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Der Straßenmusikant
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eBook380 Seiten5 Stunden

Der Straßenmusikant

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Über dieses E-Book

Victor Laforêt, ein Deutscher mit französischen Wurzeln, der nach einem handgreiflichen Streit mit seinem Vater das Haus verläßt und als Straßenmusikant sein Dasein fristet, macht als Tramper in Frankreich die Bekanntschaft mit dem populären Schlagersänger Yannick Delaye, der ihn, nachdem er "seinen Song" gefunden hat, mit Hilfe seines Managers fördert - der Beginn einer beispiellose Karriere. Doch geschickt eingefädelte Intrigen setzen seinem grandiosen Aufstieg ein Ende.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum17. Nov. 2012
ISBN9783847623526
Der Straßenmusikant

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    Buchvorschau

    Der Straßenmusikant - Alexander Smokov

    EINLEITUNG

    Das Dröhnen des Wasserbomben-Flugzeugs übertönte das Summen der Klima­anlage, die unter Vollast lief. Victor Laforêt betrat den Balkon seiner in der obersten Etage gelegenen Suite im Vier-Sterne-Hotel »La Pinède«, um die Ursache dieses Geräusches, das sich so sehr vom Motorlärm der Yachten unterschied, heraus­zufinden. Ein Schwall heißer Luft, der ihm entgegenschlug, machte ihn für einen kurzen Moment benommen, denn die Temperatur betrug an diesem Tag 43 Grad im Schatten. Er atmete einige Male tief durch, um seine Beklemmung abzuschütteln.

    Sein Blick erfaßte die Bucht von Ste. Maxime. Die rechte Seite wurde begrenzt von der Aussicht auf das malerische St. Tropez, linkerhand erstreckte sich die Skyline von Ste. Maxime, welche durch eine gewaltige Rauchwolke, deren Ausläufer von den Seealpen bis zum Meer reichten, verschleiert wurde.

    Der Wasserbomber warf seine Last im Zielgebiet des Waldbrandes ab und flog sofort zur Basis zurück, um neue Munition zu laden, während das nächste Flugzeug, das soeben ankam, seinen Tropfen auf den heißen Stein goß.

    »Alles Schall und Rauch – wie das ganze Leben!«, sinnierte Victor mit schwerer Zunge und leerte auf einen Zug den Inhalt des Cognacschwenkers, den er in der Hand hielt. »Man müßte dieses beschissene Dasein auch mit Schall und Rauch beenden. Mit einem Knall und einer Riesenwolke dazu, die einem ein unvergeß­liches, nie dagewesenes Denkmal setzt – größer und bedeutender als jedes Monument oder hochherrschaftliche Mausoleum!«

    Die Balkontür hinter sich zuziehend, verkroch er sich wieder in die angenehme Kühle der Suite und goß sich aus einer Metaxa-Flasche den Schwenker voll. »Aber das Blöde an der Sache ist, daß ich immer wieder den gleichen Weg einschlagen würde, selbst wenn ich zehn Alternativen zur Auswahl hätte.«

    ERSTES KAPITEL

    Das Mercedes-Cabrio verlangsamte seine Fahrt, ein kurzer, prü­fender Blick des Fahrers zu der etwas abenteuerlich aussehenden Gestalt am Straßenrand – der Wagen kam vollends zum Stehen. Wortlos lud der Tramper seine Habseligkeiten, einen vollbepackten Trekking-Rucksack und einen Gitarrenkoffer, auf die Rückbank und fläzte sich dann in den Beifahrersitz. Der Fahrer, der das Treiben seines Gastes amüsiert verfolgt hatte, richtete mit leicht spöttischem Ton das Wort an ihn:

    »Du hast es ja ziemlich eilig, obwohl du noch gar nicht weißt, wohin ich fahre. Ist jemand hinter dir her?«

    »Blödsinn!« erwiderte der Tramper und grinste den Fahrer belustigt an. »Mir ist bloß dieses beschissene Kaff an dieser noch beschisseneren Küstenstraße auf den Keks gegangen. Man braucht ja eine Ewigkeit um von hier wegzukommen. Mein Ziel ist St. Tropez, aber wenn das nicht möglich ist, macht es auch nichts – Hauptsache, ich habe ein paar Kilometer zwischen mir und diesem unmöglichen Nest gebracht.«

    Der Fahrer lachte kurz auf und fuhr los. Der Tramper besah ihn sich zwischen den Augenwinkeln etwas genauer, weil er ihm irgend­wie bekannt vorkam: ein auf den ersten Blick sympathisch wirkendes Gesicht, eingerahmt von durch Sonne und Salzwasser gebleichtem, blonden Haar, breite Schultern und muskulöse Arme. Aber der begin­nende Bauchansatz unter seinem vorteil­haft geschnittenen T-Shirt ließ auf ein ausschweifendes Leben schließen. Die undurchdringliche Son­nen­brille über den Augen machte es unmöglich, zu erkennen, ob sein Gesicht, auf den zweiten Blick immer noch sympathisch war.

