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Das rote Seidenkleid: Roman
Das rote Seidenkleid: Roman
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eBook370 Seiten5 Stunden

Das rote Seidenkleid: Roman

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Über dieses E-Book

Sommer 2014. Lina Haussmann kämpft mit den Dämonen, die sie bedrängen: der Schuld, die sie sich am Tod ihrer Tochter Priya gibt und der Sorge, den adoptierten Sohn Benny zu verlieren, der nach dem Abitur losgezogen ist, um in Nepal nach seinen leiblichen Eltern zu suchen.

Sie bricht auf. In dem beschaulichen Idyll einer kleinen Insel der Dänischen Südsee begegnet sie dem beurlaubten Polizisten Heinrich Nikolaus Schliemann, der bei einem Hubschrauberabsturz Schwester und Eltern verloren hat. Die beiden, in ihrem jeweiligen Unglück festgefahren, kommen sich schnell näher.

Schliemann hat eine Leidenschaft für die griechische Kunst und Mythologie sowie alte Instrumente. Zurückgezogen lebt er mit der Katze Selene, die ihm von seiner Familie verblieben ist. Er hegt schon bald den Verdacht, dass Linas Ehemann Gerrit auf den Reisen nach Indien und Nepal dunkle Geschäfte treibt, und er nimmt - nicht ganz ohne eigene Motive - die Fährte auf.

Kriminelle Machenschaften, illegale Medikamententests an Kindern, Betrug und Verrat kommen ans Tageslicht.

Die Protagonisten geraten in einen Strudel aus Sein und Schein, denn sie zu entrinnen versuchen, während sich die Ereignisse in dramatischer Zuspitzung verdichten.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum14. Dez. 2015
ISBN9783737580601
Das rote Seidenkleid: Roman

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    Buchvorschau

    Das rote Seidenkleid - Dorothée Linden

    Prolog

    Er stand an der Reling und blickte in das dunkle, wabernde Wasser. Fürs Erste war alles erledigt. Soeben hatte er mit Sven das Schleppnetz ausgefahren. Frühestens in eineinhalb Stunden würden sie mit dem Säubern des ersten Fangs beginnen können. Er dachte an Mieke. Statt hier in der Kälte herumzustehen, wäre es deutlich verlockender, unter ihrer warmen Decke zu liegen. Ganz allmählich begannen die Wellen, sich aus der Nacht heraus zu wiegen, ein schmaler Streifen ließ schon den Horizont erahnen. Gedankenverloren schweifte sein Blick in die Ferne. Er kniff die Augen zusammen und blinzelte. Irgendetwas schwamm dort, was da nicht hingehörte, es war kein Dorsch und auch kein Seehund. Das stand mal fest. Er warf die Zigarette, die er sich außerhalb der Sichtweite des Steuermanns angezündet hatte, in die See und schrie die Besatzung herbei. Es dauerte eine Weile, bis sie die Person aus dem Wasser gezogen hatten. Sven pumpte auf ihr herum und rief ihnen zu, sie sollten Decken holen und die Seenotrettung  verständigen, man müsse einen Arzt schicken. Der Steuermann wendete den Kutter, sie zogen das Netz wieder ein und fuhren zielstrebig zur Küste zurück. Das sah verdammt nach Feierabend aus. Da würde Mieke sich aber wundern.

    1

    Am 16. Juli trat Rosalina Haussmann ins Freie, hinaus in die warme Luft des lauen Sommerabends. Schritt für Schritt entfernte sie sich von einem der vornehmen Landhäuser der Gegend, das der Architekt nach den speziellen Vorgaben ihres Mannes entworfen hatte. Schritt für Schritt schlurfte sie davon, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Das beruhte keineswegs auf einem Entschluss, der von langer Hand vorbereitet gewesen wäre oder der in vollem Bewusstsein nach und nach an Reife gewonnen hätte. Rosalina war vielmehr gestoßen worden, hinaus geschleudert von einer rotierenden Unwucht, die sich ihrer bemächtigt und an Geschwindigkeit gewonnen hatte.

