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eBook396 Seiten4 Stunden

Gift

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Über dieses E-Book

Ein rasanter Psychothriller, welcher durch unvorhersehbare Wendungen einen scheinbar unglaubwürdigen Schauplatz bietet, hervorgerufen durch mehrere ineinander spielende Geschichten. Im Stil eines David Peace...!
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum1. Feb. 2013
ISBN9783847628354
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    Buchvorschau

    Gift - Dirk Radtke

    Kapitel 1.

    Ach, wie glücklich sind die Toten.

    (Friedrich Schiller)

    Zwölf Stunden bis zu deinem Tod!

    Die Schrift verschwamm vor seinen Augen. Der mit schwarzem Edding geschriebene Text erzeugte einen krassen Farbkontrast auf dem gelben Post-it.

    Was, zum Henker…

    Er blinzelte den Schleier der Nacht fort, die Erinnerungen, den Suff, den Tod, die Tränen, blinzelte und starrte auf die Worte, deren Sinn sich ihm nicht erschlossen.

    >12 Stunden bis zu deinem Tod<

    Oder rührte die tränenverschleierte Sicht von den dröhnenden Kopfschmerzen her, die aus einem zentralen Punkt seines Schädels entsprangen?

    Verdammte Scheiße!

    Er betrachtete den Inhalt der neben dem Monitor stehenden Whiskey-Flasche. Goldfunkelnd, klar und rein.

    Halbleer, oder halbvoll?

    Sollte er einen der Begriffe seiner seelischen Verfassung zuordnen, lautete die Antwort halbleer. Mehr als halbleer.

    „Fuck! Martin Maars Zeigefinger zuckte zurück, nachdem die bloße Berührung des auf der Kopfhaut befindlichen Schmerzzentrums einen heftigen Stich ausgelöst hatte. „Verdammt, was…?

    Doch nicht der Alkohol?

    Ein Tropfen hellrotes Blut auf der Fingerspitze.

    Sein Blut.

    Scheiße!

    Sein Blut von seinem Schädel.

    Scheiße, Scheiße!

    Sein Blut von seinem Schädel auf seiner verdammten Fingerspitze!

    Scheiße, was, zum Teufel…?

    Er befühlte die Stelle ein weiteres Mal. Vorsichtig. Wollte sich vergewissern, dass…

    „Verdammt!"

    Der gleiche schmerzhafte Stich. Mehr Blut. Mehr Blut vor seinen verschleierten Augen.

    Eine Platzwunde?

    Er schloss die Augen, grub in seiner Erinnerung nach einem Anhaltspunkt, einer Erklärung, einer beschissenen Erklärung, doch da war nur Leere, diese unerklärliche Leere zwischen Tod und Suff und Trauer und diesen beschissenen Kopfschmerzen.

    Und wenn…

    Er überlegte, sich die Verletzung vielleicht selber zugezogen zu haben? Wer allnächtlich bis zur Besinnungslosigkeit säuft, kennt die Folgen unkontrollierter Bewegungsabläufe. Türrahmen verschmälern sich, Läuferkanten mutieren zu Bordsteinen. Nicht selten erwachte er mit Schrammen oder Blutergüssen, deren Ursachen sich im Nachhinein nicht mehr erklären ließen.

    Nein!

    Die Menge des in der Flasche vorhandenen Alkohols sprach eindeutig dagegen. Normalerweise fand er sie morgens in entleertem Zustand wieder. Nie halbleer.

    Oder halbvoll?

    Jemand musste ihm von hinten eins übergezogen haben.

    Aber warum? Wer? Wie war derjenige unbemerkt in seine Wohnung gelangt?

    Und was soll diese makabere Nachricht auf dem Zettel?

    Er beugte sich aus dem Schreibtischsessel vor, um das Post-it von dem Monitor zu reißen, als er den Stich spürte.

    Nicht den im Kopf.

    In seiner Armbeuge.

    Seine Augen weiteten sich. Schweißtropfen glitzerten auf der Stirn. Der Puls raste, während er auf einen gottverdammten Alptraum blickte.

    Aus der rechten Vene lugte das Ende einer Kanüle, worauf der Zylinder einer Insulinspritze steckte; der Kolben bis zum Anschlag hineingedrückt. Ein winziger Blutstropfen verkrustete neben der Einstichstelle.