    »Du siehst aus, als hättest du eine ziemliche Strecke hinter dir«, stellte der Fahrer fest.

    »So kann man es auch nennen – von Paris über die Schweiz, Österreich und Italien bis hierher.«

    »Du machst den Eindruck, als ob du deine Gitarre nicht nur zum Spaß in der Gegend herumschleppst. Bist du Profi oder Amateur?«

    »Im Prinzip beides. Ich habe das Singen und Gitarrespielen eigent­lich mehr zum Spaß gelernt, aber zur Zeit schlage ich mich so recht und schlecht als Straßen­musiker durch. Das hat den Vorteil, daß man unheimlich viel Routine bekommt.«

    »Kann man denn davon leben?«

    »Es funktioniert. Aber nur, wenn man auf gewisse Annehm­lichkeiten, die man sich als normal arbeitender Mensch so leistet, verzichtet.«

    »Und die wären?« fragte der Fahrer interessiert und hupte einen entgegen­kommenden Wagen an, in dem ein hübsches Mädchen saß, das ihm freudig überrascht zuwinkte.

    »Geregeltes Einkommen, eigene Wohnung, Anspruch auf Stem­pel­­geld, Renten- oder Krankenversicherung. Von Urlaubsgeld oder drei­zehntem Mo­nats­­gehalt gar nicht zu reden. Und wenn es dir nichts ausmacht, jeden Tag aufs neue eine Unterkunft oder zumindest einen Platz zu finden, von dem dich die Bullen nicht wegjagen, dann kannst von dir behaupten, für dieses Leben geboren zu sein.«

    »Diese Art zu leben wäre nichts für mich. Ich könnte auf derartige Weise nicht existieren. Ein Minimum an Komfort müßte ich schon haben, um in dieser Welt zu überleben. So ohne alles – schaffst du denn das auf die Dauer?«

    »Ich schon«, antwortete der Tramper mit nachsichtigem Lächeln. »Aber deinem Habitus nach zu schließen, stammst du aus einer begü­ter­ten Familie, die dich zeitlebens in einen Glassturz gesetzt hat, um sämtliche Unannehm­lichkeiten von dir fernzuhalten. Daher kommt dir meine Lebensweise im ersten Moment ziemlich abenteuerlich und romantisch vor. Einesteils würdest du gerne mal von zuhause aus­reißen und alle Brücken hinter dir abbrechen, andererseits möchtest du aber keinesfalls deine gewohnte Kreditkarten-Sicherheit missen, für den Fall, wenn etwas schiefgeht. Und genau das ist es, was dich von einem echten Abenteurer unterscheidet: Du verläßt dich auf deinen finanziellen Hintergrund, mit dem du aufkommende Probleme zwar nicht löst sondern ganz einfach nur beseitigst. Das kann ein jeder Arsch, wenn er Geld hat! Dazu gehört nicht viel! Aber den Mut zu haben und nur auf seine Fähigkeiten vertrauend, Knall auf Fall das wohlbehütete Elternhaus zu verlassen, um ins Ungewisse zu ziehen – das setzt doch ein gewisses Maß an Selbständigkeit voraus.« Der Tramper blickte Yannick prüfend an. »Verdammt nochmal! Ich über­lege schon dauernd, wo ich dich einordnen soll, weil mir dein Gesicht so bekannt vorkommt! Jetzt weiß ich es! Du bist ja selbst Musiker! Du bist Yannick Delaye – der Schlagerfuzzy! Ojeh...! Und bei so jeman­dem fahre ich mit...!«

    »Ist es die Tatsache, daß ich zwanzig Centimes mehr in der Tasche habe, als du – daß du so darauf reagierst«, fragte der Mercedesfahrer köstlich amüsiert, »oder magst du ganz einfach nur meine Musik nicht?«

    »Ich weiß es nicht genau. Auf alle Fälle ist es kein Neid. Vielleicht stört mich die oberflächliche Art, mit der sich du und deinesgleichen in der Öffentlichkeit präsentieren. Leute die, wie du so schön gesagt hast, zwanzig Centimes mehr in der Tasche haben, gehören für mich zu einer anderen Welt. Einer Welt von der ich mich eigentlich fernhalten will, weil sie in meinen Augen lächerlich und bedeu­tungslos ist.«