    Rosalina, von ihrer Familie und ihren Freunden Lina genannt, ging. Sie, die stets zugewandte Frau an der Seite ihres Mannes Gerrit, schön, gescheit und fürsorgliche Mutter ihres verbliebenen Kindes. Die Firma hatte Gerrit auf eine Geschäftsreise geschickt, frühestens in zwei bis drei Wochen würde er zurückkehren, hatte er gesagt. Ihr Sohn Benjamin hatte ohne ihr Wissen die Vorbereitungen für ein Praktikum im Ausland getroffen, aus seinen Ersparnissen den Flug nach Kathmandu bezahlt und sich am Ende von einem auf den anderen Augenblick ihrer mütterlichen Liebe entzogen, sechstausendfünfhundertsechsundsiebzig Kilometer Luftlinie weit weg, sie hatte es gegoogelt.

    Mein Junge, mein kleiner Junge, warum nur bist du von uns fortgegangen?, kreiste es stereotyp durch ihre Gedanken, unaufhörlich, ohne Unterlass, seitdem sie Benny an der Absperrung im Flughafengebäude hinterher gewunken hatte, vor mehr als drei schier endlos scheinenden Wochen. Die marternde Sorge um ihn hatte die Frequenz der unrunden Schwingungen in ihr bis zu einer Kraft beschleunigt, die sie selber nicht länger zu halten vermocht hatte.

    Sie hatte die Abendnachrichten im Fernsehen eher teilnahmslos laufen lassen und den Rest eines nicht mehr frischen Linsengerichts in sich hineingelöffelt, das sich im ansonsten nahezu leeren Kühlschrank befunden hatte.

    Als sie die Entwicklung der Börsenkurse durchgegeben hatten, war sie aufgestanden, hatte den Fernseher ausgeschaltet, das Geschirr in die Küche gestellt und war eine halbe Ebene tiefer ins Schlafzimmer hinübergegangen. Sie hatte sich ausgekleidet und eine Weile ihr Spiegelbild betrachtet. Sicher, es ging ihr gut, sie hatte Familie, wohnte in einem schicken Haus und steckte in einem wohlgeformten Körper, doch dennoch stand alles in spottendem Widerspruch zum Zustand ihrer erstarrten Seele.

     Sie hatte tief durchgeatmet und sich wieder angezogen, Schicht um Schicht, bis sie glaubte, der Kühle der Nacht gewappnet zu sein. Die geräumige Tasche mit dem gefälschten Louis-Vuitton-Label hatte sie liegen lassen und stattdessen einen leichten, schwarzen Nylonrucksack genommen, in den sie eine Kunststoffdecke mit dem Aufdruck einer Fluggesellschaft hineinstopfte, einen Spiralblock, Stifte, Seife, ihr Handy, die Geldbörse und drei Dosen Diazepam-Pillen, schließlich eine Plastikflasche Wasser und das Stück Brot, das noch übrig war. Mehr würde sie nicht brauchen.

    Sie war nicht viel länger als eine Stunde unterwegs und bereits jetzt am Ende ihrer Kräfte. Den kurz aufflammenden Gedanken, umzukehren zu ihrem großen weichen Bett, verwarf sie müde. Sie stolperte über eine Wurzel, die quer über den ausgetretenen Weg verlief. Bald würde es stockfinster sein. Die dunklen Wacholderbüsche ragten spitz in den blauschwarzen Himmel. Lina tastete sich bis zu einer kleinen, sandigen Lichtung vor. Mit jedem Augenblick verloren die schemenhaften Gestalten der Bäume um sie herum an Gestalt. Sie nahm den Rucksack ab, legte sich darauf und rollte sich ein, um ihren Körper auf dem glatten Nylon zu betten. Es war still. So still. Ihr eigener Atem würde weithin hörbar sein. Ein lautloser Regen setzte ein und sprühte einen feuchten Film auf ihr Haar und auf die Decke, die viel zu klein war für sie. Der Sand nahm die Tröpfchen dürstend auf in der hereinbrechenden Nacht, die für die Natur Erholung versprach, nach einem heißen und trockenen Sonnentag.

    Sie fröstelte. Die Stille drückte schwer auf ihr Gemüt. Und schon begann sie hinaufzukriechen, die Begleiterin der Nacht mit ihren dunklen Nischen. Sie machte sich weit und breit und ergriff Besitz von ihr, umschloss sie, zielstrebig, unaufhaltsam, den Atem raubend. In den Schultern und im Nacken flimmerten Tausende Nadeln wie unter Strom. Der Kloß im Bauch brannte, wuchs und wuchs und stemmte sich gegen die Rippen. Der Magen krampfte. Übelkeit stieg auf, gespeist aus stumpfem Einerlei. Auf der regennassen Stirn ergoss sich kalter Schweiß. Blind kramte Lina in ihrem Rucksack nach einem der Döschen und entnahm zitternd zwei der kleinen Pillen. Sie spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter und hoffte auf die Lethargie, die nicht allzu lange auf sich warten lassen würde. Lethargie, Lethargie wiederholte sie betont langsam und versuchte, all ihre Konzentration auf die drei Silben dieses Wortes zu legen, um die Dämonen zu vertreiben, die sich ihrer bemächtigt hatten.