    Das gibt es nicht…

    Er hielt den Arm starr, wie nach der Schienung eines Bruchs, traute sich nicht ihn zu bewegen, auf die Gefahr hin, den Fremdkörper weiter in sich hineinzuschieben. Und in der Sekunde, in der sein Verstand das Gesehene verarbeitete, spürte er die Nadel.

    Ein Alptraum…

    Die Nadel, die sich bis weit in sein Venensystem zu schieben schien…

    Ein verdammter Alptraum…

    Die stechende Nadel, die sich bis weit in sein schmerzendes Venensystem zu schieben schien, hinein bis in sein verfluchtes Herz.

    Ein verdammter, beschissener Alptraum!

    Er kniff die Augen zusammen, hoffte auf eine aus seinen Alkoholexzessen entspringende Sinnestäuschung, kniff sie zusammen bis es schmerzte, und der Schmerz ihn in die Realität holte, und dann brauchte er sie nur wieder zu öffnen, und alles wäre wieder wie zuvor.

    Kein Post-it.

    Wie zuvor!

    Keine Spritze.

    Wie zuvor!

    Keine Nachricht.

    Wie zuvor!

    Kein Schmerz!

    Weg! Weg! Weg!

    Er riss die Augen auf, starrte…

    Scheiße!

    …starrte auf den in seine Ader genagelten Fremdkörper, dessen Anblick sich mit der noch vor wenigen Minuten verständnislosen Notiz zu einem einzigen verstörenden Wort verknüpfte.

    Gift!

    Er brauchte eine Weile sich zu sammeln, die neugewonnenen Erkenntnisse sinnvoll strukturiert in seinen Schädel zu hämmern…

    in die Leere, in den Suff, in den Tod, in die Trauer.

    Irgendein Wahnsinniger war in die Wohnung eingedrungen, hatte ihn bewusstlos geschlagen, um ihm die Vene mit Gift vollzupumpen.

    Und jetzt?

    Krankenwagen. Notarzt. Polizei.

    Er brauchte Hilfe. Auf der Stelle. Musste auf der Stelle gerettet, und der Irre, der ihm das angetan hatte, gefasst werden!

    Auf der Stelle!

    Martin biss die Zähne zusammen, als er die Nadel aus der Vene entfernte. Ein kleiner Piekser, nichts weiter. Aber die Tatsache, das widerliche Ding aus seinem Körper zu entfernen, glich der Vorstellung einen Dolch aus dem eigenen Fleisch zu reißen.

    „Scheiße!"

    Er schleuderte die Spritze fort.

    „Scheiße!!!"

    Ein zäher Tropfen quoll aus der Einstichstelle.

    „Gottverdammte Scheiße!!!"

    Im selben Augenblick wurde ihm übel. Er ließ sich in den Sessel zurückfallen. Die Gedanken überschlugen sich.

    Verflucht! Das Gift. Es wirkt!

    Sein Magen kontrahierte. Schmerzhaft und Unerwartet. Er presste die Hand vor den Mund. Schwindel überkam ihn, ließ den Raum in unterschiedlichen Richtungen kreiseln, wie eine ausrotierende Scheibe. Dann entlud sich der Druck aus dem Bauchraum in einem erleichternden Rülpser. „Was ist mit mir los?"

    Bekämpft mein Körper die Auswirkungen des Alkohols?

    Die ständige Übelkeit war ihm vertraut. Ebenso der Schwindel. Das Zittern der Finger, welches er nur durch einen kräftigen Schluck aus der Flasche bändigen konnte.

    Musste…

    Der Gedanke machte Mut. Zumindest bot diese These eine willkommene Alternative zu den möglichen Vergiftungserscheinungen. Aber dadurch ließ sich die Existenz der Spritze samt angekündigtem Todeszeitpunkt nicht ausblenden. Sie steckte flachwinklig im Teppich, das Post-it klebte weiterhin auf dem Bildschirm, und leuchtete und leuchtete und leuchtete…

    >12 Stunden bis zu deinem Tod!<

    Scheiße, Scheiße, Scheiße!

    Das Telefon. Anrufen. Hilfe holen.

