäckerei lag mir schon immer sehr viel. Der Meister schmunzelte und ich geriet immer mehr ins Staunen. So kannte ich Vatern überhaupt nicht, er war mit lobenden Worten über uns immer sehr sparsam gewesen. Noch einmal auf meine Schulleistungen zurückkommend, sagte der Meister: Wer fleißig in der Schule war, ist auch fleißig im Beruf. Er sah zuerst mich an, dann schaute er auf Vater. Ich zeigte ihm mein Schulzeugnis und der Meister war zufrieden. Nun hatte ich meine Zusage wohl bereits in der Tasche. Dann betonte er noch, dass seine Lehrlinge bisher alle ausgelernt hätten und tüchtige Gesellen geworden seien, auch sein Sohn hätte gerade ausgelernt. Dasselbe wünsche er auch von mir, sagte der Meister und sah mich sehr ernst an.

    Vater betonte seinerseits: Als Muttersöhnchen habe ich meinen  Sohn nicht gerade erzogen. Wenn er einmal nach Hause kommen sollte, weil es ihm nicht mehr gefällt, dann würde ich ihn wieder zurückschicken. Der Meister schmunzelte und schien mit dieser Feststellung zufrieden zu sein. Nun musste ich aufstehen und mitten in das Zimmer treten. Dann ging er rund um mich herum und musterte mich von allen Seiten. Er beteuerte noch einmal, dass es hier eine gute Lehrstelle sei und dass ich viel lernen könne. Im Sommer habe er noch drei Gesellen und im Winter arbeite er mit seinem Sohn und einem Lehrling.

    Ich war sehr begeistert von dem Gespräch und merkte mir alles genau, was in diesen fast zwei Stunden gesprochen wurde. Ja, ich konnte jetzt schon sagen, der Meister sollte mein Lehrmeister werden. Der Antrittstermin wurde auf den 1. April festgesetzt.  Der Meister verabschiedete meinen Vater und mich sehr herzlich und wir gingen auseinander.

    Auf dem Rückweg wurde Vater ein klein wenig gesprächiger. Da haben wir ja großes Glück gehabt, sagte er und war sehr zufrieden. Nun wirst du also ein Bäcker. Bei mir bestand von Anfang an kein Zweifel, dass ich angenommen werden würde, sag-te ich voller Zuversicht. Vater lachte: Das ist aber nicht immer so, manchmal muss man von einer Stelle zur andern laufen und die Suche dauert mitunter länger als ein Jahr. Paul ist genauso zuversichtlich, dass er angenommen wird, wenn er morgen in die Stadt mitfährt, wandte ich ein. Woher nehmt ihr bloß euren Optimismus? fragte Vater.  Wenn man jung ist, ist man auch Optimist, sagte ich darauf. Hast du gehört, wann du morgens früh aufstehen musst? fragte Vater. Ja, ich habe schon aufgepasst, sagte ich ein wenig kleinlaut. Im Sommer bereits um vier und im Winter um fünf Uhr. Dafür ist aber bereits am frühen Nachmittag Feierabend und ich kann mich dann nochmals hinlegen. Jeder Beruf hat seine Eigenarten, an die man sich erst gewöhnen muss. In diesem Sinne zerstreute ich die Bedenken, die Vater äußerte. Bauer wollte ich doch nicht werden und da bin ich froh, dass ich

    nun eine Lehrstelle gefunden habe. Henkenhagen ist ja nicht weit von zu Hause, da kannst du uns oft besuchen. Ein wenig schien Vater mir doch entgegen kommen zu wollen. Wenigstens an den Sonntagen, betonte er.

    So überlegte ich, wie es sein würde, wenn ich erst für immer dort bei fremden Menschen im schönen Ostseebad bin. Aufleben würde ich wie ein Vogel, den man aus einem Käfig in die Freiheit entlässt. Jetzt taten mir meine Geschwister und meine Eltern leid, die weiter in der Einsamkeit leben mussten. Ja, Lindenhof war einsam. Es waren eben nur 12 Siedler, die auf ihrem Grund und Boden gebaut hatten. Kein Weg führte durch ein gemeinsames Dorf. Wenn man zu seinem Nachbarn wollte, musste man an der Grenze entlang gehen, oder man ging einfach quer über das Feld. Oft sahen wir lange Zeit keinen Nachbarn. Wenn dann mal jemand zu uns kam, dann liefen wir gleich alle hin und wunderten uns, dass es außer unserer Familie noch mehr Menschen gab. Nur die drei Maurer kamen täglich, solange bei uns gebaut wurde. Das alles sollte nun für mich anders werden.