    2

    Endlich war er sein eigener Herr, das war die Hauptsache. Benjamin Benny Haussmann hatte die Aufgabe, die Kinder des Waisenhauses zu betreuen, sie zur Schule zu bringen, in Englisch zu unterrichten und all das zu erledigen, was gerade anlag. In der ersten Woche nach seiner Ankunft in Kathmandu war er stumm geblieben. Zu sehr hatte es ihn beschämt, ein ungleich besseres Leben führen zu können als all die Kinder hier. Im Gegensatz zu ihnen hatte er Eltern, die ihn aus diesem Waisenheim heraus adoptiert und mit nach Deutschland genommen hatten, die ihn liebten und großgezogen hatten, in einem Zuhause mit eigenem Zimmer und Unmengen an mehr oder weniger nützlichen Dingen.

    Die körperliche Schwäche und Anfälligkeit, die ihn als Baby ständig hatte krank werden lassen, wie man ihm gesagt hatte, war Vergangenheit. Seinen schlaksigen, schlanken Körper trainierte er regelmäßig, und dank des späten Wachstumsschubs war er immerhin inzwischen fast so groß wie seine Freunde.     

    Seine stumme Demut und Zurückhaltung hatte er bald abgelegt. Er mochte die Kinder, und sie mochten ihn, das spürte er und sah es ihnen an. Einige sprachen schon ein wenig Englisch, mit den Kleinen radebrechte er in Gesten und mit Zeichen, was sie schnell zum Lachen brachte.

    Er ließ seinen Blick über den Inhalt des Regals schweifen. Es hatte nicht allzu viel zu bieten: Taschenbücher auf Englisch, die, so vermutete er, Praktikanten vor ihm zurückgelassen hatten, und ein paar zerfledderte Comicbände. Er reckte sich und zog aus dem obersten Fach einen Atlas mit verblichenem Einband heraus. Der Staub, der ihm in dichten Flocken ins Gesicht fiel, löste einen Hustenanfall aus, was die Kinder, die sich um ihn scharten, lustig fanden. Er blätterte bis zu einer Übersichtskarte der Erde.

    »Hier sind wir«, sagte er und hielt seinen Finger auf die Fläche von Nepal, »und hier ist Deutschland.«

    Er wiederholte Nepal und Germany, und die Kinder sprachen es nach. Er vollzog eine ausladende Bewegung mit dem Arm und imitierte einen Motor.

    »Man muss einen ganzen Tag mit dem Flugzeug durch die Luft fliegen, bis man ankommt.« Flugzeug, Motorenlärm, die Armbewegung, Deutschland, Nepal. Bald brummten alle Kinderflugzeuge durcheinander, und die Kleinen kreischten vor Vergnügen.

    Das neunjährige Mädchen mit den pechschwarzen, tief liegenden Augen blätterte weiter bis zur Doppelseite mit den Weltmeeren. Benny hob und senkte seinen Unterkiefer und ließ in gleichmäßigen Bewegungen die angewinkelten Arme wie Flossen durch ein unsichtbares Wasser gleiten.

    »Fische schwimmen im Wasser«, sagte er, langsam und deutlich. Die Kinder sahen ihn an, verstanden und wiederholten seine Worte. Erst ging es noch durcheinander mit den Fischen und dem Schwimmen, aber bald waren die Begriffe klar. Die Mädchen hüpften durch den Raum, bewegten sich wie schwimmende Fische an Land und sangen die neuen Worte dazu.

    »Jetzt auf Nepali«, sagte Benny. Ein Junge, der mindestens elf Jahre alt sein mochte, erklärte es den anderen Kindern, und Benny gab sich Mühe, die für ihn fremden Laute genauso schnell zu erfassen wie die Kinder.