    Der Apparat steckte in der Ladestation hinter der Flasche. Bunnahabhain, 25 Jahre alt. Der Stoff hatte ein für seine Verhältnisse kleines Vermögen gekostet. Doch sein Abgang hätte auf eine Art Stilvoll sein sollen. Edel, seiner früheren Lebensweise angepasst. Nur dass er sein Vorhaben nicht bis zum Ende hatte durchziehen können. Jemand anderer hatte diesen Part für ihn übernommen. Wohldosiert. Ein schleichender Tod. Ungeachtet der Schachtel Imipramin und dem Rasiermesser auf dem Schreibtisch, welches ihm ein rasches Ende beschert hätte.

    Hätte…

    Panik breitete sich aus. Panik und Angst. Er hatte nach dem Tod greifen wollen. Jetzt griff der Tod nach ihm. Ein beschissenes Gefühl.

    Sein Blick hetzte durch den Raum. Suchte Gründe, Verständnis, Hilfe.

    Die Spritze…

    Gift!

    Das Post-it…

    Ultimatum!

    >12 Stunden bis zu deinem Tod!<

    Sein Blick fraß sich an der Flasche fest.

    Nussig, nussig, nussig…

    Er erinnerte sich an den Geschmack.

    Verdammt, in dieser Situation?

    Für einen kurzen Moment dominierte das Verlangen, die Flasche zu greifen und sich einen kräftigen Schluck einzuverleiben.

    Ohne Glas. Ohne Eis. Direkt aus der Flasche. Pur.

    Die Gedanken wegspülen. Ertränken. Unwirklich erscheinen lassen…

    Weg! Weg! Weg!

    Aber dann durchlief ihn die Erkenntnis, möglicherweise nicht mehr zwischen Rausch und Vergiftungserscheinungen unterscheiden zu können.

    Ist das wichtig?

    Er wusste es nicht. Dennoch unterdrückte er die Sucht. Vorsichtshalber. Und nestelte hinter der Flasche nach dem Telefon.

    Kapitel 2.

    Wer den Tod nicht fürchtet, achtet das Leben nicht!

    (anonym)

    War es die Angst? Das Gift in seinen Adern? Oder der mangelnde Alkohol, der seine Finger in taube, fast unkontrollierbare Griffel verwandelte? Er brauchte mehrere Versuche, die drei Nummern in die Tastatur einzugeben. Das darauffolgende Freizeichen dröhnte wie ein Nebelhorn in seinen Ohren.

    Wahrnehmungsstörungen? Eine Überempfindlichkeitsreaktion aufgrund beginnender Schädigung des Nervensystems?

    Was wusste er darüber?

    Nicht wirklich viel!

    Die Doku! Der grüne Knollenblätterpilz!

    Der Teufel unter den Giftpilzen…

    Ich brauche Hilfe! Auf der Stelle!

    „Polizeinotruf. Wie kann ich Ihnen helfen?"

    „Maar hier. Ich –"

    „Martin? Martin, grüß dich! Wo liegt das Problem?"

    Großkopf. Holger Großkopf. Spitzname Schädel, weil seine Kopfform an einen Football erinnerte. Wenn Schädel Innendienst schob, beantwortete er mit Vorliebe die eingehenden Anrufe. Niemand wusste warum.

    Wo liegt das Problem?

    „Schädel, hör zu! Schick mir sofort einen Wagen! Letzte Nacht bin ich überfallen worden. Irgendjemand ist in meine Wohnung eingebrochen, hat mir eins über die Birne gehauen und mich vergiftet. Bitte, du musst mir helfen!"

    Aus der Muschel drang Kratzen, als riebe Schädel das Telefon über seine unrasierten Wangen. Im Hintergrund vermeinte Martin verhaltenes Gelächter zu hören. Wahrscheinlich war die Mithörfunktion aktiviert.

    „Holger? Hast du mir zugehört? Ich brauch sofort einen –"

    „Martin… Muss ich dir als Insider erklären, dass jedes hier eingehende Gespräch aufgezeichnet wird?"

    „Was soll das Gelaber? Du musst –"

    „Und von deinen Anrufen haben wir mittlerweile so viel Tonmaterial zusammen… Schädel überspielte sein hörbares Schmunzeln mit einem Räuspern. „…davon könnte eine Doppel-CD gepresst werden!

    „Scheiße, ja. Ich weiß, ich weiß! Aber das hier ist ein absoluter Notfall!"

    „Das waren die anderen gefühlten tausend Anrufe auch, Martin. In seinem Tonfall schwang Mitleid. Dann Ironie. „Absolute Notfälle…

    Absolute Notfälle… Sicher!