    Über einen Verdienst hat der Meister überhaupt nicht gesprochen, sagte ich nach einer Weile zu Vatern. Du wirst sicherlich auch nichts bekommen, solange du lernst. Früher, als ich in deinem Alter war, mussten die Jungen noch Lehrgeld mitbringen, sonst wurden sie gar nicht angenommen, erklärte er. Ich habe mich schon gewundert, dass der Meister von mir nichts verlangt hat, deshalb habe ich auch gar nicht gefragt. Und die Backstube hat er mir auch nicht gezeigt, sagte ich, nachdem ich die Belehrung verdaut hatte. Von der Backstube sprach der Meister, sagte Vater. Der Ofen ist bereits eingerissen, es wird ein neuer gebaut.  Ich tat ein wenig verwundert, denn das hatte ich tatsächlich überhört. Ich ging weiter meinen Gedanken nach und war nicht mehr zu Hause und auch noch nicht in meiner neuen Heimat. Bald würde sich eine neue Welt  vor mir  auftun und ich würde einen neuen Weg beschreiten, ich würde den „Weg ins Leben" gehen.

    Froh gelaunt kamen wir zu Hause an. In der Küche erwarteten sie uns alle, denn sie waren neugierig und wollten wissen, was der Meister gesagt hatte. Mutter war es, die zuerst fragte, aber sie sah es unseren Gesichtern  schon an, dass es geklappt hatte und deshalb fragte sie nur: Wann fängst du dort an?  Am ersten April, sagte ich zufrieden. Nun wurden die anderen auch lebhaft und die Fragerei ging los. Vater ging ins Wohnzimmer und legte sich aufs Sofa. Ihn hatte der Weg angestrengt.

    Jeder fragte nun etwas anderes und ich wusste gar nicht, was ich zuerst beantworten sollte. Was hat der Meister zu dir gesagt, fragte Mutter. Hat er Gefallen an dir gefunden und wie hat der Meister dir gefallen? Alles in Ordnung, sagte ich, ich habe ihm imponiert. Luise kannte das Geschäft ja schon, Paul und Willi auch schon, aber Mutter, Elfie und Helmut waren noch nie dort. Ja, sie waren alle ganz außer sich vor Freude. Ich war schließlich der erste, der das Haus verließ. Mutter sah mich ein wenig nachdenklich an und schwieg. Ich dachte dabei an den Abschied. Dann wirst du jetzt immer Brötchen essen, sagte Elfie und lachte. Und mir kannst du dann erzählen, wie man die Kuchen backt, sagte Luise. Mir kannst du dann sonntags, wenn du kommst, immer Semmeln mitbringen, erbat sich Helmut. Ich

    erzählte von den beiden großen Geschäften, die dem Meister gehörten und von der vielen Ware, von der Freundlichkeit, mit der wir empfangen wurden und von der langen Unterredung, die wir mit dem Meister hatten. Auch wie der Meister mich gemustert hatte und welche Fragen er an mich gerichtet hatte.

    Dann ist ja soweit alles klar, sagte Willi schließlich. Am ersten April wirst du uns verlassen. Dass du auch kein Heimweh bekommst. Nun erst wurde mir klar, dass bald der Abschied auf mich zukam. Ich sagte nur kurz: Jawohl und bis dahin tue ich nichts mehr. Der Abschiedsschmerz war damit vergessen und alles lachte.