    Am Abend, als er in seinem Bett lag, übte er weiter. Auf die Kinder war er angewiesen, was die korrekte Aussprache anbetraf. Mit einem Jugendroman und einem Wörterbuch ausgestattet, wollte er so weit kommen, bis er sich verständigen und einer Unterhaltung folgen konnte. Man schlug sich ganz gut mit Englisch durch, aber er hoffte auf einen offeneren Kontakt mit den Leuten, wenn er mit ihnen zumindest bruchstückhaft in ihrer Landessprache reden würde.

    Die Kinder übten gern mit ihm. Die anderen Praktikanten oder Aushilfen, die aus dem fernen Europa anreisten, interessierten sich nie für ihre Sprache, hatte er erfahren.

    Ron, der Leiter des Waisenhauses, ein insgesamt umgänglicher, doch bisweilen mürrischer Mann aus Kathmandu mit einer Vorliebe für dicke Zigarren, deren Rauch beißend scharf in den Räumen hing, schätzte seinen Ehrgeiz nicht. Mehrmals hatte er ihm schon gesagt, dass er ausschließlich Englisch mit den Kindern lernen solle. 

    Aber: Es war ihm gleichgültig. Es verlor täglich mehr an Bedeutung, was man ihm vorschreiben wollte. Er war volljährig und konnte selbst entscheiden.

    Und er würde sich endlich auf die Suche nach seinen Wurzeln begeben. Auf eigene Faust. Mama hatte ihm immer wieder versichert, dass sie alles getan habe, um seine leiblichen Eltern aufzutreiben. Vergeblich. Er sei vor der Tür dieses Waisenhauses in Kathmandu zurückgelassen worden, und niemals habe jemand in Erfahrung bringen können, wer das getan hatte.

    Mama hatte ihm von Ann-Kathrine aus Dänemark erzählt, die Medizin studieren wollte wie er und die damals im Waisenhaus ihr Praktikum machte. Sie hatte ihn als abgelegtes Bündel vor der Tür gefunden, ihm den Namen Benjamin verpasst, sich um ihn gekümmert und ihm später, als er sich eine Infektion eingefangen hatte, das Leben gerettet.

    Im Heim hatte es keinerlei ärztliche Versorgung gegeben. Nachdem die Dänin  ihn in warme Decken gehüllt und ihn in ihr eigenes Bett gelegt hatte, war sie zum Krankenhaus am anderen Ende der Stadt gelaufen. Dort erklärte sie, sie brauche für ihren kleinen Sohn dringend Medikamente. Man verkaufte ihr ein Antibiotikum mit dem Hinweis auf die Dosierung. Sie legte ihr Erspartes auf den Tisch, raste zurück, füllte das Medikament in eine Nuckelflasche, nahm ihn, das schwache Baby, in ihre Arme und sang ihm so lange dänische Volksweisen aus ihrer Heimat vor, bis er alles ausgetrunken hatte. Die Intervalle seiner Atemzüge normalisierten sich, das Fieber sank, und endlich waren sie beide vor Erschöpfung eingeschlafen. Die junge Frau, die damals nicht viel älter gewesen war als er jetzt, hatte genau die richtige Entscheidung  getroffen und ihm ein Medikament besorgt, das die lebensbedrohliche Erkrankung in den Griff bekommen hatte. 

    Benny hatte es immer und immer wieder von Mama hören wollen, bis er ein Bild von dieser fremden Frau vor Augen hatte. Auch sie würde er finden. Das war sein Plan. Er wollte sich persönlich für ihren Einsatz  bedanken und sie nach seiner Herkunft fragen, immerhin hatte sie eine Zeitlang im Waisenhaus gelebt. Mama sagte, sie sei damals einfach verschwunden, nur wenige Monate, nachdem er nach Deutschland gekommen war, sei der Kontakt abgerissen und die Dänin nie wieder aufgetaucht. Mehr konnte sie ihm nicht über sie berichten.

    Seit dem schrecklichen Tod seiner kleinen Schwester fühlte er sich schuldig und voller Scham. Er selbst war gerettet worden, hatte es aber nicht geschafft, Priya zu helfen und sie am Leben zu halten.  

    Papa und Mama waren damals in die Stadt gefahren, um ein Sofa zu kaufen. Das alte wäre noch gut gewesen, aber Horst aus dem Dorf hatte sich darauf übergeben, als Mama und Papa ein großes Fest gegeben hatten. Mama hatte alles wieder sauber gemacht, aber Papa konnte es nicht aushalten, auf fremder Kotze zu sitzen, er war ausgerastet und hatte darauf bestanden, ein neues auszusuchen. Er war so außer sich, dass Mama schließlich mitgefahren war. Es war nicht oft vorgekommen, dass sie die Kinder allein im Haus zurückließ.