    Schädel hatte recht. Wie oft hatte Martin in der Nacht angerufen? Wenn er voll war, jemanden zum reden brauchte, jemanden, der ihn verstand. Polizisten, Gleichgesinnte, weil…

    >Ernie hatte mal einen Bert! Hattest du auch Stoffpuppen?<

    Verflucht, hör auf! Hör auf, hör auf, hör auf!

    Was hatte der beschissene Psychiater erreicht? Was?

    Gottverdammt…

    „Schädel, ich weiß, dass ich dich hunderte Male mit meinen Anrufen genervt habe. Es tut mir leid. Wirklich! Ich war daneben, und… Scheiße Mann, tu mir jetzt einfach den Gefallen und glaub‘ mir, ja? Wenigstens dieses eine Mal. Ich erzähl keinen Mist, bei mir ist eingebrochen worden. Man hat mich niedergeschlagen. Keine Ahnung wer und womit. Jedenfalls hab ich ne bescheuerte Platzwunde am Kopf! Er tastete danach. Schmerz traf ihn wie ein Blitz. „Aber das ist nicht das Schlimmste! Als ich wach wurde, da… da steckte diese verdammte Spritze in meinem Arm. Verstehst du, was das bedeutet? Irgendetwas wurde mir injiziert. Ein Medikament, Gift, ich will’s gar nicht wissen, Schädel, ich will nur, das dieses verfluchte Zeug wieder aus meinem Körper verschwindet!

    Nach Luft schnappend, lauschte er dem Knistern im Hörer. Diesmal machte sich Schädel nicht die Mühe die Sprechmuschel abzudecken, um das Hintergrundkichern zu vertuschen. Natürlich hörten die anderen mit. Wahrscheinlich bescherten seine Anrufe einen abwechslungsreichen Dienstalltag. Vielleicht wartete man sogar auf ihn.

    Wie oft hab ich mich zum Affen gemacht?

    >Absolute Notfälle…<

    Er wusste es nicht. Und im betrunkenen Zustand war es ihm auch egal, was die anderen über ihn dachten. Dann blendete der Alkohol das Lachen und die Kommentare aus. Aber jetzt, nüchtern, den Tod vor Augen, fühlte er sich erbärmlich, hilflos und bloßgestellt.

    Ein abgewrackter Bulle bettelt um Hilfe.

    „Schädel, bist du noch dran?"

    Die Hintergrundgeräusche verstummten.

    „Natürlich bin ich noch dran."

    „Dann tu mir bitte den Gefallen und schick einen Wagen, hörst du? Am besten auch einen Arzt! Einen, der sich auf die Behandlung von Vergiftungen versteht, okay?"

    „Okay. Der Erna-Wagen ist schon unterwegs."

    Martin verdrehte die Augen. Schädels Tonfall offenbarte die Verarsche.

    Zum kotzen!

    Wie sollte er die Ernsthaftigkeit seiner Situation rüberbringen? Er klemmte den Hörer zwischen Kinn und Schulter, um an der Einstichstelle zu kratzen. „Ich meine es ernst, Schädel! Absolut ernst!"

    „Ja. Das tatest du letzte Woche auch, als du behauptetest, ein Unbekannter würde dich von der anderen Straßenseite aus beobachten. Aber als die Erna dann bei dir eintraf, gab es außer einer kaputten Straßenlaterne nichts was in dein Haus hätte hinein glotzen können. Zumal du alle Rollladen heruntergelassen hattest. Soll ich dir den Bericht der Kollegen vorlesen?"

    „Ich hab die Rollladen runtergelassen, weil mich jemand beobachtet hat!"

    „Der aber nur in deiner Phantasie existierte, oder?"

    Martin stöhnte, als er den Apparat wieder in die Hand nahm. Das Kratzen hatte Schmerzen verursacht, die ihm verdeutlichten, wie sehr ihm die Zeit unter den Nägeln brannte.

    Oder in den Adern!

    >12 Stunden bis zu deinem Tod!<

    Wieder verspürte er Magenkrämpfe. Das Gift entfaltete seine Kraft. Wenn er Pech hatte, würden ihn die Symptome bereits vor Ablauf des Ultimatums handlungsunfähig machen.

    Halbvoll, oder halbleer?