    An den folgenden Tagen ordnete ich meine Sachen und legte alles zurecht, was ich mitnehmen wollte. Natürlich tat ich das nicht allein, Mutter und Luise halfen mir dabei. Luise nähte mir weiße Schürzen und auch Mützen, die ich sogleich ausprobieren musste. Wir lachten darüber, wie verändert ich damit aussah. So verging ein Tag nach dem anderen, oft saß ich in der Sonne und dachte über alles nach. Ich musste Abschied nehmen von meiner vertrauten Umgebung, von den Haustieren und von unserem Hund. Alles musste ich verlassen, denn ich schritt in eine neue Welt. Ein wenig musste ich mich schon zusammenreißen, um die Gedanken zu unterdrücken, die der Abschied hervorrief.

    Als dann der 1. April da war, da war nicht nur ich nervös, sondern die Nervosität hatte die anderen auch befallen. Für das Mittagessen ließ ich mir kaum Zeit und es wurde auch kaum gesprochen, jeder wollte mir helfen. Als dann Willi den Wagen vor die Tür geschoben hatte, begannen wir, die Koffer herauf zu stellen. Insgesamt hatte ich zwei Koffer und einen Pappkarton. Nun hatten wir wieder Zeit. Ich hatte schon meinen neuen Anzug an und ging ein wenig auf und ab.

    Paul war auch da. Ihn hätte ich fast vergessen, denn ich dachte im Moment nur an mich. Er hatte auch die gewünschte  Lehrstelle bei Lewerenz bekommen, aber er hatte noch einige Tage Zeit. Er musste jeden Morgen mit dem Fahrrad nach Kolberg fahren, denn sein Meister hatte keine Schlafgelegenheit für ihn. Das war für ihn eine ganz schöne Belastung. Ob er das wohl durchhält? fragte ich mich.

    Nun kam Willi mit den Pferden und spannte sie an. Ich begann mich zu verabschieden und gab jedem die Hand. Sie waren alle versammelt. Ich musste jetzt tapfer sein. Dann stiegen Willi und ich auf den Wagen und bei „Los!" zogen die Pferde an. Alle standen sie auf dem Hof oder auf der Treppe und winkten. Ich winkte zurück und rief: Auf Wiedersehen! Willi fuhr durchs Tor und weiter auf den Weg, der uns immer weiter von zu Hause weg brachte. Eine Buschgruppe versperrte uns nach einer kurzen Strecke die Sicht und nun waren wir allein. Die Pferde, die ein wenig getrabt waren, gingen nun langsam auf dem sandigen Weg.

    Ich betrachtete nun die Felder, die zum Teil zum elterlichen Hof gehörten. In den Niederungen lagen noch die Reste vom Schnee, aber im Großen und Ganzen waren die Felder trocken  und man hatte schon mit der Bearbeitung des Bodens begonnen. Die Felder mit der Wintersaat strahlten im saftigen Grün, der Frühling hatte schon überall seinen Einzug gehalten. Überall sah man die Bauern bei der Feldarbeit, manche streuten künstlichen Dünger aufs Land. Alles das war nun für mich

    ein Stück Vergangenheit, weil ich eben kein Bauer werden wollte. Jetzt gerade war ich auf dem Weg in eine neue Zukunft. Das Glück war zu mir gekommen und wenn es mir treu bleibt, wird es mir ein schönes Leben bescheren, dachte ich. Freust du dich nun? fragte Willi. Ich hoffe, dass mir das Glück weiterhin treu bleibt, sagte ich. Ein bisschen Glück gehört dazu, sonst ist alles für die Katz. Willi nickte: Du hast wirklich Glück gehabt und Paul auch. Zwei gehen auf einmal aus dem Haus. Ja, man muss an das Glück glauben und man muss es auch behutsam behandeln, so wie man einen guten Freund behandelt, den man nicht verlieren will.