    Als sie und Papa an diesem Nachmittag aus der Stadt zurückkamen, war das Schreckliche passiert: Priya lebte nicht mehr.

    Sie hatte Atemnot bekommen, was nicht weiter besonders war und immer wieder vorkam. Für solche Fälle gab es das Inhalationsgerät, Puster hatte Mama es genannt. Priya stülpte ihre Lippen darüber, wenn sie dachte, zu wenig Luft zu bekommen und atmete das Mittel zweimal ein. Das funktionierte gut und zuverlässig. Ihr Atem ging kurz darauf ruhiger, und sie konnte vergnügt weiter spielen.

    An jenem Nachmittag jedoch war der Puster weg. Einfach unauffindbar. Der Atem seiner kleinen Schwester ging flach und fiepend, vornübergebeugt saß sie auf ihrem Bett und rang nach Luft. Das ganze Zimmer hatte er abgesucht, nichts. Priya hauchte kaum hörbar etwas, das er als Hinweis auf Papas Koffer verstanden hatte. Benny war in das Schlafzimmer von Mama und Papa gestürzt und auf die Bettkante gesprungen. Auf dem Schrank standen zwei riesige schwarze Koffer. Priya und er hatten den Inhalt schon inspiziert, als die Eltern mal unterwegs waren und Sonja, die auf sie aufpassen sollte, vor dem Fernseher gesessen hatte. Es war enttäuschend gewesen, nichts als Medikamente, Pillendöschen, Fläschchen und eben Inhalationsgeräte. Er hatte einen Puster herausgenommen und war zu seiner Schwester ins Zimmer gerast. Priya beugte sich ihm verzweifelt  entgegen, aus ihren Augen starrte Panik. Er hatte zitternd den Inhalator zwischen ihre Lippen gepresst und ihr drei lange Stöße in den Mund gedrückt, ein zusätzlicher konnte nicht schaden, hatte er befunden.

    »Atme langsam, Priya, ich rufe Mama an«, hatte er gesagt, war in die Küche zum Telefon gelaufen und hatte die Taste gedrückt, mit der sie sofort auf Mamas Handy landeten. Mama hatte das Gerät extra dafür angeschafft, dass ihre Kinder sie erreichen konnten, falls sie mal ausnahmsweise nicht in deren Nähe war.

    Sie hatte nicht abgenommen. Aber sie konnte doch sehen, dass er angerufen hatte! Er hatte Priya in seine Arme genommen, sie schien sich beruhigt zu haben, und zur Sicherheit noch einmal den Puster angesetzt. Seine Schwester hatte sich nicht bewegt. Ihm war nicht klar gewesen, ob er das als gutes oder schlechtes Zeichen werten sollte und sein Ohr an ihre Brust gedrückt. Nichts. Er hatte nicht begreifen wollen, was geschah, es nicht zulassen können, es war zu schrecklich. Priya lag da, bewegungslos in seinen Armen, die Augen weit geöffnet, das Gesicht komisch verfärbt.

    Das Nächste, an das er sich erinnerte, war der Schrei. Ein nicht enden wollender, schrecklicher Schrei, der von Mama kam. Papa versuchte aus ihm herauszubekommen, was eigentlich passiert war. Mama schrie, er solle Benny in Ruhe lassen, er sehe doch was los sei.

    »Komm«, sagte Papa, »wir legen sie aufs Bett!«, nahm ihm seine tote Schwester aus den Armen und schloss ihre Augen. Es sah wenigstens nicht mehr ganz so furchtbar aus.

    Benny sagte: »Ich muss mal«, lief ins Schlafzimmer seiner Eltern, kletterte auf die Bettkante und wuchtete den Koffer zurück auf den Schrank. Den Inhalator warf er in den Abfall. Er wollte nicht auch noch Ärger mit Papa riskieren, weil er an seine Sachen gegangen war. Später, als er stumm auf Priyas Bett gelegen hatte, spürte er den verloren geglaubten Puster unter ihrem Kopfkissen.

    Als Papa ihn am Abend noch einmal fragte, was genau passiert war, hatte er  wahrheitsgemäß geantwortet, dass er Priya drei Stöße aus dem Inhalator gegeben habe, es aber nichts gebracht hatte.

    Seitdem musste er mit der quälenden Gewissheit leben, dass er zwar ein glücklich gerettetes Kind war, selbst aber versagt hatte.