    Ich muss ihn bei der Stange halten! Ich muss, muss, muss!

    „Hör zu, Schädel, versuchen wir es doch einfach andersrum. Stell dir vor, ich bin gar nicht ich! Versuch mich als Neutrum zu betrachten. Als eine Person, der du nie in deinem Leben begegnet bist. Tust du mir diesen Gefallen? Nur dieses eine Mal, bitte!"

    Grunzen am anderen Ende der Leitung. Stühle rückten. Verhaltene Kommentare. Man bereitete sich auf die Vorstellung vor.

    „Also gut… Schädel klang genervt. „Sie wollen also einen Einbruch melden?

    Jemand kicherte im Hintergrund. Ein anderer pfiff.

    Kümmer dich nicht drum! Nur so geht das!

    Dem Beamten die Ernsthaftigkeit seines Anrufes nahebringen, indem sie in der dritten Person miteinander redeten. Unpersönlicher. Distanzierter.

    „Ja!" Er gab seinen Namen und Adresse an.

    „Ich habe mir Ihre Daten notiert. Gibt es irgendwelche Einbruchspuren, die auf ein gewaltsames Eindringen in Ihre Wohnung hindeuten?"

    „Natürlich gibt es die…"

    Er hatte noch nicht nachgesehen. Aber es musste sie einfach geben. Wie sonst hätten der oder die Täter das Haus betreten sollen?

    „Können Sie mir diese kurz schildern?"

    Martin ließ den Drehstuhl um die halbe Achse kreisen. Der Anblick des Raumes, der früher einmal die Bezeichnung Wohnzimmer getragen hatte, erschütterte ihn jeden Morgen neu. Bergeweise Schmutzwäsche verdeckte die wie wahllos verteilten Sitzmöbel. Dazwischen lugten Pizzakartons, McDonalds-Tüten und leere Whiskyflaschen hervor. Der im Suff umgerissene CD-Ständer hatte seine Fracht im Halbkreis über den Boden verstreut. Martin hatte keinen Sinn darin gesehen, die Sachen wieder einzusortieren. Was bedeutete Ordnung in einem chaotischen Leben? Eine Lüge!

    >Hattest du auch Stoffpuppen?<

    Shit!

    Der ehemals beigefarbene Teppich wies Flecken auf. Es roch muffig. Zu Dienstzeiten hätte Martin in einer solchen Behausung umgehend nach der vor sich hin modernden Leiche gesucht. Jetzt war er auf dem Weg zu einer solchen zu mutieren.

    „Hallo? Sie belegen gerade eine Notrufleitung. Wenn Sie mir keine eindeutigen Einbruchsspuren nennen können, sehe ich mich gezwungen, die Verbindung zu trennen."

    „Doch, Moment…" Martin erhob sich schwerfällig. In aufrechter Position schoss sein Kreislauf schlagartig in den Keller. Es rauschte in den Ohren, während ihm ein kurzer Aussetzer das Sehvermögen raubte.

    „Moment…, hörte er sich erneut sagen, damit Schädel nicht auf die Idee kam seine Drohung wahr zu machen. „Ich gehe zur Haustür.

    Wobei „gehen" nicht dem entsprach, was er tatsächlich tat. Mit einer Hand auf den belagerten Sesseln abstützend, tapste er vorsichtig in Richtung Korridor, hielt das Telefon fest umklammert ans Ohr.

    „Martin. Leg auf. Das bringt doch nichts. Leg dich ins Bett und schlaf deinen Rausch aus."

    „Bin jetzt gleich da… Die Knie schwammig, der Blick durch den instabilen Kreislauf getrübt, gelang es ihm, sich vom Türrahmen des Korridors zur Türklinke zu hangeln. „Hier sind eindeutige Einbruchsspuren, Schädel, hörst du? Eindeutig…

    Schädel, hörst du…?

    Während er seinem Kollegen noch zu vermitteln versuchte, er habe Spuren eines Einbruchs in seinem Haus erkannt, wich diese Erkenntnis der Tatsache, eben diese nicht vorzufinden.

    >Schädel, hörst du?<

    Scheiße, Scheiße, Scheiße!

    Trotzdem bestätigte er den Einbruch.

    Ein abgewrackter Bulle…

    Wegen dem gelben Post-it an der Tür.

    bettelt um Hilfe.

    Nicht außerhalb, sondern innerhalb der Wohnung.