    Auf der Chaussee trabten die Pferde wieder an, so dass uns der Frühlingswind um die Ohren strich. Nördlich dieser Chaussee lag der Ort Henkenhagen, er war weit auseinandergezogen. Zeitweilig konnte man die Ostsee sehen. Fast drei Kilometer mussten wir in westlicher Richtung fahren, erst dann bog ein öffentlicher Weg ab, der ins Dorf führte. An diesem Weg standen lauter strohbedeckte Häuser, man nannte sie deshalb Katen. Hier fuhren wir entlang, der Weg war sandig und wir wirbelten eine Menge Staub auf. Wir sahen die Bewohner dieser Katen, sie blieben stehen und sahen uns an. Ein gegenseitiges Kopfnicken war der Gruß. Im Dorf bogen wir wieder nach rechts ab und waren bald am Ziel. Nun standen wir vor dem stattlichen Haus mit den beiden Geschäften. Nun war ich da, wo ich für die nächsten drei Jahre bleiben sollte. Wir blieben einen Augenblick sitzen und überlegten, da kam Luzie, die uns zuerst erblickt hatte, weil sie gerade im Laden war. Sie bat uns zu warten, denn der Arno würde sofort kommen.

    3. In der Lehre

    Arno kam auf uns zu. Er war groß und schlank, genau wie der Meister, sein Vater. Er begrüßte uns beide und sagte zu mir: Also du bist der neue Lehrling? Wir lachten uns beide an. So habe ich mir einen Lehrling auch vorgestellt, hoffentlich gefällt es dir bei uns. Nun hatten wir Kontakt aufgenommen. Es wird mir schon gefallen, auch wenn alles ganz neu für mich ist, versuchte ich, die eben geäußerten Bedenken zu zerstreuen. Arno forderte nun Willi auf, an die Seite heranzufahren und dann stellten wir die Koffer herunter. Arno nahm selbst einen Koffer und Willi nahm den anderen. Ich trug den Pappkarton und so gingen wir durch das Haus auf den Hof. Von hier führte eine Holztreppe nach oben. Wir kamen zuerst auf ein Podest und dann ins Zimmer. Hier standen zwei Betten, ein Tisch, zwei Stühle und ein Schrank. Auf dem Tisch stand eine Petroleumlampe.  Nicht mehr als sein muss, dachte ich, aber gemütlich. Wir stellten unsere Sachen ab. Hier ist dein Quartier, sagte Arno, du schläfst zusammen mit Emil, das ist unser Arbeiter. Wir haben nämlich auch ein Pferd, zwei Kühe und Schweine, die versorgt werden müssen. Außerdem auch Federvieh. Willi und ich staunten immer mehr, das hatten wir nicht gedacht. Wir haben auch fünf Morgen Land, sagte Arno noch zu unserem Erstaunen. Wir stellten unsere Sachen ab, denn einräumen wollte ich sie, wenn Emil da ist. Es gefällt mir gut, sagte ich zu Arno, etwas anderes habe ich gar nicht erwartet. Arno sah mich zufrieden an und lächelte. Wir gingen zusammen hinunter und verabschiedeten uns von Willi. Ich trug ihm noch Grüße für zu Hause auf.

    Jetzt muss ich mich aber gleich beim Meister vorstellen, sagte ich zu Arno. Immer mit der Ruhe, erwiderte er, nichts überstürzen! Auf dem Hof lagen Steine, ganze Berge von großen und kleinen, breiten und schmalen Steinen. Dazwischen lagen auch Eisenteile und Sandhaufen. Was bedeutet das alles? fragte ich deshalb Arno. Das wird der neue Ofen, sagte Arno, den alten haben wir bereits abgerissen, den lernst du gar nicht mehr kennen.

    Wir gingen nun in die Wohnung zum Meister und der Frau Meisterin. Ich heiße Otto Lemm und bin der neue Lehrling, sagte ich und gab der Frau Meisterin die Hand. Luzie stand daneben und so begrüßte ich sie auch gleich. Sie begrüßten mich sehr freundlich. Ich gab mich nun der Luzie zu erkennen und sagte ihr, dass ich sie bereits aus dem Konfirmanden Unterricht her kenne. Ja? fragte sie, kennen wir uns von dort? Natürlich, sagte ich. Hans und Kurt Schönberg kenne ich auch, denn sie waren auch dort. Die Frau Meisterin fragte, wie viel Geschwister wir seien? Sieben, sagte ich, ich stehe genau in der Mitte. Sie machte ein erstauntes Gesicht und Luzie kicherte. Wir sind nur drei, sagte sie ein wenig spöttisch. Mir gefällt eine große Familie ganz gut, sagte ich mit ein wenig Stolz.