    3

    Gerrit Haussmann blickte auf die Uhr. Viertel nach drei. In weniger als zwei Stunden würde sein Chef Fred ihn in Rassaro erwarten. Er schätzte, dass es noch ungefähr 60 Kilometer bis dahin waren. Gerrit wog die Situation ab. Fred duldete keine Verspätung. Jedenfalls nicht, wenn mit seinen Angestellten ein Termin anstand. Gerrit winkte dem Kellner und bat um die Rechnung. Die Dame, die ihm gegenüber saß, lächelte er kalkuliert nachlässig und gleichermaßen verführerisch an. Was an sich gar nicht erforderlich gewesen wäre. Gerrit sah ihr an, auf was sie aus war. Er nippte an seinem Espresso. Das Treffen war sehr zufriedenstellend verlaufen. Es war deutlich attraktiver, auf der Terrasse eines Caruso die Geschäfte anzubahnen, als im Wartezimmer einer Arztpraxis oder im umtriebigen Klinikalltag eines Gesprächs zu harren, wo die eigene, vor Gesundheit strotzende Erscheinung sich von den blassen, sorgenvollen Gestalten ringsherum abhob. Der Kellner trat an ihren Tisch. Als er sich anschickte, die Schatulle mit der Rechnung vor Gerrit abzustellen, sagte die Frau:

    »Ich übernehme das.«

     So ist es recht, dachte Gerrit mit den Worten seines Großvaters, ohne sich dessen bewusst zu sein. Geht doch, ergänzte er und fand seine Vorausschau bestätigt. Die Frau legte ein paar Scheine in das Etui und fixierte ihr Gegenüber mit durchdringendem Blick.

    Ein schönes Spiel in einem stets vorhersagbaren Drehbuch, dachte er.  Sie funktionierte brav nach seiner unausgesprochenen Regie, was ihm gefiel. Mit der weißen Stoffserviette tupfte er sich die Mundwinkel ab und sagte:

     »Ich bedanke mich.« Zur Unterstreichung neigte er ein wenig den Kopf, um der Dame sodann mit einen kurzen Blick zu verstehen zu geben, dass es an der Zeit war aufzubrechen. Den Kellner bat er mit einem fast unmerklichen Fingerzeig um die Quittung.

    »Aber, aber, wollen wir den Nachmittag nicht noch ein wenig gemeinsam genießen?«, fragte die Frau trotz seiner unmissverständlichen Geste. 

    »Ein Dessert vielleicht, irgendetwas Süßes?»

    Gerrit schüttelte den Kopf und blickte ihr tief in die Augen.

    »Die Geschäfte rufen, wissen Sie, ich muss weiter, leider nein. Rufen Sie mich an, wenn die Lieferung abgesetzt ist, wir treffen uns dann wieder, um die weitere Zusammenarbeit zu regeln. D’accord?«

    »Ach, kommen Sie. Man hat hier sicher ein Örtchen für eine Siesta für uns. Was wollen Sie sich jetzt auf die Straße begeben? Nach einem so üppigen Mahl.«

    »Sicher. Da haben Sie natürlich Recht«, sagte Gerrit, nahm ihre Hand, küsste sie und verschwand mit Renate, als die sie sich inzwischen vorgestellt hatte, in einem von ihr vorreservierten Zimmer des Hauses.

    Die Rechnung über 140 Euro hatte sie übernommen. Die Spesenquittung würde die Firma allerdings ihm erstatten, ein kleines Taschengeld, immerhin. Renate schnurrte nach ihrer kurzen, heftigen Begegnung zufrieden an seiner Schulter. Bevor sie ihm noch irgendwelche Versprechen abringen konnte, verabschiedete er sich von ihr mit der Bemerkung, sein nächster Termin sei schon in einer Stunde. Renate sah ihm mit langer Miene zu, als er sich anzog, dann war er weg.

    Er ging zum Wagen, der natürlich nicht sein Wagen war, sondern der Firma gehörte. Er öffnete den Kofferraum, heftete den Vertrag, den er mit Renate unter Dach und Fach gebracht hatte, in einen Ordner und überschlug die Provision. Dreitausend etwa, immerhin. Er setzte sich ans Steuer und fuhr los. Eine behäbige Schwere breitete sich aus nach dem opulenten Mittagsmahl. Die zwei Gläser Wein machten es nicht besser. Das kurze Stelldichein rief zusätzlich nach einer Siesta. Aber er war zu unruhig, wie immer vor einer Begegnung mit Fred.