    »Ich kann mir schon denken, auf was du hinauswillst. Du bist so eine Art von Revoluzzer, der gegen alles Front macht, woran sich die Leute erfreuen, weil du dich im Grunde genommen noch nicht genau festgelegt hast, gegen wen oder was du eigentlich kämpfen willst.«

    »Ich kämpfe in erster Linie gegen die Dummheit der Menschen – meine eigene eingeschlossen – da bin ich ganz ehrlich. Und wenn du mal objektiv bist, dann wirst du zugeben müssen, daß es in deinen Kreisen eine ordentliche Portion davon gibt. Ich spreche von dummen, nicht von ungebildeten Menschen. Wenn ich mir diese Leute so ansehe, dann wundert es mich schon sehr, wie weit es viele von ihnen trotz ihrer Borniertheit gebracht haben. Aber vielleicht ist das die Charakteristik eueres Standes, daß ihr euch gegenseitig auf die Beine helft, genauso wie ihr euch untereinander vermehrt – da müssen sich ja auf die Dauer Schäden einstellen.«

    »Du riskierst ja eine recht kesse Lippe, mein Freund.« Yannick Delaye war nicht aus der Fassung zu bringen. »Ich persönlich kann dich recht gut verstehen, aber du solltest aufpassen, daß du nicht von einem, der weniger Spaß versteht als ich, eins draufbekommst. Weißt du, ich habe früher auch mal so ähnlich wie du gedacht, bin aber zu nichts gekommen, weil ich ständig die Probleme anderer Leute vor die meinen stellte. Als ich selbst mal in der Bredouille saß, haben es eben diese Leute mir gedankt, indem sich mich links liegen ließen. Und so habe ich wieder ein bißchen dazugelernt. Heute verkehre ich in den Kreisen, die ich vor noch gar nicht so langer Zeit verachtete. Das bringt mir ein gutes Image und ich habe mein gesichertes Auskommen. Und wenn du auf meine seichten Lieder anspielst, die ich zum Besten gebe – da kann ich dir nur sagen, daß die Mehrzahl der Leute dies hören will. Oder glaubst du, meine Plattenumsätze kämen von ungefähr? Fünf Goldene Schallplatten beweisen die Beliebtheit meiner Songs!«

    »Ach, gib nicht so furchtbar an!« Der Tramper machte eine abwehrende Handbewegung. »Da haben doch bestimmt etliche deiner Gegner zusammengelegt, um deine Platten ein für allemal aus dem Verkehr zu ziehen!«

    »Das war der beste Witz seit langem!« Delaye schüttelte sich vor Lachen. »Du gefällst mir! Wenn du gerade Zeit und Lust hast, lade ich dich zu ein paar Drinks ein. Dann kannst du mir zeigen, was du draufhast. Ein Freund von mir hat hier in der Nähe, in Port Grimaud, einen Restaurant-Club. Dort trete ich auch manchmal auf. Du müßtest nur mal kurz vorspielen – vielleicht bekommst du bei ihm einmal pro Woche ein Engagement – wenn du gut bist.«

    »Ich bin gut – oder wenigstens glaube ich es zu sein! Aber ich wollte eigentlich nach St. Tropez. Ein Musikstudent, den ich unterwegs getroffen habe, hat mir erzählt, daß dort das Geld auf der Straße liegt und man es bloß verstehen muß, es aufzuheben. Da frage ich mich doch, warum ich nicht gleich mein Zelt in St. Tropez aufschlage, anstatt einmal pro Woche in einem Club zu spielen.«

    »Weil du hier die Gegend nicht kennst, sonst würdest du anders reden. Wenn du dich nämlich mal genau umsiehst, erblickst du eine jede Menge Billigtouristen, die das ganze Jahr über hart darauf gespart hatten, einmal zur Urlaubszeit in die Pfründe der High-Society einzubrechen, um die Puppen tanzen zu lassen. Von denen wirst du nicht viel erben, denn die werden hier ordentlich ausgenommen. Die sind heilfroh, wenn sie ihrem Urlaubsflirt einen Drink oder wenn es hoch kommt, ein Abendessen spendieren können, sozusagen als Entrée für Gratisbumsen. Um bei denen einigermaßen auf deine Kosten zu kommen, darfst du dir die Finger acht Stunden am Tag krummspielen, ganz abgesehen von deiner Stimme, die bei diesem Marathon auch nicht gerade besser wird. Und dann gibt es hier noch die Konkurrenz, die ja bekanntlich auch nicht schläft. Wenn du denkst, du brauchst dich nur hinzustellen und ein paar Liedchen zu trällern, bist du schief gewickelt. Das Publikum erkennt sofort, ob du etwas draufhast oder bloß ein billiger Absahner bist und honoriert es dementsprechend. Hier laufen jede Menge musikalische Genies herum, die alle zu Überleben versuchen, daß du dir manchmal ganz klein und häßlich vorkommen wirst. Und sollten all diese Perspektiven immer noch nicht ausreichen, um dich abzuschrecken, so kann ich dir weitere negative Seiten eines Straßen­musikerdaseins in St. Tropez aufzählen – zum Beispiel, daß dort eine strenge Ordnung vorherrscht.«