    „Martin? Was machst du denn?"

    Er überflog die mit Edding verzeichnete Notiz. Der Hörer schepperte auf den Fliesenboden. Schädels Stimme erstarb.

    Stille.

    Dr. med. Roland Weihenkirchen

    Innere Medizin/Toxikologie

    Osterstraße 8

    45886 Gelsenkirchen

    Die handschriftlich verfasste Adresse schien sich wie von Geisterhand von dem Post-it zu lösen, und auf ihn zu zu schweben. In immer größer werdenden, Hoffnung versprechenden Lettern.

    Nein, oh Nein!

    Derjenige, der die Adresse hinterlassen hatte, räumte ihm die Option ein, seinen Tod zu vereiteln, indem er ihn auf eine Fachkraft verwies, die ihm das Leben retten konnte?

    Was für ein Scheiß…?

    Für wie behämmert hielt man ihn eigentlich? Und welcher Sinn steckte dahinter?

    Mich anlocken…

    Und dann?

    Und dann?

    Er öffnete die Tür, um die Außenseite des Schlosses näher zu betrachten.

    Unglaublich!

    Von den winzigen Kratzern alltäglicher Gebrauchsspuren abgesehen, schloss nichts auf eine gewaltsame Manipulation.

    Der Eindringling hat einen Dietrich benutzt.

    Oder ganz einfach einen Schlüssel…

    Scheiße!

    Wer…?

    Er nahm das Telefon vom Boden, wusste nichts damit anzufangen, rannte damit ins Wohnzimmer, wusste nichts damit anzufangen, kickte CD-Hüllen durch den Raum, wusste nicht wo und wie anzufangen, warf wahllos Gegenstände um sich, fluchte, schimpfte, verdammte Gott und die Welt, bis er erschöpft in seinem Schreibtischstuhl zusammensank.

    Gott ist tot!

    >12 Stunden bis zu deinem Tod!<

    Zwölf Stunden, wovon die erste gerade verstrich.

    Und er nicht wusste, welchen Spielraum ihm das Ultimatum in Wirklichkeit bot. Hatte er die zwölf – oder nun runter gerechnet – elf Stunden tatsächlich zu seiner vollsten Verfügung? Oder endete der Überlebenskampf vielleicht schon mit Ablauf der nächsten Stunden? Weil er die restliche Zeit gegen ausufernde Symptome zu kämpfen hatte?

    Atemaussetzer…

    Es gab keine verbleibende Zeit!

    Muskellähmungen…

    Keine einzige Minute, in der er sich sicher fühlen konnte!

    Hautbluten und Herzflimmern…

    Jeder Atemzug versorgte die in seinem Körper wachsende, zerstörerische Energie, bis er - von Schwäche verzehrt - dem Tod ins Auge blickte!

    Fuck! Was für ein hinterhältiges Spiel!

    Das Post-it vom Monitor gerissen, zerknüllt und weggeworfen. Ein neuer Gedanke, eine Idee, eine Möglichkeit.

    „Mach doch, mach doch, mach doch!" Auf den Tisch trommelnd, feuerte er seinen Rechner an. Der Lüfter ratterte bedrohlich. Nur langsam baute sich die Benutzeroberfläche hinter dem Bildschirm auf, flackerte und flimmerte.

    Liegt das am Monitor? Sehstörungen?

    Je weiter er sich vorbeugte, umso schlimmer wurde es. Er hatte Mühe, dem Mauszeiger zu folgen, und somit Computer und Internet zu verbinden.

    Giftnotrufzentrale.

    Mit Enter bestätigte er den eingegebenen Suchbegriff. Zahlreiche Einträge erschienen, wovon er den ersten aufrief. Sofort stach ihm der gewünschte Verweis ins Auge.

    Giftinformationszentren Deutschland.

    Davon muss nur noch eines in der Nähe sein!

    Er aktivierte den Link. Gelsenkirchen stand an fünfter Stelle gelistet. Daneben eine Kurzbeschreibung, sowie eine Telefonnummer. Martin zögerte keinen Moment, und gab die Nummer ein. Gleich nach dem ersten Läuten wurde abgenommen.