    Er dachte an seinen Chef. In seiner Gegenwart war er nicht mehr als ein kleines funktionierendes Männchen in permanenter Geldnot, die sein Chef sich auf die eine oder andere Weise nutzbar zu machen wusste. In der Gegenwart von Frauen hingegen fühlte er sich stark und überlegen. Er wurde umschwärmt als ein Mann voller Charme, mit gutem Benehmen und jungenhafter Ausstrahlung. Er sah, wie man so sagte, gut aus und gab sich großzügig. Mit diesen beiden Eigenschaften konnte man immer punkten, es lief wie von selbst. Stets trat er im feinen, perfekt sitzenden Anzug auf, den er in besseren Zeiten angeschafft hatte, seine schwarzen, spitz zulaufenden Schuhe waren auf Glanz poliert, das weiße Hemd tadellos gebügelt. Gerrits schlanke, hoch gewachsene Statur tat ihr Übriges. Sein offenes Lachen vermochte er gezielt einzusetzen.

    Der Firma erwies er wertvolle Dienste, die sie sich was kosten ließ. Trotzdem war sein Konto ständig leer. Seit der Coup mit den Provisionen aufgeflogen war, saß die Versicherung, sein vormaliger Arbeitgeber, ihm gnadenlos im Nacken. Damals war es jahrelang nicht aufgefallen, dass er sich - nicht anders als einige der Kollegen - nicht mit den jämmerlichen Provisionen für Abschlüsse zufrieden geben konnte, sondern auch die Beitragszahlungen der Versicherten auf sein Konto gelenkt hatte. Es waren damals fette Jahre gewesen, die Kassen der Firma dermaßen prall gefüllt, dass die paar Euros nicht weiter ins Gewicht fielen.

    Er hatte die Zahlungen der Kunden säuberlich dargestellt. Auf welches Konto die Beiträge gingen, ließ sich der Aufstellung allerdings nicht entnehmen.

    Bei der Fusion mit der Atlanta wechselte die Führung. Mit ihr zog eine kleingeistige Buchhaltung ein, die Ungereimtheiten entdeckte und in den alten Akten schnüffelte, bis weit in die Vergangenheit hinein. Und mit einem Mal hatten sie ihn in ihren Würgegriff genommen, ihm den Boden unter den Füßen weggerissen, zuerst sein Haus, dann Hab und Gut gepfändet, bis alles weg war. Und dann war es immer noch nicht genug. Nichts als ein Berg von Schulden war ihm geblieben.

    Und seine Frau. Immerhin. Sie war nicht nur geblieben, sie war ihm weiter treu und lieb ergeben. Sie interessierte sich nicht für seine Geschäfte. Es gab einen kleinen Vorrat an Bargeld im Haus, wenn auch in überschaubarer Menge, von dem sie sich bedienen konnte. Glücklicherweise machte sie in nur sehr bescheidenem Umfang Gebrauch hiervon. Seit dem tödlichen Unfall ihrer Tochter hatte sie ein bisschen den Bezug zur Realität verloren. Die gute Seite daran war, dass sie ganz aus freien Stücken zu Hause blieb.

    Nach außen hin jedenfalls galten sie als Traumpaar, zusammen mit ihrem Kind als perfekte Familie. Benny wurde zwar seiner Meinung nach zu stark mit Linas mütterlicher Sorge überschüttet, aber das sollte ihn nicht weiter kümmern.  

    Dass es die Welt des schönen Scheins, die Gerrit seiner Familie aufgebaut hatte, in Wahrheit längst schon nicht mehr gab, entzog sich Linas Wahrnehmung. Die unzähligen Mahn- und Drohbriefe von Banken und Behörden wurden an eine eigens hierfür eingerichtete Postfachadresse gelenkt. Nur selten landete einer dieser Briefe bei ihnen zu Hause. Lina ließ jede Post, die nicht privat war, für ihn liegen. 

    Er zahlte den Hyänen immer gerade so viel, dass er ihre gierigen Schlünde ruhig halten konnte. Gerrit ahnte, dass sein Chef Fred ihn mal wieder mit einem nicht ganz sauberen, dafür lukrativen Job zu ködern gedachte, mit der vorgeschobenen Begründung, sein Dilemma mildern zu wollen. Aber es war längst zu gefährlich geworden, weiter auf Risiko zu setzen. Er musste diskret bleiben. Falls ihm irgendjemand hinterherschnüffelte, würde man ihn einbuchten, ohne mit der Wimper zu zucken. Das würden sie sich nicht nehmen lassen, so viel stand fest. Er durfte nicht nachgeben und war sich doch der Tatsache bewusst, dass das alles andere als leicht sein würde, und so näherte er sich seinem Chef Fred mit wachsendem Unbehagen.