    »Ordnung?« fragte der Tramper bitter. »Die gab es in Italien, wo ich gerade herkomme, auch. Dort hat man mich ein paarmal in den Knast gesteckt, weil ich mich geweigert, habe, die ansässigen Mafia­polizisten mit einem Teil meines Obolus zu schmieren. Sozusagen als ›Gewerbeschein für Straßenmusikanten‹, wie diese Schweine es ausdrückten.«

    »Nein, diese Art von Ordnung habe ich nicht gemeint«, wehrte Delaye ein wenig betroffen ab. »In St. Tropez sind Straßenmusikanten gern gesehen und solange sie sich dem Gesetz entsprechend verhalten, haben sie nichts zu befürchten. Ich meine die Ordnung, die von den Straßenmusikern selbst aufgestellt wurde, nach dem alten Sprichwort: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Aber wenn du erst einmal da bist, wirst du schon verstehen, was ich meine...«

    »Komm – ergehe dich nicht in vagen Andeutungen, sondern erkläre es mir!«

    »Tja, weißt du...« Delaye ließ sich Zeit, um die Spannung ein wenig zu steigern. »Die guten Plätze, wo du echt Kohle verdienen kannst, sind in St. Tropez sehr rar, weil es eben ein Überangebot an Spitzenmusikern gibt. So ist es dort an der Tagesordnung, daß vor den wenigen Restaurants und Straßen­cafés, wo Darbie­tungen erlaubt sind, die Musiker sozusagen Schlange stehen, bis sie drankommen. Und nicht nur Straßenmusiker darfst du dort als deine Konkurrenz be­trachten, sondern Tänzer, Clowns, Zauberer, Feuerspucker, Akrobaten und allerlei andere Artisten wirst du vorfinden. Daher sind diese Läden nach der dritten Darbietung meist schon abgegrast, weil die Gäste nicht so schnell wechseln.«

    »Und was ist mit den sogenannten guten Läden? Warum darf man da nicht spielen?«

    »Das versuchte ich dir schon vorher zu erklären... Es ist nämlich so, daß die Côte d'Azur nicht gerade eben auf dich gewartet hat. Da waren einige clevere Kerlchen schon etwas eher hier und haben sich die besten Läden reserviert. Und gerade eben in solch einen Laden ver­suche ich dich einzuschleusen, denn ohne Protektion geht hier gar nichts. – Übrigens, welche Art von Musik machst du denn eigentlich?«

    »Folk, Blues, internationale Songs und manchmal auch Volks­lieder aus dem alten Rußland.«

    »Russische Volkslieder?« fragte Yannick Delaye erstaunt. »Wie kommst du denn dazu?«

    »Mein Großvater mütterlicherseits war Rußlanddeutscher. Unter Stalin wurde er samt Familie nach Kasachstan deportiert, wo Groß­mutter starb. Mit meiner Mutter konnte er aber von dort in den Westen flüchten. Als ich noch klein war, brachte er mir einige Lieder aus seiner alten Heimat bei. Hätte er noch ein paar Jährchen länger gelebt, hätte ich es bestimmt zum Solisten bei den Don-Kosaken gebracht.«

    Ein Schild kündigte einen Kreisverkehr mit verschiedenen Ab­fahrten, darunter auch die nach Port Grimaud, an.

    »Also, was ist?« fragte Delaye. »Wir sind gleich da. Kommst du jetzt mit oder soll ich dich am Kreisel absetzen? Von dort sind es nur noch sechs Kilometer bis nach St. Tropez. Die schaffst du notfalls auch zu Fuß.«

    »Nach all dem, was du mir erzählt hast, glaube ich, daß es doch besser ist, dein Angebot anzunehmen, denn in meiner Kasse herrscht zur Zeit ein bißchen Ebbe. St. Tropez läuft mir nicht weg.«

    Die Küstenstraße über eine Ausfahrt des Kreisverkehrs verlassend, bog das Cabrio in eine kurze Straße ein, die zu einem riesigen Parkplatz führte. Rechts vom Parkplatz befand sich eine mittelalterlich anmutende Stadt, umsäumt von einer riesigen Mauer, die von einem Wassergraben umgeben war. Eine Brücke führte über den Graben zu einem Stadttor, das von zwei wuchtigen Türmen flankiert wurde. Die Straße teilte sich in zwei Spuren: links für Anlieger, rechts für Besucher und daher kostenpflichtig. Delaye ordnete sich in die linke Spur ein, hielt am Schlagbaum und zeigte dem Parkwächter in seinem Kabäuschen unaufgefordert seinen Dauer­parkausweis. Die Schranke hob sich und der Wagen konnte passieren. Nach etwa fünfzig Metern fand sich eine freie Lücke und mit geübtem Schwung parkte Delaye den Wagen rückwärts ein.

