Doktor Kümmerlings Selbstwerdung
Von Dietrich Heider
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Buchvorschau
Doktor Kümmerlings Selbstwerdung - Dietrich Heider
Doktor Kümmerlings Selbstwerdung
Erzählung von Dietrich Heider
„Und ob er es tun wird! Mit ungeduldigem Zittern tastete Friedrich Freiherr von Hammstetten nach seinem Gehstock, den er vorsorglich neben die Armstütze seines Scherenstuhles gelehnt hatte, und als er meinte, dessen Knauf fest genug mit seinen ausgemergelten Fingern zu umspannen, kippte er sich unter Stöhnen aus seiner Sitzhaltung, um sich anschließend in mehreren streng voneinander getrennten körperlichen Vorgängen aufzurichten. Annähernd in der Lotrechten angelangt, strich er um das altväterliche Möbelstück, setzte mit vorsichtigem Schwung zu dem gegenüberstehenden Ohrensessel über und krallte sich in zwei speckigen Mulden von dessen mit Rindsleder bezogner Rückenlehne fest. „Er wird es tun; zwar nicht mit wehenden Fahnen, aber er wird. Dafür bürgt mir schon sein Name: Dr. Klaus Kümmerling. Ein promovierter Geschichts- und Deutschlehrer.
Während er immer noch um einen belastbaren Gleichgewichtszustand rang, richtete er erneut seine Rede an Notar Konrad Pfellerer, der gerade, das Gesicht von ihm abgekehrt, in den ledernen Polstern versunken saß. „Wozu die Promotion bei einem Studienrat? Haben Sie sich das schon einmal gefragt? So gut es ihm, ohne den Sessel in Erschütterung zu versetzen, möglich war, wandte sich der Notar seinem Gesprächspartner zu, um diesem durch Miene und Worte zu bedeuten, dass er sich von keiner Erkenntnis überwältigt fühle. „Weil er sein Kleinbürgerdasein überhat! Deshalb wird er den Vertrag unterzeichnen, und zwar mit der Verpflichtung, mich bis an mein Lebensende im Altenstift in Bad Saarow zu versorgen, bloß um dieses Schloss und meinen Titel zu ergattern.
Da Pfellerer inzwischen alle Versuche aufgegeben hatte, seinem Gesprächspartner ins Gesicht zu blicken, beugte sich der Freiherr über die Lehne und redete von oben auf den Sitzenden herab: „Es hat einfach alles keine Art mehr. Dann allerdings wischte er, bevor er fortfuhr, mit betont ergebener Lässigkeit, einen Speicheltropfen von der Glatze seines Gastes und polierte einige Male mit dem Ärmelsaum seines Hausmantels nach. „Wirklich, ich kann es drehen und wenden, wie ich will: Kein Weg führt an der Erkenntnis vorbei, dass ich tattrig geworden bin und mittlerweile auch sabbere und dass ich mein Schloss mit seinen über vierzig Zimmern verlassen muss.
Sein Blick streifte über die mit Korkplatten bedeckten Wände, um schließlich auf den Ahnenbildnissen zur Ruhe zu kommen. Der Freiherr versuchte aufrechte Haltung einzunehmen, was ihm jedoch misslang. „Ich fühle in meinem Innersten, wie meine Altvordern sich grämen. Sie leiden mit mir geduldig, still und leise. Sie leiden meine jahrelange, sich stetig verschlimmernde Qual. Doch ihre Missbilligung gilt nicht dem vergilbten Firnis, nicht den Wurmlöchern in den Rahmen, nicht dem abblätternden Gold. Nein, allein darin, dass die Gemälde auf der hässlichen Wärmedämmung festgenagelt sind, liegt die Schande, und das weniger wegen der Hässlichkeit an sich als wegen des schieren Zwanges, die Hässlichkeit zu dulden. Nun wandte ihm der Notar doch, sogar mit merklichem Kraftaufwand, das Gesicht zu, aber statt seinen Gast zu Worte kommen zu lassen, fuhr der Freiherr fort: „Er wird unterschreiben, der Kümmerling, der Doktor, und damit Sie sehen, wie wenig ich daran zweifle, wollen wir bereits im Voraus den Adoptionsvertrag und alle andern Papiere fertig machen. Er soll in dem Bewusstsein, adlig und Eigentümer eines Herrensitzes zu sein, von hinnen ziehen und seinem Eheweib verkünden, dass Muff und Biederkeit endgültig abgetan sind.