    4

    Es dämmerte. Endlich. Die Umrisse traten aus dem Dunkel der Nacht, in der Lina nur einen kurzen und holprigen Schlaf gefunden hatte. Sie fühlte sich schwach, matt, und ihre Glieder schmerzten in der steifen, unbequemen Haltung.

    So würde es nicht funktionieren. Sie drehte sich von dem Rucksack herunter, knüllte die Decke hinein und stopfte die Wasserflasche obenauf. Sie stand auf, reckte sich und wankte durch das Wäldchen. Es begann erneut zu nieseln. Mit gesenktem Kopf trottete sie die Strecke zurück zu ihrem Zuhause.

    Als sie das letzte Stück über die Wiesen hoch zur Dorfstraße ging und sich von hinten ihrem Heim näherte, fragte sie sich, ob es sich wirklich um einen heimatlichen Ort handelte, einen, zu dem man gehörte wie der Wacholder auf dem sandigen Boden der Heide. Sie befand, dass es ganz und gar nicht der Fall war. Sie fühlte sich fremd hier. Im Kleinen wie im großen Ganzen. Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus. Das schwermütige Lied des in der Welt verlorenen Wanderers, dessen Ende der Leierkastenmann einläutete, tönte in ihrem Kopf.

    Die vergangene Nacht erschien ihr wie ein Traum, der einen im Ungewissen lässt, ob er der willenlosen Welt des Schlafs entspringt, ob er Sequenzen aus der Wirklichkeit enthält oder ob alles wahr und real war und es sich gar nicht um einen Traum gehandelt hatte.

    Zurück in dem verwaisten Haus räkelte sie sich lange unter dem heißen und kräftigen Strahl der Dusche, streifte ihren lachsfarbenen Morgenmantel über, den Gerrit ihr mitgebracht hatte und legte sich ins große Bett. Die Gedanken kreisten wirr und unruhig durch ihren Kopf.

    Ich muss fort von hier, dachte sie, ich werde verrückt, wenn ich länger bleibe. Das Haus war riesig, und doch schien es, als drücke jede einzelne Wand sie in die Enge. Die Stille in den penibel aufgeräumten, mit hochglanzlackierten Designerstücken möblierten Räumen schlug ihr feindlich und leblos entgegen. Aber wohin sollte sie gehen? Über unzählige Möglichkeiten, die mit der Realität nichts zu tun hatten, aber wie grelle Farbtupfer vor ihrem inneren Auge blitzten, sank sie schließlich in den Schlaf und träumte von ihren Kindern, die orientierungslos im Wald hockten und vergeblich versuchten, ihrer Mutter vom Handy aus den Standort zu beschreiben. Sie konnte sie nicht finden.

    Es war weit nach zehn, als sie von der Türklingel geweckt wurde. Schweißgebadet sprang sie auf. Der Postbote verlangte ihre Unterschrift für einen eingeschriebenen Brief. Er war an die Eheleute Gerrit und Rosalina Haussmann adressiert. Von einer Bank. Welche Bank es war und was sie mit ihr zu tun hatten, interessierte sie nicht. Es betraf sie nicht, und sie wollte mit sowas nichts zu tun haben. Für Post ohne handgeschriebenen Adressaten oder Absender hatte sie nicht das Geringste übrig, auch dann nicht, wenn Sendungen an sie beide gerichtet waren. Sie legte den Brief auf die Kommode im Flur, auf den Stapel mit Werbebriefen und weiterer Post für Gerrit.

    Sie kramte ihr Handy aus dem Rucksack und wählte die Nummer von Ralf und Xenia. Sie kannte Xenia aus Studententagen, die es immerhin vier Semester lang in ihrem Leben gegeben hatte. In den letzten Jahren war der Kontakt ein wenig eingeschlafen. Xenia beklagte, dass sie von ihrer Arbeit und ihrer Familie gleichermaßen aufgezehrt werde, aber Lina nahm ihr das nicht ab. Ralf arbeitete von zu Hause aus für eine Computerfirma und hielt

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