    »Mann, oh Mann«, rief der Tramper aus, als er den Wagen verließ, »das ist aber ein imposanter Kasten! Eine Stadt dieser Art habe ich noch nie gesehen! Und das ist Port Grimaud? Wann wurde es erbaut?«

    »Moment mal!« rief Delaye. »Ich muß erst einmal die Kiste dichtmachen. Wenn du also schon mal dein Gepäck rausnehmen würdest...«

    Der Tramper schnallte sich den Rucksack um und stellte den Gitarrenkoffer auf den Boden, während Delaye das Elektroverdeck nach vorne fuhr und den Wagen verschloß.

    »Und nun zu deinen Fragen«, sagte er, als sie sich auf dem Weg zum Stadttor befanden. »Port Grimaud – man nennt es auch das Venedig Südfrankreichs – wurde 1965 erbaut. Ein Ingenieur hat sich damit einen Wunschtraum erfüllt. Frag' mich bloß nicht, wie der hieß – ich habe es vergessen.«

    »Waaas?« rief der Tramper ungläubig aus. »Diese Burg wurde erst vor neun Jahren erbaut? Willst du mich verscheißern? Die sieht doch aus, als hätte sie mindestens dreihundert Jahre auf dem Buckel!«

    »Ich hab's auch nicht geglaubt, als ich sie zum ersten Mal sah«, grinste Delaye. »Aber das Geniale daran ist, daß man zuerst Stahl­schienen horizontal in den Meeresgrund getrieben und dann die Häuser darauf gebaut hat. Die ganze Stadt besteht sozusagen aus künstlichen Landzungen mit Reihenhäusern – dazwischen natürlich die Kanäle. Wie in Venedig. Zu jedem Haus gehört ein Boots­anlegesteg mit Ankerplatz – das ist im Preis mit inbegriffen. Und um den Eindruck, es wären Neubauten, zu verwischen, hat man aus der gesamten Umgebung die noch brauchbaren Steine von Abbruch­häusern aussortiert und hier zum Bau wieder­verwendet. Das Resultat kann sich doch sehen lassen – oder nicht?«

    »Von außen gesehen – alles schön und gut«, wandte der Tramper ein, »aber wenn die Stadt sozusagen aus Schutt und Asche besteht – wer möchte schon gerne darin wohnen?«

    »Tz... Tz... Vom Bauen verstehst du wohl herzlich wenig, sonst würdest du nicht einen derartigen Stuß daherreden«, gab Delaye mitleidig lächelnd zurück. »Alte Ziegelsteine eignen sich viel besser für den Hausbau, weil sie nämlich noch sorgfältig von Hand gefertigt wurden. Zudem wurden für die Innenausstattung nur die besten Materialien verwendet. Oder glaubst du, die Leute, die hier wohnen, hätten ihr Geld in Bruchbuden investiert? – Da fällt mir gerade ein – jetzt kennen wir uns schon seit geraumer Zeit – und ich weiß noch nicht mal deinen Namen!«

    »Ich heiße Victor. Victor Laforêt.«

    »Victor... Laforêt… Klingt gut, der Name. Läßt sich was daraus machen... Und du wirst mich gefälligst beim Vornamen anreden, wie es zwischen guten Kollegen üblich ist! Wie ich heiße, weißt du ja bereits. Es stört mich nämlich, wenn du immer bloß ›Du‹ sagst.«

    »In Ordnung. Wenn du darauf Wert legst... Yannick.«

    Die beiden überschritten die Brücke und kamen zu einem Tor­wächter­häuschen, dessen Schranke heruntergelassen war. Als sie die Schranke seitlich beim Fußgängerweg passieren wollten, verließ eiligst ein uniformierter Wächter das Häuschen und trat mit wichtig­tuerischer Miene auf sie zu:

    »Bonjour, Monsieur. Darf ich Sie fragen, was Sie in Ihrem Koffer haben?«

    »Eine Gitarre«, antwortete Victor leicht angesäuert. »Das sieht man doch! Oder glauben Sie etwa, das ist ein getarntes MG?«