    „Hallo? Mein Name ist –"

    Am anderen Ende der Leitung lief eine Bandansage. Unscheinbare Hintergrundmusik. Eine wohlklingende Frauenstimme bestätigte zunächst den Anruf beim Giftinformationszentrum Gelsenkirchen, verwies dann aber auf einen Dr. med. int. Winfried Maternus in der Ückendorfer Straße, mit dem Hinweis, dort vorstellig zu werden. Nachdem die Ansage ein weiteres Mal wiederholt wurde, brach die Verbindung ab.

    Und das bei einem Notfall? Warum nicht gleich auf ein Beerdigungsinstitut hinweisen?

    Martin kannte die Adresse. Nur diesen Internisten nicht. So lange er denken konnte, war dort ein Zahnarzt ansässig gewesen. Aber Veränderungen waren nichts Ungewöhnliches. Vielleicht konnte der Mann helfen, wenn er schon von der Giftnotrufzentrale angepriesen wurde.

    Er musste helfen!

    Scheiße!

    Dann kam der Schlag. Imaginär. Direkt in die Magengrube. Er wankte. Sog Luft tief in die Lungen. Erbrach sich auf den Boden…

    Blackout.

    … und kam zu Fall.

    >Ernie hatte mal einen Bert! Hattest du auch Stoffpuppen?<

    Es kommt hoch! Verdammt, es kommt alles wieder hoch!

    11 Stunden.

    Die Zeit tickte rückwärts, sein Leben tickte rückwärts, die Zeit tickte mitsamt seinem beschissenen Leben rückwärts, tickte, tickte rückwärts, in eine dunkle Zukunft, tickte rückwärts in den Tod, in den Tod, in den Tod.

    Der Teufel unter den Giftpilzen…

    Die Wohnung drehte sich, als er die Augen aufschlug. Sein Erbrochenes stank erbärmlich. Die Hüfte schmerzte vom Sturz.

    Reiß dich zusammen!

    Wieder die Krämpfe, deren Schmerzregion sich jetzt ringförmig in die Nierengegend ausbreitete.

    Auf mit dir!

    Er stieß sich vom Boden ab, vorsichtig, nicht in die stinkende Lache zu fassen. Die Klinke gab ihm weiteren Halt, während er den restlichen Nebel aus seinen Gedanken atmete.

    Weiter! Weiter!

    Ungelenk rupfte er die Daunenjacke vom Haken und streifte sie über. Ignorierte den säuerlich riechenden Fleck auf der Brust. Für Kosmetik blieb keine Zeit. Sein Äußeres musste hintanstehen. Es ging um sein Leben. Beidhändig leerte er die Aluschale auf dem Schrank neben dem Ausgang, stopfte das Gewirr aus Schlüsselbunden, Handy und Portemonnaie in die Taschen, und machte sich auf den Weg.

    Kapitel 3.

    So, wie du glaubst, so wird dir geschehen.

    (Jesus)

    Dunkle Häuserblöcke hinter dunklen Bürgersteigen auf denen dunkle Menschen krabbelten.

    Gift…

    Dunkle Bäume, deren dunkles blattloses Geäst bis weit in die dunkle Wolkendecke reichte.

    Gift…

    Dunkle Gedanken in einem dunklen Leben über dunklen Straßen in eine dunkle Zukunft.

    Gift…

    All diese Eindrücke huschten hinter schmierigen Autofenstern vorbei, während er seinen in die Jahre gekommenen Corsa über den Asphalt trieb, huschten vorbei, huschten vorbei und vorbei.

    Der kürzeste Weg zu Maternus‘ Praxis führte über die Osterstraße. An der Adresse des Toxikologen vorbei.

    Ein verdammter Zufall?

    Was spräche dagegen, dort vorbeizuschauen? Es lag auf dem Weg, und kostete nur die zusätzliche Zeit, die Martin brauchte sich dort umzusehen.

    Er passierte Hausnummer 16, die Einstichstelle juckte.

    Kein Umweg, nur anhalten.

    14, Hausnummer 12, der Wunsch nach sofortiger Hilfe verzerrte die Realität.

    Nur aussteigen und nachsehen.

    Selbst wenn jemand versuchte, ihn in eine Falle zu locken, was würde geschehen? Derjenige, der ihm das Gift verabreicht hatte, hatte doch bereits die Möglichkeit gehabt ihn aus dem Weg zu schaffen.

    Wozu also ein weiteres Spektakel?

    10, Hausnummer 8, ein Versuch, ein dünner Grashalm.