Bevor er sich in Richtung des Tisches aufmachte, erhob er seinen Stock, um auf zwei an der gegenüberliegenden Wand aufgehängte Perückenböcke zu weisen. „Hässlich sind ja auch diese beiden Kerle dort, aber es ist eine sinnbildhafte Hässlichkeit. Da Pfellerer die ganze Einrichtung längst kannte, unterstützte er seinen Klienten bei diesem neuerlichen Ortwechsel, ohne sich um die aus der Art geschlagenen Jagdtrophäen zu kümmern. Hammstetten unterschrieb mit zittriger Hand und reichte dem Notar die Urkunden zur Beglaubigung. „Ja, die Dummerchen sind wohl zu flach über einen Zaun aus Stacheldraht gesprungen und haben sich ihre Ruhe während der Brunftzeit durch einen übeln Schimpf erkauft. Der eine schaut unter seinem weit aufgetürmten Wust aus Fasern und Knochenmasse recht unbedarft hervor — fast will man ihn bemitleiden — und dem andern ist der erstarrte Brei über Augen und Ohren gequollen. Was lernen wir daraus über diejenigen, die zu hoch hinauswollen? — Und trotzdem wird er unterschreiben, denn immer noch mächtig wirkt der Glanz des alten Adels, besonders auf kleinbürgerliche Gemüter.
Als die Glocke am Vorbau mehrfach angezogen wurde, erhob sich der Notar unaufgefordert, um den Ankömmling einzulassen. Zwar war das Tor schon seit Langem nur noch nachts verschlossen. Sonst hätte er selbst ja auch nicht hierher gelangen können. Aber darauf zu warten, dass Dr. Kümmerling seine Scheu, unaufgefordert fremden Grund zu betreten, überwinden werde, schien ihm so wenig ratsam, wie dem alten Junker Lakaiendienste zuzumuten, und dass dieser es abgelehnt hätte, den Gast an der Einfahrt zu empfangen, stand ohnehin außer Frage, erstens weil es schlichtweg nicht möglich gewesen wäre und zweitens und vor allem, weil der Schlossherr dem Kaiser bis zur Kutsche entgegenzugehen hatte, und nur dem Kaiser. Für einen Schulmeister und auch für einen Stadtschreiber — damit meinte er sich selbst — galt es eigentlich schon als herablassend, wenn freiherrliche Gnaden auf dem obersten Treppenabsatz dem Herannahenden die Arme entgegenbreiteten. Aber all diesen innerlich wohlgehüteten Schatz aus Zucht und Form hatten trotz seiner grundsätzlichen Bedeutung längst Schüttellähmung, Gicht und Muskelschwund mit ihrem brandigen Belag überzogen und solches Kastendenken, verknüpft mit breit zur Schau getragener Hilflosigkeit, machte ihm den Freiherrn zu einem seiner interessantesten, wo nicht gar vertrautesten Bekannten. Größere Wertschätzung allerdings vermochte er sich, während er über die morschen Stufen der einstigen Prunktreppe schritt, nicht abzutrotzen.
Dr. Kümmerling trug eine Hose aus grobem, hellbraun und moosgrün gesprenkeltem Loden und eine Jacke aus einem ähnlichen Soff mit Lederbesätzen an den Ellbogen. In Auftreten und Äußerung schien er dem Begrüßenden durchaus zu der soeben erhaltenen Beschreibung zu passen. Während Pfellerer ihn über das mit Schlaglöchern übersäte Pflaster des Hofes auf die Terrasse, die rechts und links von tonnenförmigen Wachhäuschen bestanden war, zuführte, konnte er es nicht unterlassen, unter erste Hinweise auf die baugeschichtliche Bedeutung des Schlosses solche auf dessen untragbaren Erhaltungszustand zu mengen. Ja, — so drängte es ihn festzustellen — die Stadt habe sich durchaus an dem Anwesen interessiert gezeigt und ihn als ihren Bevollmächtigten zum Freiherrn entsandt. Doch habe bald nicht nur die Verwahrlosung des an sich ansehnlichen Besitztums von dessen Erwerb abgeschreckt, sondern auch und ganz besonders die Tatsache, dass der Freiherr in seiner wohl dem vorangeschrittenen Alter geschuldeten Sicht der Dinge auf einem Übereignungsvertrag beharre, der seine Unterbringung und großzügige Versorgung in einem Alten- und Pflegeheim für Besser- bis Bestbetuchte vorsehe. Ankauf, denkmalgerechte Instandsetzung und Unterhalt des Gebäudes seien zu stemmen, aber diese Klausel — so die abschließende Feststellung des Gemeinderates — berge eine unwägbare und dem Steuerzahler nicht zumutbare Gefahr, sei doch des Freiherrn Vater erst im stolzen Alter von 95 Jahren beim Abpflücken eines seiner Kirschbäume tödlich verunglückt. Allerdings — und unter dieser Eröffnung durchschritten sie bereits das von Feuchtigkeit und Schimmel verunzierte