    »Aha! Und Sie wollen hier wohl Straßenmusik machen!« fuhr der Wächter unbeirrt fort. »Das ist leider verboten! Sie können die Stadt zwar gerne besuchen, aber Ihr Instrument müssen Sie hier abgeben. Beim Verlassen der Stadt erhalten Sie es selbstverständlich wieder zurück.«

    »Darf ich Sie mal kurz unterbrechen?« mischte sich Yannick in den Disput und zückt einen Ausweis mit Lichtbild. »Ich bin Eigentümer einer Wohnung in dieser Stadt. Und nun ist Schluß mit den Fisimatenten! Dieser Herr ist mein Gast!«

    »Das glaube ich Ihnen nicht!« zeterte der Wächter. »Ich erkenne Straßen­musikanten auf den ersten Blick – und er ist mit Garantie einer! Sie wollen ihm doch aus Mitleid bloß helfen, in die Stadt hereinzukommen! Das kann er ja – aber die Gitarre bleibt hier!«

    »Das werden wir sofort hier an Ort und Stelle regeln«, knirschte Yannick, mühsam seine Wut unterdrückend, um dann sofort die hoch­näsigste Miene aufzusetzen, zu der er fähig war. »Soweit kommt es noch, daß ich mir von Ihnen vorschreiben lasse, wen ich in meine Wohnung einlade und was die Person mitbringen darf! Sie haben doch in Ihrer Bruchbude sicher ein Telefon... Und genau von dem aus rufe ich jetzt den Bürgermeister, mit dem ich übrigens sehr gut bekannt bin, an.« Er zog aus seiner Brieftasche ein kleines Notizbuch hervor und blätterte darin herum. »Aha – da haben wir ihn schon. Na, ja – dann wollen wir doch mal sehen, wie er auf Ihre Impertinenz reagiert...«

    »Aber das ist doch nicht nötig, meine Herren...« Der Wächter schrumpfte sichtlich um etliche Zentimeter. »Sie können passieren... Es ist doch nur... Sie müssen mich auch verstehen... Ich führe lediglich die Anordnungen der Stadtverwaltung aus... Ich wünsche Ihnen noch einen recht angenehmen Tag, meine Herren...«

    »Staatlich domestiziertes, arschgeficktes Suppenhuhn!« knurrte Victor, als sie das Tor durchschritten. Ein halbersticktes Glucksen ließ ihn innehalten. Die Hände über den Bauch gekreuzt und vor Lachen nach Luft japsend, stand Yannick in verkrümmter Haltung da. Kopf­schüttelnd kehrte Victor wieder um.

    »Was hast du denn gefressen, daß du dich so komisch aufführst?« fragte er belustigt.

    »Wo... ha-ha-ha... wo... ha-ha-ha... woher... ha-ha-ha... stammt denn... ha-ha-ha... dieser Spruch? Der ist ja... ha-ha-ha... total... ha-ha-ha... neu für mich... ha-ha-ha!«

    »Das nennt man die Ausdruckswucht der deutschen Sprache. Hab' ich mal irgendwo gelesen«, erklärte Victor mit gewollt todernster Miene, worauf Yannick erneut einen Lachkrampf bekam.

    »Ich dachte, du wärst Franzose?« Yannick wischte sich die Lachtränen aus den Augen. »Ach ja... Dein Großvater war Rußlanddeutscher... Da hat er dir wohl außer den russischen Liedern auch ein paar Brocken Deutsch beigebracht.«

    »Ganz so, wie du vermutest, ist es nicht. Ich bin deutscher Staats­bürger. In Saarbrücken geboren und zum größten Teil in München aufgewachsen. Mein Vater kommt aus Pontoise, das liegt in der Nähe von Paris. Als das Saarland nach dem Zweiten Weltkrieg französisch besetzt war, hat er dort gearbeitet und ist dann auch geblieben, nach­dem es 1957 wieder an die Deutschen zurückgegeben wurde. Schuld daran war meine Mutter, die sich vehement weigerte, mit ihm nach Frankreich zu gehen. Ich war damals erst drei Jahre alt. Seit der Flucht aus Rußland, traute sie sich nicht mehr in einem anderen Land zu leben, aus Angst davor, womöglich wieder eine Heimat zu verlieren. Und so stellte sie meinen Vater vor die Wahl – entweder zu bleiben oder aber allein nach Frankreich zurückzukehren. Sie hat sich durch­gesetzt.«

    »Dann bist du ja mehrsprachig aufgewachsen: Französisch, Deutsch und sogar etwas Russisch.« Yannick nickte anerkennend. »Du kannst wirklich von Glück sagen. Andere würden dich darum glühend beneiden.«

    »Du weißt eben noch nicht alles: In der Schule belegte ich als Pflichtfach Englisch. Und dann hatte ich mich fast ein Jahr in Italien herumgetrieben...« gab ihm Victor spitzbübisch eins drauf.