    Dünn, dünn, aber immerhin…

    Hektisch bremsend lenkte er den Corsa halb auf den Bürgersteig. Die Vorderradfelge knirschte über den Bordstein, Rollsplitt spritzte zur Seite. Mit zusammengekniffenen Augen lugte er durch die abgedunkelte Heckscheibe, und überprüfte die Hausnummer auf dem Blechschild neben der Eingangstür.

    Was für eine Baracke!

    Ein von wildem Wein bewucherter Backsteinbau aus den 1930er Jahren, der den Bomben des Krieges wie durch ein Wunder getrotzt hatte. Jetzt, drei Tage vor Weihnachten, war das leuchtendrote Herbstlaub verweht. Die verbliebenen knochigen Verästelungen erinnerten an einen urzeitlichen Parasit, der dem maroden Gemäuer an die Substanz wollte.

    In so einer Bruchbude praktiziert ein Arzt?

    Dem Zustand des Bauwerkes nach zu urteilen hätte er eher einen Polnisch-sprachigen Bautrupp samt Abrissbirne erwartet.

    Lass dich nicht von Äußerlichkeiten täuschen!

    Das Haus seines ehemaligen Schulfreundes wies von außen ähnliche charakteristische Merkmale auf wie diese Kaschemme. Doch im Inneren erschlug einen das Ambiente luxuriöser Einrichtung. Sein Freund nannte den Zustand die Distanz zwischen Altertum und Moderne. Martin fand, er sei einfach nur zu faul, die Fassade zu renovieren.

    Vielleicht verhält es sich bei diesem Altbau ebenso?

    Was er nach Betrachtung der wurmstichigen Haustür bezweifelte. Dahinter würde er eher von einem herabstürzenden Balken erschlagen.

    Wenigstens nachsehen…

    Draußen schlug ihm eisiger Wind entgegen. Geschliffene Klingen, die sein Gesicht zerschnitten. Innerhalb weniger Sekunden erglühten seine Wangen feuerrot. Er zog die Daunenjacke vor der Brust zusammen. Nur wenige Schritte bis zur Tür, und im Haus erwartete er angenehme Wärme.

    Anstelle der Türklingel lugten zwei dünne Drähte aus der Wand.

    Willkommen im Horrorhaus!

    Er klopfte. Das Pochen drang hohl durch das Gebäude. Niemand reagierte darauf.

    Die Bude ist leer! Die verdammte Bude steht einfach nur leer!

    Nach einem weiteren Versuch drückte er gegen die Tür. Sie ließ sich problemlos öffnen. Trockene Lackfragmente rieselten zu Boden. Ein Windstoß wehte sie in den Flur.

    „Hallo?!!" Sein Atem verflüchtigte sich über eine silbrig aufsteigende Nebelwolke ins Nichts. Hier drin war es nicht wärmer als draußen. Das Mauerwerk verströmte eisige Kälte. Der Putz schien schon vor Jahren von den Wänden gefallen zu sein. Nur vereinzelte Stellen zeugten davon, dass es überhaupt welchen auf den Backsteinen gegeben hatte.

    „Hallo?!! Ist hier jemand?!!!" Die Worte hallten kalt zurück.

    So kalt, wie ich mich bald anfühle, wenn mir nicht geholfen wird!

    Niemand schien sein Eindringen registriert zu haben.

    Wenn es überhaupt jemanden gibt, der dazu in der Lage ist.

    Bislang erweckte das Innere des Hauses den gleichen Eindruck wie sein Äußeres. Eine abrissbereite Substanz, dessen Schicksal in naher Zukunft durch schweres Gerät besiegelt werden würde.

    Tage, die ich nicht mehr erleben werde…

    Wenn nicht bald ein Wunder in dieser Ruine geschehe.

    Martin brüllte. Schrie Weihenkirchens Namen. Doch dadurch wirbelte er nur Staubpartikel auf. Derjenige, dessen Name zu der Adresse gehörte, existierte nicht. Hatte wahrscheinlich nie existiert. Das ganze war eine Finte. Ein Spaß. Ein verfickter, makaberer Spaß.

    Auf meine Kosten. Ich bin ein Idiot!

    Er lehnte sich gegen die Wand. Tonlos lachend. Kopfschüttelnd, über sich selbst. Putzbröckchen bröselten aus den Mauerfugen, klackerten auf die ausgetretenen

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