    Hat Arno dir schon deine Stube gezeigt? fragte die Frau Meisterin. Alles schon erledigt, sagte ich, meine Sachen sind bereits oben. Ich werde aber mit dem Auspacken warten, bis Emil da ist. Sie schienen mit mir zufrieden zu sein. Arno stand die ganze Zeit neben uns und nickte zuweilen. Plötzlich sagte er: Komm Otto, jetzt werde

    ich dir die Backstube zeigen. Ich nickte und folgte ihm. Wir gingen wieder über den Hof in einen Raum, in dem die Maurer arbeiteten. Ein Lärm, ein Hämmern und Klopfen empfing uns. Der alte Ofen wurde noch immer auseinandergestemmt.  Man war dabei, den Schutt wegzuräumen.

    Hier war auch der Meister und ich stellte mich nun ihm vor. Er wollte wissen, ob ich schon alle meine Sachen mitgebracht hatte. Jawohl Meister, sagte ich, ich habe alle meine Sachen hier und kann sofort mit der Arbeit beginnen. Der Meister war zufrieden und sagte: Nein, nein, lass nur, dafür haben wir unsere Leute. Bei dieser Gelegenheit stellte Arno mir auch Emil vor, der mit einem Handlanger den Schutt wegräumte. Emil war meiner Schätzung nach 25 Jahre alt und tat alle Arbeit, die neben den beiden Geschäften anfiel. Er hatte nebenbei das Pferd zu versorgen und die beiden Kühe. Wir unterhielten uns sehr freundlich. Heute war für mich nichts mehr zu tun. Ich konnte mir alles ansehen und ließ mir von Arno vieles erklären.

    Als die Maurer ihre Arbeit beendet hatte, ging ich mit Emil auf die Stube. Wir freundeten uns bald an. Er wohnte hier im Ort in der Fischerstraße. Sein Vater arbeitete hier im Augenblick als Handlanger, dem Emil half. Ich erzählte ihm, von  meinen Eltern und wie ich zu dieser Stelle kam. Da hast du aber Glück gehabt, dass du gleich eine Stelle gefunden hast, bemerkte er. So schnell findet man heute keine Stelle. Mein Bruder Paul hat vor kurzem auch eine Lehrstelle als Autoschlosser gefunden, allerdings in Kolberg. Ich will auch noch lernen, wenn sich die Gelegenheit bietet, obwohl ich schon 25 bin. Was denn? fragte ich. Maurer will ich werden, mein Bruder ist Zimmermann. Emil schwärmte für diesen Beruf.

    Jetzt packte ich meine Sachen aus und wir räumten alles gemeinsam in den Schrank. Anschließend gingen wir in den Stall und ich konnte mich hier umsehen. Dort standen das Pferd und die beiden Kühe, auf der anderen Seite waren die Buchten für die Schweine. Emil fütterte das Pferd und Marie war beim Melken. Auch mit ihr machte ich mich bekannt, als sie fertig war. Sie war auch 25  und war das Mädchen für alles. Ich erzählte ihr auch, wo ich herkam und fragte sie, ob sie schon von Lindenhof gehört hätte. Nein, sagte sie, wo liegt denn der Ort? Sehen Sie, sagte ich lachend, Sie haben noch nicht von Lindenhof gehört, obwohl der Weg dorthin gar nicht weit ist, ich dagegen war schon in Henkenhagen und habe sogar in der Ostsee gebadet. Ist ja nicht möglich, rief sie begeistert und lachte. Emil lachte natürlich mit.