    Einen weiteren Torbogen passierend, kamen sie auf eine Brücke, die über einen Kanal führte und in ein weiteres Tor mündete. Dann standen sie auf dem Marktplatz, der zu Meerseite hin offen war. Eine Kirche auf einer künstlichen steinernen Insel, durch eine Brücke mit dem Platz verbunden, lenkte als erstes das Augenmerk des Betrachters auf sich. Die Häuserreihen, die den Platz auf drei Seiten umschlossen, besaßen Arkaden, in denen wiederum Restaurants und Läden unter­gebracht waren. Außerhalb der Arkaden, zur Platzmitte hin, hatten ge­schäftstüchtige Restaurant- und Bistrobesitzer Tische und Stühle auf­­gestellt, um den reichlich vorhandenen Touristen die notwendige Be­wir­tung zu ermöglichen. Die verbleibende Fläche des Platzes wurde von Eisenpfosten eingerahmt, die miteinander durch Ketten verbunden waren. Dort konnte man einige Leute beim »Boule« beobachten – dem Nationalspiel der Franzosen, das auch schon Konrad Adenauer in Italien spielte – nur mit dem kleinen Unterschied, daß man es dort »Boccia« nannte. Im Hintergrund des Platzes waren Landzungen zu erblicken, die durch Kanäle voneinander getrennt wurden. Die Häuser darauf besaßen alle Vorgärten mit gepflasterten Wegen zu den Bootsanlegestellen. Um diese Tageszeit ankerten schon etliche Yach­ten an den Liegeplätzen und bereicherten das ohnehin grandiose Bild noch zusätzlich.

    »Und ich dachte, es würde ein Markt stattfinden!« rief Victor enttäuscht aus.

    »Er hat den Namen nur pro forma«, erklärte Yannick, »weil er halt der einzige große Platz ist und zentral liegt. Markttage abzuhalten ist mit viel zu viel Lärm verbunden. Mich wundert schon sowieso, daß die Leute das Scheppern der Boulekugeln nicht stört.«

    »Ganz schön spießig«, gab Victor seinen ersten Eindruck wider. »Eine Bilderbuchstadt. Wie vom Reißbrett. Sauber, vorzeigbar und absolut spießig. Trotz allem aber beeindruckend. Spock vom Raum­schiff Enterprise würde sagen: faszinierend!«

    »Es mag ja durchaus sein, daß diese Stadt spießig ist«, verteidigte Yannick sein Domizil. »Aber hier kann ich wenigstens ungestört meine Freizeit genießen. Sie ist genau das Gegenstück zu St. Tropez, wo der Rummel bis vier Uhr morgens oder wenn total Verrückte in der Stadt sind, manchmal auch noch länger dauert. Da ist es unmög­lich, auch nur ein Auge zuzumachen. Die Narrenfreiheit wird über das Wohl der Bevölkerung gestellt, um abzusahnen, was es nur abzu­sahnen gibt.«

    »Und alle halten die Schnauze. Niemand, der versucht, dagegen anzustinken?«

    »Einige schon, aber sie können nichts ausrichten. Die Lobby derer, die die große Kohle einsacken, ist zu groß und Neubeginner zum Beispiel bekommen keinen Fuß in die Tür, weil die Alteingesessenen nichts vom großen Kuchen abgeben wollen. Eine richtige Mafia! Die stecken alle unter einer Decke und beherrschen die ganze Umgebung. Aber nach außen hin ist nichts zu davon sehen.«

    »Und woher weißt du alles so genau?«

    »Ich hatte vor kurzem die Idee, eine Boutique für Yachtzubehör zu eröffnen – als zweites Standbein sozusagen. Da ich glaubte, einiger­maßen beliebt zu sein und auch sonst einen ziemlich großen Bekann­tenkreis habe, rechnete ich mir prima Chancen aus, einen guten Umsatz zu machen. Leichter gedacht als getan. Nach fünf Anläufen bei der Stadtverwaltung warf ich das Handtuch. Diese Knilche haben mir nicht nur Steine, sondern richtige Granitbrocken in den Weg gelegt. Das kann sich selbst ein phantasiebegabter Mensch kaum vorstellen, was denen alles einfiel, um mich loszuwerden. Aber jetzt habe ich vom vielen Erzählen Durst bekommen. Laß uns endlich in den Club gehen!«

    Nachdem sie einige Gassen durchwandert und eine schlanke Holzbrücke über­quert hatten, kamen sie auf eine Asphaltstraße, die in Abständen von fünfzig Metern mit Bremsschwellen durchsetzt war.

    »Das hat man sich hier gegen die Raser einfallen lassen«, bemerkte Yannick. »Wenn du hier einziehst, mußt du dich sogar im Kauf­vertrag verpflichten, kein Radio auf dem Balkon zu spielen und auch anderweitig lärmbelästigende Betätigungen zu unterlassen. Wenn du das nicht vorab unterschreibst, kommt erst gar kein Vertrag zustande. – Nur noch ein paar Schritte, dann haben wir's geschafft!«

    Die Fensterfront des Restaurants, vor der sie nun standen, machte einen gediegenen Eindruck. Durch die Scheiben konnte man die Umrisse von gemütlich anzusehenden, durch Weinranken abgeteilte Sitzecken erspähen. Über der Ein­gangstür, die mit einem Guckfenster versehen war, hing an zwei Ketten ein fast unauffälliges Metallschild mit der Aufschrift »Cabane« – zu deutsch »Hütte«.

    Yannick trat als erster durch die Tür. Er sah sich suchend in dem fast menschenleeren Club um und steuerte dann, Victor im Schlepp­tau, auf die Bar zu. Ein Keeper, der gerade saubere Gläser in das Spiegelregal an der Wand einsortierte, drehte sich um – ein erfreutes Lächeln huschte über sein Gesicht.

    »Sei gegrüßt, Yannick! Was führt dich schon so früh in unsere Lustburg?«

    »Hallo Gérard! Ich suche Alain. Ist er zu sprechen?«

    »Alain ist für kurze Zeit in seine Wohnung gegangen. Wenn du ein paar Minuten deiner kostbaren Zeit opfern willst, dann setz dich her und leiste mir Gesellschaft. Trink etwas auf Rechnung des Hauses – bis dahin wird er bestimmt zurück sein.« Gérard blickte schalkhaft zu Victor und dann wieder zu Yannick. »Eh...! Wen hast du denn da mitgebracht? Den Jungen habe ich bei uns noch nie gesehen. Bist wohl zum anderen Ufer umgeschwenkt...?«

    »Paß nur auf, daß ich dich nicht gleich vernasche!« spielte Yannick den Lüsternen. »Aber Scherz beiseite: des Jungen wegen will ich mit Alain sprechen.«

    »Wenn ich mir die Gitarre so anschaue, nehme ich an, es geht um Musik...«

    »Du hast es erfaßt. Mich interessiert es auch persönlich, was er so draufhat. Wer weiß... Vielleicht ist er ja sehr gut... Der Schuppen könnte auf alle Fälle mal wieder frischen Wind vertragen.«

    »Du kannst ja schon mal dein Instrument auspacken«, wandte sich Gérard an Victor. »Was willst du trinken?«

    »Ein schönes kühles Bier.«

    »Und für dich natürlich auch – oder irre ich mich?«

    Gérard betrachtet Yannicks Schweigen als Zustimmung und wäh­rend er das Bier zapfte, packte Victor seine Gitarre aus und legte sie auf den Flügel, der in unmittelbarer Nähe der Bar stand. Dann besah er sich die Räumlichkeiten etwas genauer: Sitzbänke, Stühle und Tische waren im spanischen Stil gehalten und paßten hervor­ragend zu der übrigen Ausstattung des Raumes. Die Bar, ganz aus Palisander­holz und Messing gefertigt, verstärkte den Eindruck der Behaglich­keit. Eine Wand, bestehend aus einem Bambusgitter mit Efeu, ver­deckte die Durchreiche und den Eingang zur Küche. Zwei Flügeltüren zur entgegengesetzten Seite der Bar führten in einen Garten mit Bootsanlegestelle. Einige Gäste saßen unter Sonnen­schir­men beim Nachmittagscocktail – vermutlich die Eigner der PS-strotzenden Sechsmeter-Yachten, die am Steg vertäut lagen.

    Gérard stellte die Biere auf die Theke und kaum hatten Yannick und Victor sich zugeprostet und einen Schluck getrunken, als ein mittelgroßer, etwas quirlig wirkender Mann den Club betrat. Er besaß pechschwarzes Haar – das Auffälligste an ihm jedoch war die Nase, die wie ein Erker aus seinem Gesicht ragte. »Der kann seinen Zinken bestimmt in einen Baum reinhacken und freihändig übernachten«, dachte Victor, ließ aber nach außen hin nicht erkennen, daß er sich über den Anblick des grotesk wirkenden Gesichts amüsierte.

    »Hi, Alain!«« begrüßte Yannick den Patron. »Du siehst so aufgeregt aus.«

    »Hi, Yannick...! Dazu habe ich auch allen Grund!«

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