    Ich will euch beide nun zum Essen einladen, sagte sie und wir folgten ihr ins Haus. Marie wohnte auch im Ort und war schon mehrere Jahre hier. Sie hatte sich unentbehrlich gemacht. Zum Abendbrot hatte sich die ganze Familie versammelt. Wir saßen alle um den Tisch herum. Für mich war schon ein Platz reserviert.  Jetzt kannte ich sie bald alle, nur Onkel Theodor war mir noch unbekannt, aber nicht mehr lange. Onkel Theodor war der Bruder der Frau Meisterin. Er war unverheiratet und machte sich nützlich, wo er konnte. Eine große Familie, die sich hier versammelt hatte. Die Stullen waren bereits fertig gemacht und wir konnten sofort beginnen. Sie lagen auf Stullenbrettchen, jeweils auf dem Platz, an den wir uns setzten. Beim Essen wurde nicht viel gesprochen, auch der Meister und die Frau Meisterin sprachen kaum. Mich fragte sie nur, ob mir die Stullen genügten. Danke, sagte ich, es reicht vollkommen,

    Als Emil und ich fertig waren, sagten wir. Gute Nacht! und gingen. Nun gingen wir abermals in den Stall. Er gab dem Pferd das letzte Futter, hielt ihm Wasser hin und schaute nochmals nach den Kühen und den Schweinen und dann war alles erledigt. Er schloss den Stall ab und wir gingen anschließend auf die Straße.

    Er wollte mit mir nun einen Bummel durch den Ort machen. Emil erklärte mir, wer hier und dort wohnt und erzählte von den Leuten, was er so über sie wusste. Dann erzählte er vom Leben und Treiben während der Sommermonate. Er schwärmte förmlich vom Badebetrieb. Ab und zu begrüßte er Bekannte. Manche begrüßte er im Vorbeigehen und bei anderen blieb er einen Augenblick stehen. Sie tauschten Neuigkeiten aus. Meist fragten sie, wer ich sei und Emil erzählte es ihnen. So wurde ich eher bekannt, als ich dachte. Wir gingen in östlicher Richtung bis ans Ende des Ortes, wo die vielen Geschäfte waren und die villenartigen Häuser standen. Jedes der Häuser war von einem Garten umgeben, in dem große Bäume standen und Beerensträucher. Die ersten Frühlingsblumen waren auch schon zu sehen. Die Luft war mild und die Vögel zwitscherten. Am Ende des Ortes führte die Straße in einen Wald. Wunderbar! sagte ich immer wieder. Wir setzten uns auf eine Bank, die hier am Waldrand stand. Was werden wohl meine Eltern und Geschwister jetzt von mir denken? fragte ich ganz plötzlich. Bestimmt können sie sich nicht vorstellen, dass ich jetzt spazieren gehe und mich über mein Glück freue. Das wird noch viel schöner, sagte Emil. Lass es erst mal Sommer werden, dann hast du zwar mehr Arbeit, aber das Leben ist trotzdem schöner. Ich bin schon jetzt zufrieden, besser braucht es gar nicht zu werden. Ich habe es jedenfalls geschafft, aus der Einsamkeit auszubrechen.

    Wie ist es denn bei euch? wollte Emil wissen. Bei uns werden sie wohl jetzt alle im Bett liegen, sagte ich. Was sollen sie denn anfangen? Lindenhof ist ja kein Dorf, wo man spazieren gehen kann. Da wohnt jeder auf seinem Grundstück. Eine Dorfstraße gibt es einfach nicht. Emil konnte sich sicher nichts darunter vorstellen und fragte deshalb auch nicht weiter. Nun machten wir kehrt und gingen anschließend durch die Fischerstraße. Emil zeigte mir das Haus seiner Eltern. Diese Straße verlief unmittelbar auf der Düne und man hatte die See vor sich. Allerdings ging es etwa 30 Meter hinunter. Oft sah man Treppen, die hinunter führten.

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    Henkenhagen 2008, heute Ustronie Morskie, Häuser auf dem Deich mit Zugang zum

    Strand

    Ist doch komisch, sagte ich, früher habe ich das alles gar nicht gekannt und jetzt soll es für mich zu einem Bestandteil meines Lebens werden. Ihr wisst gar nicht, wie gut ihr es hier habt. Das kann ich besonders beurteilen, weil ich das bisher noch nicht kannte.

    Zu Hause angekommen, gingen wir sofort aufs Zimmer. Das Rauschen des Meeres drang durch das offene Fenster. Zu uns, es war für mich etwas völlig Neues. Das Haus lag direkt auf der Düne, keine 20 Meter weiter ging es etwa 30 Meter hinab. Ist es dir zu laut? fragte

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